Zeitschrift für Palliativmedizin 2005; 6(3): 95-99
DOI: 10.1055/s-2005-867041
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(Neben-)Wirkung einer Palliativeinrichtung

(Side)Effect of a Palliative Care InstitutionK.  Aurnhammer1 , B.  Augustyn2
  • 1Palliativstation St. Michael Krankenhaus, Völklingen
  • 2Interdisziplinäres Zentrum für Palliativmedizin München
Der Artikel entstand auf der Grundlage eines Plenarvortrages auf dem 5. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), Aachen, April 2005
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Publication Date:
16 September 2005 (online)

Wurde in den vergangenen Jahren zum Thema „Entwicklung der Palliativmedizin” diskutiert, standen vor allem Zahlen im Mittelpunkt. Zahlen, die nach außen hin eine kleine Erfolgsgeschichte dokumentierten. Immer mehr Palliativstationen entstanden, immer mehr stationäre Hospize und ambulante Hospizdienste begannen ihre Arbeit. Projekte wurden gestartet, Standards entwickelt, zarte Pflänzchen der Forschung erblickten das Tageslicht, alles in allem eine erfreuliche Entwicklung. Doch seit einiger Zeit sind Prozesse zu beobachten, die die Perspektive erweitern.

Palliativmedizin und Hospizarbeit sind in einer neuen Phase der Entwicklung angelangt. Die Zeit des Aufbruchs und der Pionierarbeit ist vorüber, Differenzierungs- und Etablierungsprozesse sind zu beobachten, der Blick gilt nicht mehr nur den eigenen Stellenplänen, er richtet sich auch auf das übergeordnete System: das Krankenhaus, die Krankenkassen, die medizinischen Dienste, die Politik und das Gesundheitssystem als Ganzes.

Zur Zeit der Gründung der ersten bundesdeutschen Palliativstationen stand die Frage des Ideals im Mittelpunkt: Wie kann Palliativmedizin Impulsgeber sein für andere? Heute drängt sich eine andere Frage in den Vordergrund: Wie bekommen wir im bestehenden Gesundheitssystem Palliativmedizin und stationäre sowie ambulante Hospizarbeit grundsätzlich finanziert?

Weichen die Ideale der unermüdlichen Initiatoren den Strukturfragen der Verwalter?

Eine schwierige Frage, unbequem dazu, waren die ersten Palliativmediziner und Hospizbewegten doch als Pioniere angetreten: sie wollten Behandlungsqualitäten verändern, Lebensqualität verbessern und der Tabuisierung des Sterbens eine Alternative entgegensetzen. Und nun hat man sich mit DRGs, Hochschulpolitik, Gesetzgebungsverfahren und Verordnungstexten zu beschäftigen.

Bei nüchterner Betrachtung ist diese Entwicklung völlig normal, entspricht sie doch den Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich Organisationen und neue Strukturen entwickeln. Darüber hinaus zeigt sich, dass diese Entwicklung z. T. genau dem entspricht, was sich die Pioniere einst selbst ins Stammbuch schrieben: die palliative Idee sollte Einfluss nehmen auf das übrige Gesundheitssystem. Schon damals war klar: Palliativmedizin sucht und braucht den Kontakt mit dem übergeordneten System. Vielleicht geht es ja jetzt darum, die Chancen der neuen Phase zu nutzen, um den gesteckten idealen Zielen etwas näher zu kommen.

Wenn es stimmt, dass die Entwicklung der Palliativmedizin in eine neue Phase eingetreten ist, dann ist es für die Bewertung der nächsten Schritte wichtig, eine qualitative Bestandsaufnahme zu machen. Wir wollen fragen: Welche „Wirkungen” hat eine Palliativeinrichtung nach innen und nach außen? Wir fragen aber auch: Welche „Nebenwirkungen” hat dies?

Das Bild von „Wirkungen und Nebenwirkungen” erinnert an den Einsatz von Medikamenten, und genau das soll es auch. Mithilfe dieses Wortpaares lässt sich die aktuelle Entwicklung der Palliativmedizin gut darstellen. Zunächst fallen natürlich die positiven Wirkungen ins Auge.

In der Pionierzeit der Palliativmedizin waren alle von der Idee der Palliativmedizin begeistert. Endlich eine überlegte und strukturierte Möglichkeit, wie man den Leiden von Schwerkranken und Sterbenden konkret begegnen könne. Erfahrungen aus anderen Ländern gab es bereits, man wusste: es funktioniert. Und die ersten eigenen deutschen Gehversuche in den 80er- und 90er-Jahren bestätigten es: Palliativmedizin wirkt. Wenn man damals fragte, ob und wie sie wirkt, dann blickte man auf die Patienten der Palliativstation, auf die Gäste eines Hospizes und sah, dass die Konzepte der Schmerztherapie und der Symptomkontrolle griffen. Dass die Ideen einer bedürfnisorientierten, individuellen und kreativen Pflege erfolgreich waren, dass es Schwerkranken und Sterbenden gut tat, wenn sich die Mitarbeiter einer solchen Einrichtung mit systemisch geschultem Blick den Angehörigen und Freunden zuwandten und dass die Auseinandersetzung mit den spirituellen Aspekten lohnend war. Kurz und gut: Palliativmedizin wirkte wirklich! Die Insider und Pioniere freuten sich, fühlten sich bestätigt, wurden mutig und überlegten, ob denn diese Art von Medizin nicht auch anderswo wirken müsse - im gesamten Gesundheitssystem.

Professor Klaschik prägte den Begriff des „Kristallisationspunktes” für Palliativstationen:

Die exzellente palliativmedizinische Arbeit dieser Zentren sollte ausstrahlen und Palliativmedizin als Konzept Einzug halten in das Gesundheitswesen. Palliativstationen bemühten sich um Kontakte zu den Organisationen im Umfeld: Abteilungen des eigenen Krankenhauses, Hausärzte, ambulante Dienste und Hospize. Ganz zu schweigen von Öffentlichkeitsarbeit in Form von Vorträgen und anderem. Ziel war stets: die Wirkung der Palliativeinrichtung und damit auch die Wirkung der Idee des Konzeptes zu erhöhen.

Heute, nach Jahren dieser idealistischen und mitreißenden Arbeit stellt sich die Frage: War diese Wirkung von Erfolg gekrönt?

Eine schnelle und eindeutige Antwort fällt hier schwer; anders als bei der Symptomkontrolle. Natürlich gab und gibt es bei dieser Außenwirkung einer Palliativeinrichtung Erfolge: Gesprächs- und Qualitätszirkel entstehen, Fort- und Weiterbildungen sind gefragter denn je, Implementierungsprojekte und Kooperationen werden erfolgreich auf den Weg gebracht. Aber es gibt auch anderes: zähes Ringen, Widerstände, Ignoranz, auch Idealisierungen und Engführungen auf das Gutmenschsein. Sind das alles Misserfolge? Ist es Scheitern?

Vielleicht ist es nichts davon, vielleicht sind dies ganz einfach die „Nebenwirkungen” der Palliativeinrichtung.

Es geht dabei nicht um Wortspielereien. Wären bestimmte Erfahrungen ein Scheitern oder ein Misserfolg, so würde man überlegen: Wer hat Schuld? Irgendjemand hat nicht aufgepasst, irgendjemand ist der Bösewicht. Betrachten wir diese Aspekte aber als Nebenwirkungen einer Palliativeinrichtung, so wird klar: Das Problem ist nicht der insuffiziente einzelne Mensch, das Problem liegt in der Palliativeinrichtung selbst und ihrem Wechselspiel mit dem sie umgebenden System.

Es ist tatsächlich wie bei den Medikamenten: Es gibt Wirkungen und es gibt Nebenwirkungen, trennen lässt sich das nicht. Und wie bei den Medikamenten schauen alle natürlich am liebsten auf die Wirkungen, die Nebenwirkungen übersieht man zunächst geflissentlich. Ein folgenschwerer Fehler. Man kann die Nebenwirkungen eines Medikamentes ignorieren, auftauchen werden sie dennoch. Auch Nebenwirkungen wirken eben. Ignoriert ein Pharmakonzern die Nebenwirkungen, wird er das Medikament vom Markt nehmen müssen, mögen die Wirkungen auch noch so überzeugend sein. Übertragen auf die Palliativmedizin und ihre Einrichtungen kann das heißen: Wenn man sich ausschließlich mit den gewünschten Wirkungen beschäftigt und die Nebenwirkungen ignoriert, könnte es geschehen, dass eines Tages die Palliativeinrichtung aus dem Gesundheitssystem genommen wird, unabhängig davon wie erfolgreich das Palliativkonzept auch wirken mag.

Blicken wir also auf die Wirkungen und Nebenwirkungen einer Palliativeinrichtung, um zu lernen, welche Schritte der Entwicklung für die Palliativmedizin und Hospizarbeit als Ganzes anstehen.

Um die ganze Bandbreite von Wirkungen und Nebenwirkungen zu berücksichtigen, lassen sich vier Bereiche unterscheiden, in denen man das Wirkungsspektrum betrachten kann. Diese Bereiche lassen sich der Logik wegen trennen, sind aber eng aufeinander bezogen, bisweilen bedingen sie sich auch.

Die vier Bereiche:

der personale Bereich, der Bereich der beruflichen Rolle, der organisatorisch-strukturelle Bereich und der gesellschaftlich-politische Bereich.

In den personalen Bereich fallen zunächst all die Phänomene, die den Patienten, den Gast und seine Angehörigen betreffen: Schmerzfreiheit, erfolgreiche Symptomkontrolle, die Begleitung der Angehörigen und die Auseinandersetzung mit einer Erkrankung, die zum Tode führt.

Die Wirkungen einer Palliativeinrichtung auf diesem Gebiet sind bekannt.

In unserem Zusammenhang ist jedoch eine andere Frage wichtig: Welche Wirkungen und Nebenwirkungen hat eine Palliativeinrichtung eigentlich auf die Personen, die dort arbeiten?

Wir haben dazu Mitarbeiter von Palliativstationen, Hospizen und ambulanten Hospiz- und Palliativberatungsdiensten befragt.

Die typische Antwort: Die Arbeit führt zu einer Reifung in der Auseinandersetzung mit den Lebensthemen Sterben, Tod und Trauer. Das eigene Leben wird reflektiert, Prioritäten werden überprüft, vielleicht auch neu gesetzt, man denkt antizipatorisch über das eigene Sterben nach. In der Summe erleben die Mitarbeiter einer Palliativeinrichtung dies oft als große Bereicherung. Zugleich berichteten Mitarbeiter von der großen Belastung, die entsteht, wenn sie tagtäglich in diesem Grenzbereich arbeiten. Persönliche Grenzen werden überschritten, eigene Trauererlebnisse werden als belastend empfunden und bisweilen hat dies Auswirkungen auf den Privatbereich der Mitarbeiter. So entsteht eine Spannung zwischen Wirkung und Nebenwirkung, die von jedem Einzelnen auszuhalten und auszubalancieren ist. Nicht automatisch endet diese persönliche Spannung mit einem „Happy end”. So mancher hört frustriert auf, in diesem Bereich zu arbeiten. Die intensive Auseinandersetzung mit palliativen Lebensthemen ist nicht für jeden Mitarbeiter eine erfolgreiche Wirkungsgeschichte.

Eine weitere persönliche Nebenwirkung hat mit dem Ideal von Palliativmedizin und Hospizarbeit zu tun. Der Anspruch in idealer Weise medizinisch, pflegerisch und seelsorglich tätig sein zu wollen, zerbricht oft genug am rauen Alltag.

Die Versuchung ist groß, entweder sich selbst für das Nichterreichen der Ziele verantwortlich zu machen oder Kolleginnen und Kollegen. Dieses Persönlich-Nehmen ist gefährlich, da man bei dieser Sichtweise vergisst, andere als nur die persönlichen Zusammenhänge zu reflektieren. Dabei kann es gar nicht anders sein, als dass in einer Palliativeinrichtung die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit auftritt. Diese Spannung ist geradezu konstitutiv für die Palliativmedizin. Für Mitarbeiter wird sehr darauf zu achten sein, dass diese Spannung nicht ausschließlich auf dem Rücken einzelner Personen ausgetragen wird.

Im Bereich der beruflichen Rolle beobachten wir eine starke Wirkung von Palliativeinrichtungen auf die dort arbeitenden Kolleginnen und Kollegen.

Viele Mitarbeiter, insbesondere die aus der Pflege, berichten von einer starken Identifizierung mit ihrer beruflichen Rolle. Endlich so arbeiten zu können, wie es dem Idealbild des Berufes entspricht.

Den Menschen im Mittelpunkt zu sehen, sich bei der Arbeit nach seinen Bedürfnissen ausrichten zu können, die Erfahrung zu machen, dass Begleitung gelingt und sich positiv auf die Situation des Patienten auswirkt, dies stärkt das berufliche Selbstbewusstsein der Mitarbeiter. Zugleich berichten viele, dass die Arbeit im Team zu den positiven Wirkungen einer Palliativeinrichtung zählt und sich bezahlt macht.

Dies klingt gut, doch es gibt Nebenwirkungen.

So mancher, der erfolgreich in einer Palliativeinrichtung arbeitet, fragt sich: Was mache ich eigentlich, wenn ich nicht mehr in einer Palliativeinrichtung arbeiten werde? Welche Arbeitsbereiche kommen dann noch infrage? Wäre die Arbeit auf einer allgemeinen Krankenhausstation, in einem Altenpflegeheim oder im ambulanten Bereich nicht ein Rückschritt? Die Kluft zwischen dem, was möglich ist, und dem, was das Gesundheitssystem an Verwirklichung bietet, ist für viele erschreckend groß. Und in Zeiten knapper werdender Ressourcen, der Verteilungskämpfe und der Minuten- oder Punktwerte wird die Kluft immer größer. Palliativeinrichtungen entwickeln sich auch zu Orten der Rettung eines bestimmten Rollenverständnisses für Ärzte, Pflegende und andere Refugien sozusagen. Sie sind nicht nur Kristallisationspunkte, sondern können auch Fluchtpunkte sein von frustrierten, aber an Idealen festhaltenden Helferinnen und Helfern. Diese Tendenz ist nicht ungefährlich, da sie den eigentlichen Sinn und Zweck einer Palliativeinrichtung zu überlagern droht. Schließlich sind Palliativeinrichtungen nicht in erster Linie zur Rettung beruflicher Identität da.

Schauen wir über den Tellerrand der Palliativeinrichtung hinaus, entdecken wir weitere Nebenwirkungen. Die berufliche Identität der nicht palliativ arbeitenden Menschen wird ernsthaft auf die Probe gestellt. Die einen fühlen sich provoziert. „Das, was der auf der Palliativstation macht, mach' ich doch schon seit Jahren.” Wer so spricht, fühlt sich herausgefordert und meint, sich wehren zu müssen. Andere erleben ein Gefühl der Insuffizienz angesichts dessen, was die Kollegen dort in der Palliativeinrichtung so zuwege bringen. Wie sich dieses Gefühl ausdrückt, ist sehr unterschiedlich. Die einen sagen: „Das könnte ich nie”, die anderen sagen: „Das könnte ich hier nie”, wieder andere werden neidisch. „Was die sich da einbilden …” Und aus dem Neid entwickelt sich Abwehr. „Was ich nicht bekommen kann, sollen die auch nicht haben.” Hinter so mancher Ablehnung von Palliativeinrichtungen verbirgt sich kein echtes Sachargument, sondern die Erkenntnis: „Die, die auf Palliativstationen arbeiten, können so arbeiten, wie ich es eigentlich müsste oder wollte, aber nicht kann.”

Wenn Palliativeinrichtungen zeigen, wie die beruflichen Rollen von Ärzten, Pflegenden und anderen Berufsgruppen zufrieden stellend und hilfreich zugleich gelebt werden können, entfaltet diese Wirkung zugleich Nebenwirkungen.

Schauen wir auf den organisatorisch-strukturellen Bereich. Damit ist die Palliativeinrichtung selbst und das nähere strukturelle Umfeld gemeint, bei einer Palliativstation demnach das Krankenhaus. Die deutlichste Wirkung einer Palliativeinrichtung auf der organisatorischen Ebene ist: das, was Palliativmedizin als ganzheitliches Konzept anstrebt, funktioniert in einer bestimmten Organisationsform auch tatsächlich. Die Idee vom multidisziplinären Team, von flacher Hierarchie und vernetztem Arbeiten bewährt sich in der Praxis der meisten Palliativeinrichtungen. Damit ist die Palliativmedizin einem schon früh formulierten Ziel nahe gekommen: nämlich Vorbild zu sein für andere, für andere Menschen, für andere Rollenträger, für andere Bereiche des Gesundheitswesens. Die jeweils anderen können am Vorbild der Palliativeinrichtung und der Arbeit, die dort getan wird, lernen. Medizinstudenten und junge Ärztinnen und Ärzte lernen Palliativmedizin, Menschen in der Pflegeausbildung lernen Palliativpflege, Psychologen, Seelsorger, Sozialarbeiter, Physiotherapeuten und andere lernen das multidisziplinäre Team in der Praxis kennen. Die Palliativeinrichtung als struktureller Kristallisationspunkt wirkt. Und tatsächlich: Lehr- und Praktikumsplätze in einer Palliativeinrichtung sind gefragt. Viele Träger im Gesundheitswesen wollen Palliativeinrichtungen errichten. Ist dies eine erfolgreiche Wirkungsgeschichte, durch und durch?

Auf den ersten Blick scheint es nur Gewinner zu geben: die Patienten und Gäste, die Angehörigen, die MitarbeiterInnen der Palliativeinrichtung. Alle scheinen von bestimmten Struktur- und Organisationsformen, die von der Palliatividee getragen werden, zu profitieren. Doch bei näherem Hinsehen fällt auf, dass längst nicht alle an diesem Gewinn teilhaben.

An dieser Stelle gilt es eine Nebenwirkung in Augenschein zu nehmen: die erfolgreiche Umsetzung einer Idee in Form einer Palliativeinrichtung stellt dem übergeordneten organisatorischen System, z. B. dem Krankenhaus, nur umso deutlicher die eigene Insuffizienz vor Augen. Erfolgreiche Symptomkontrolle, gelungene Kommunikationsstrukturen, Unterstützung der Angehörigen, ein multidisziplinäres Team, ein konstruktiver Umgang mit den Themen Krankheit, Leiden, Sterben, Tod und Trauer: wo ist das im modernen Gesundheitssystem zu finden? Die These von der Verdrängung des Sterbens aus dem Gesundheitssystem findet in der erfolgreichen Wirkungsgeschichte der Palliativeinrichtungen ihre praktische Bestätigung. Diese Erkenntnis führt nicht zwangsläufig zu bußfertigem Verhalten. Wie im Bereich der beruflichen Rolle ist aktive Abwehr, bisweilen gemischt mit einer Portion Neid, eine der Nebenwirkungen.

„Das brauchen wir nicht” - „Das machen wir selber”. Je erfolgreicher die strukturell greifbare Wirkung der Palliativeinrichtung, desto vehementer die Abwehr: es kann nicht sein, was nicht sein darf. Für die Idealisten unter den Palliativschaffenden ist diese Abwehr eine harte Nuss, gehen sie doch stets von der Überzeugungskraft des Guten aus. Realistisch aber ist, beides im Auge zu behalten: die Annahme und die Abwehr, die Wirkung und die Nebenwirkung.

Eine weitere Nebenwirkung ist ebenfalls Folge der erfolgreichen Praxis der Palliativeinrichtungen. In Zeiten der Qualitätsentwicklung und des Qualitätsmanagements sind Krankenhäuser auf der Suche nach Vorzeigbarem. Was eignet sich besser für die Öffentlichkeit als z. B. mit einer Palliativstation zu zeigen: wir kümmern uns um Schwerkranke und Sterbende? Allein das Wort Palliativstation scheint für Qualität zu bürgen. Doch Vorsicht: Wo Palliativ draufsteht, muss nicht Palliativ drin sein.

Es gibt Einrichtungen, die sich zwar Palliativstation nennen, die aber die strukturellen Anforderungen der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) nicht im Mindesten erfüllen. Die Etablierung einer Palliativeinrichtung erfolgt nicht mehr, wie in der Pionierphase, aus idealen Gründen, sondern aus höchst eigennützigen: Die Palliativeinrichtung wird zum „löblichen Wimpel”.

Diese Nebenwirkung macht etwas Grundsätzliches klar: eine Palliativeinrichtung, die dem Projektstatus entwachsen ist, hat auf die sie umgebende Organisationsstruktur so oder so Wirkung, ganz einfach dadurch, dass sie selbst Teil dieser Einrichtung ist. Und umgekehrt wirkt die übergeordnete Einrichtung strukturell auf die Palliativeinrichtung zurück. Dies ist gewollt, es muss so sein, wenn die Palliativmedizin ihr Ziel, zu einer Veränderung des Gesundheitswesens beizutragen, auch erreichen will. Die Frage ist: Was geschieht, wenn die Palliativeinrichtung nicht nur wirkt, sondern wenn sie, quasi als Nebenwirkung, die übergeordnete Einrichtung ihrerseits wirken lässt? In Zeiten der DRGs und knapper werdender Ressourcen scheinen z. B. die personellen Anhaltszahlen der DGP nur schwer durchzusetzen sein. Auch die Palliativeinrichtung wird einen Beitrag zur Kostenstabilisierung zu leisten haben. Doch wie weit geht das? Mit 0,3 Pflegepersonen pro Patient und 0,2 Arztstellen für zehn Patienten? Ist Palliativmedizin auf einem „Low-Budget-Level” überhaupt noch wirkungsvoll? Ebenso wird sich die Palliativeinrichtung mit den anderen Strukturelementen der übergeordneten Einrichtung auseinander setzen müssen: Dokumentationssystem, Standards, Verfahrensanweisungen etc. Es wird nicht immer gehen zu sagen: wir machen es anders, weil wir grundsätzlich anders sind. Wenn die Palliativeinrichtung sich als Teil des Krankenhauses versteht, muss sie diesen Weg der Auseinandersetzung gehen. Und wieder wird die Frage sein: Wie weit können die Kompromisse gehen, ohne dass die Palliativeinrichtung ihr eigenes unverwechselbares und durchaus anderes Gesicht verliert?

Der vierte Bereich ist der gesellschaftlich-politische. Hier fällt als Erstes auf: Palliativmedizin ist dem Mauerblümchenstadium entwachsen, sie ist im Gesundheitssektor nicht nur ein ernst zu nehmender, sondern tatsächlich ein ernst genommener Faktor. Dass die Öffentlichkeit in steigendem Maße Anteil an der Palliativmedizin nimmt, verwundert nicht, schon immer gab es löbliche Artikel in seriösen Zeitungen und Zeitschriften.

Sogar „Stiftung Warentest” interessierte sich im Februar 2005 für Hospizarbeit und Palliativmedizin und widmete dem Thema einen vierseitigen sehr informativen Beitrag in ihrer Monatszeitschrift. Diese Rezeption zeigt mehr als deutlich den gestiegenen Wert der Palliativmedizin in der Gesellschaft.

Auch politisch zeigen sich positive Wirkungen der Palliativmedizin. Der Ruf nach mehr Lehrstühlen ist nicht mehr nur Wunsch palliativer Insider, die „Zusatzweiterbildung Palliativmedizin” wurde von der Bundesärztekammer verabschiedet, der Ausbau ambulanter Palliativversorgung wird von der Politik unterstützt, der Gesetzgeber schreibt, zumindest für die pflegerischen Aus- und Weiterbildungen, palliativmedizinische Inhalte fest, Palliativmedizin taucht, wenn auch unzureichend, in den DRGs auf. All dies sind Zeichen wachsender Wirkungskraft von Palliativmedizin. Doch bei so viel Wirkung kann die Nebenwirkung nicht weit sein. So lauert auch hier die „Low-Budget-Falle”. Das Motto lautet: es muss etwas geschehen, und das möglichst billig. Die Palliativmedizin kann sich dieser Entwicklung nicht völlig verschließen, möchte sie Einfluss nehmen auf das Gesundheitssystem. Doch auch hier stellt sich die Frage: Wie weit kann die Kompromissbereitschaft gehen, ohne dass es qualitativ zu Einbrüchen kommt? Wo ist sozusagen die Schmerzgrenze, über die zu gehen sich verbietet? All dies sind Fragen, die sich in der nächsten Zeit stellen und die nach einer Antwort verlangen.

Noch von einer anderen Nebenwirkung soll die Rede sein, diesmal von der eher erfreulichen Art. In der Medizin, in der Pflegewissenschaft und in den Humanwissenschaften beginnt man sich seit geraumer Zeit für Fragen und Themen der Palliativmedizin und Hospizarbeit zu interessieren. So beziehen Onkologen palliativmedizinische Gedanken in ihre Forschungen mit ein. Bei der Frage der Wirksamkeit von Chemotherapien ist nicht mehr nur die Überlebenszeit ein relevantes Kriterium, sondern die an eine erfolgreiche Symptomkontrolle gekoppelte Lebensqualität der Patienten. In der Pflegewissenschaft werden vorhandene Pflegetheorien mit der gelebten Hospiz- und Palliativpraxis verbunden, theologisch-seelsorgliche Modelle werden verknüpft mit den Erfahrungen der Palliativmedizin. Jenseits der Palliativmedizin interessiert man sich ernsthaft und wissenschaftlich für das, was dort entwickelt wurde. Diese Nebenwirkung ist erfreulich. Sie wird dazu beitragen, Palliativmedizin mehr und mehr in die bestehenden Denk- und Struktursysteme einzubinden. Zugleich bietet sich hier für die Palliativmedizin die Gelegenheit der selbstkritischen Auseinandersetzung. Auch dies kann nur gut tun.

Ziehen wir ein Fazit: In allen vier Bereichen, dem personalen, dem der beruflichen Rolle, dem strukturellen und dem gesellschaftlich-politischen Bereich, finden sich Wirkungen aber auch Nebenwirkungen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Oft sind die Nebenwirkungen konsequente Folgen der Wirkungen. Sie fallen dort besonders ins Auge, wo man bedenkt: die Palliativmedizin hat sich über die Pionierphase hinaus weiterentwickelt.

Aus der Organisationstheorie kennen wir verschiedene Entwicklungsphasen von Organisationen: nach der Pionierphase geht es in die Differenzierungsphase, danach folgen die Integrations- und die Assoziationsphase. Hier werden sowohl innere Integrationsprozesse gefördert als auch die Beziehungen zum übergeordneten System ausgestaltet. Jede Phase hat ihre spezifischen Aufgaben und Herausforderungen. Bedeutsam ist die Erkenntnis, dass der Übergang von einer Phase in die andere mit Umbrüchen verknüpft ist. Die innerbetriebliche Umgangsform verändert sich, aber auch die Art und Weise, wie die Organisation mit dem Umfeld umgeht.

Längst ist klar, dass die Palliativmedizin in die Differenzierungsphase eingetreten ist: Palliativeinrichtungen differenzieren sich nach innen aus und genauso werden nach außen hin immer differenziertere Arbeitsformen entwickelt. Stellvertretend seien die Bemühungen um palliative Konsiliarteams in Krankenhäusern und die Ausbildung von ambulanten Palliativteams erwähnt. Auf gleicher Linie sind die Entwicklungen im Fort- und Weiterbildungsbereich zu sehen. Nach der Etablierung von Palliative-Care-Kursen für Pflegende und Ärzte gibt es Aufbau- und Ergänzungskurse und Kurse für andere Berufsgruppen.

Allein diese Prozesse sind schon spannend genug. Doch hat die Entwicklung der Palliativmedizin noch komplexere Herausforderungen zu meistern.

So stellen wir fest, dass einige Palliativeinrichtungen schon Aufgaben der Integrations- und Assoziationsphase zu lösen haben, und das parallel zur Differenzierungsarbeit. So müssen ambulante Palliativpflegedienste oder palliative Konsiliarteams in Krankenhäusern neben der internen Ausdifferenzierung ihrer Arbeit intensive inhaltliche und strukturelle Verknüpfungen schaffen zu den Organisationen, die sie umgeben. Diese Palliativeinrichtungen sind zugleich Kristallisations- und Verknüpfungspunkte. Neben die gewünschten Wirkungen tritt von Anfang an das beiderseitige Wirkungs- und Nebenwirkungsspektrum, das sich aus der intensiven Verknüpfung mit dem umgebenden System ergibt. Auch im Bildungsbereich stellen sich bereits Aufgaben der Assoziationsphase: so hält die Palliativpflege Einzug in die Grundausbildung und die palliativmedizinische Lehre an verschiedenen Universitäten nimmt Gestalt an.

Damit muss auch die palliative Bildungsarbeit neben der weiteren Ausdifferenzierung das sie umgebende Bildungssystem im Auge behalten. Notwendigerweise wird so ein gegenseitiger Wirkungs-, Nebenwirkungs- und Rückwirkungsprozess in Gang gesetzt.

All diese Prozesse entfalten zurzeit eine kaum noch zu überblickende Dynamik. Palliativmedizin entwächst dem Projektstatus und erhält Systemstatus, neben den Idealismus der Pioniere gesellt sich der Pragmatismus der Strukturierer.

Die Palliativmedizin steht vor einer komplexen Aufgabe: sie muss das Ideal der palliativen Idee im Auge behalten und damit Wirkung entfalten; gleichzeitig muss sie differenzierte, am übergeordneten System orientierte Strukturen entwickeln und sich damit den wechselseitigen Wirkungen und Nebenwirkungen aussetzen. Im Gestalten dieser Spannung wird die Zukunft der Palliativmedizin im deutschen Gesundheitssystem liegen.

Klaus AurnhammerKrankenhausseelsorger 

St. Michael Krankenhaus - Palliativstation

Kühlweinstraße 103

66333 Völklingen

Email: K.Aurnhammer@voe.st-elisabeth.de