Aktuelle Dermatologie 2005; 31(10): 464-466
DOI: 10.1055/s-2005-870284
Kleine Kulturgeschichte der Haut
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Tiergestaltige Veränderungen der Haut in Märchen

Animal Aspects of the Skin in Fairy-TalesE.  G.  Jung
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Prof. Ernst G. Jung

Maulbeerweg 20 · 69120 Heidelberg

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Publication Date:
26 September 2005 (online)

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Märchen sind traditionelle Bestandteile aller Kulturkreise mit hoher Bewahrungskraft verdeckter Aussagen. Dermatologische Aspekte und Bezüge zur Haut sind in der Märchensammlung der Gebrüder Grimm [1] kaum oder nur spärlich zu finden. In einigen kommen Geschehnisse vor, die deutliche Bezüge haben zu Wundheilung, Wiedererweckung und der modernen Transplantationsmedizin [2].

Eine weitere kleine Gruppe von Märchen ist gekennzeichnet durch Menschenkinder, durchwegs Knaben, mit großflächigen, tierähnlichen Veränderungen der Haut, die in extremen Fällen bis zur vollen Tiergestalt sich ausweiten. Solche sollen hier zur Sprache kommen. Sie werden zunächst auszugsweise vorgestellt.

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Hans mein Igel (1, Bd. 2, 228 - 235)

Ein lange kinderloses Bauernpaar wünschte sich dringend ein Kind, „und sei es ein Igel”.

So kam es, die Frau gebar einen Sohn, oben ein Igel mit Stachelkleid, und unten ein Mensch. „Hans mein Igel” wurde er genannt. Er zog auf einem Hahn fliegend als erfolgreicher Schweinehirt in den Wald, zeigte zweimal einem verirrten König den Weg nach Hause und bekam als Lohn das, was dem König zu Hause als erstes begegnete. Es war jeweils die Königstochter. Als er die Zusage einlösen wollte, wurde er beim ersten König verjagt, beim zweiten aber mit der Königstochter vermählt.

In der Brautnacht legte er sein „Igelkleid” neben das Lager. Dieses wurde auf sein Geheiß hin von den Knechten verbrannt und so blieb er frei, jedoch mit schwarzer Haut. Der Leibarzt behandelte ihn mit Salben und Balsamen, bis er ein weißer und schmucker Jüngling war und glücklich das Königreich bekam. Von Kindern ist nicht die Rede.

Deutung: Ein spätes Einzelkind wurde mit einem Stachelkleid der beiden oberen Quadranten geboren. Dies erinnert an einen „hystrix-artigen” Halbkörper-Nävus (Abb. [1]), der im Erwachsenenalter sich auswächst resp. abheilt. In diesem Fall durch Glück und Ehe und unter der lokalen Bleichbehandlung des Arztes. Von Erblichkeit ist nicht die Rede.

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Das Eselein (1, Bd. 3, 53 - 58)

Ein kinderloses Königspaar bekam endlich einen Sohn, der aber nicht wie ein Menschenkind aussah, er war ein junges Eselein. Er wurde als fröhliches Königskind aufgezogen, fand Freude an der Musik und erlernte von einem Spielmann die Laute zu schlagen. Als er sich im Spiegel eines Brunnens sah, erschrak er und ging auf Wanderschaft. An einem anderen Könighof wurde er ob seines trefflichen Spiels zugelassen und zu den Knechten gesetzt. Dem widersprach er und gelangte an die Königstafel, neben die Königstochter. Sie gefiel ihm gut und beide wurden vermählt.

In der Brautnacht warf er die Eselshaut ab, die Ehe wurde fröhlich vollzogen und am Morgen trug er wieder die Tierhaut. Diener hinterbrachten die Geschichte dem König, der in der folgenden Nacht das wieder ausgezogene Eselskleid wegnahm und verbrennen ließ. Erschrocken aufgewacht, empfing ihn der König, bat ihn zu bleiben, kleidete ihn mit dem Königmantel und machte ihn zum Thronfolger. Von Kindern ist nicht die Rede.

Deutung: Ein spätes Einzelkind im Königshaus wurde mit Tierhaut und in Eselsgestalt geboren. Dennoch hatte er menschliche Fähigkeiten und erlernte das Lautenspiel. Erwachsen konnte er nachts wiederholt die Tierhaut ablegen und erschien dann in Menschengestalt. Durch Verbrennen der Tierhaut ist die Menschengestalt bleibend. Mit der äußeren Erscheinung (Tierhaut) ist der ganze Organismus (Eselein) gekoppelt, obschon Lernfähigkeit und Verhalten immer menschlich blieben. Hoher Symbolgehalt mit nur bedingtem Bezug zur Haut.

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Die Gänsehirtin am Brunnen (1, Bd. 3, 156 - 167)

Eine verstoßene Königstochter wurde von einem steinalten Mütterchen tief im Wald drei Jahre wie eine Tochter aufgenommen, musste schwer arbeiten und wirkte alt und verbraucht. Als die Zeit abgelaufen war, schickte sie die Tochter an den Brunnen, wo sie die Haut über dem Gesicht wie eine Maske abzog und sich ausgiebig wusch. Als der graue Zopf fiel, quollen die goldenen Haare wie Sonnenschein hervor, die Augen leuchteten und sie war wunderschön. Da erschien, geführt durch einen jungen Grafen, der versteckt am Brunnen die Verwandlung schaute, das ihr Kind suchende Königspaar. Sie erkannten voller Freude die Tochter wieder. Als Gabe des Mütterlein wandelten sich die Freudentränen der Königstochter in Perlen. Und sie gingen zurück aufs Schloss und die Geschichte nahm den erfreulichen Weg.

Deutung: Harte Arbeit auf dem Land und im Wald bewirkt vorzeitige Alterung, die durch Glück und Fügung rückgängig gemacht werden kann. Perfektes Anti-Aging-Programm!

In Anlehnung an „Hans mein Igel” und an „Das Eselein” ist das Tiroler Märchen „Vom Kalberlkönig” zu sehen.

Ein kinderloses Königspaar bekam noch einen späten Sohn, aber er war ein Kalberl. Er ging dennoch zur Schule, ja zur Universität; er wurde gar Ritter und zog ins Land. Die jüngste Königstochter heiratete ihn. In der Nacht zog er jeweils die Tierhaut aus und war ein wunderschöner Jüngling. Sie wussten das Geheimnis zu hüten, bis die Gattin, der steten Fragen überdrüssig, die Tierhaut in der Nacht verbrannte. Er wanderte weg und die junge Königin suchte ihn bis ans Ende der Welt, wo sie ihn aus Haus und Bann einer Hexe befreien musste. Jetzt erst lebten sie glücklich bis an ihr Ende.

Ähnlich auch das rumänische Märchen von „Mirko, dem Borstenkind”, wo ein Prinz in der Haut eines Schweinchens von Waldleuten aufgezogen wird. Wider Erwarten löste er drei Aufgaben und gewann die Prinzessin zur Frau. Die Neugier der Königin, welche das Borstenkleid, das Mirko nachts auszog, verbrannte, bewirkte seine Verbannung ans Ende der Welt. Die treue Prinzessin zieht aus, sucht und findet ihn und dem Glück steht nichts mehr im Weg.

Einige Gemeinsamkeiten fallen auf. So sind alle diese Märchenfiguren (Ausnahme: die Gänsehirtin) männliche Einzelkinder, spät geboren von überalten Eltern und, mit Ausnahme von „Hans dem Igel”, königlichen Geblüts. Die Märchen gehen gut aus, drücken Hoffnung aus und geben Zuversicht für die Träger eines schwerwiegenden, einsehbaren Makels mit tierischen Attributen. Nach einer Bewährungszeit mit nicht standesgemäßer Tätigkeit kann der Makel abgelegt werden und die ursprünglichen Qualitäten treten unbeschädigt hervor. Dies spricht alles nicht im Sinne einer erblichen Komponente, sondern eher für frühe somatische Mutationen.

Bei „Hans dem Igel” betrifft die somatische Mutation die beiden oberen Quadranten. Als er aus Dankbarkeit für geleistete Hilfe der Königstochter anvermählt wurde, vermag er in der Brautnacht das tierähnliche „Igelkleid” wegzulegen, welches zur Verhinderung der Wiederkehr gleich verbrannt wurde. Die verbleibende Dunkelpigmentierung konnte vom Arzt durch lokale Anwendungen gebleicht werden, sodass „Hans der Igel” nicht nur seinen Makel ablegte, sondern auch als Schwiegersohn des Königs adäquat und glücklich weiter lebte.

Man denkt am ehesten an einen hystrix-artigen oder einen dyskeratotischen (Abb. [1]) Teilkörpernävus [3] oder einen großflächigen Tierfellnävus mit wulstiger Oberfläche und borstigem Haarbesatz (Abb. [2]). Solche angeborene Nävi können in der Tat in der Jugend teilweise auswachsen und abblassen. Dieses scheint hier als Ziel vorzuschweben und ebenfalls die Wunschvorstellung, pigmentierte, ja schwarze Haut durch äußere Behandlung aufzuhellen. Ein Traum ganzer Völker und Rassen, wie er immer wieder erinnert wird durch Personen öffentlichen Interesses, z. B. durch Michael Jackson.

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Abb. 1 Dyskeratosis Darier.

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Abb. 2 Großer Tierfellnävus, fast den halben Körper bedeckend, hier die untere Hälfte.

Anders gelagert ist die Situation bei der „Gänsehirtin am Brunnen”, die in drei Jahren schwerer Arbeit in Hof und Feld, offenbar teils im Waldesdunkeln, teils in der Sonne, eine verbrauchte Altershaut bekam mit graufader Kopfbehaarung. Nach Ablauf der zugedachten Zeit vermochte sie am „Jungbrunnen” sowohl die vorgealterte Haut als auch die angegrauten Haare und die drückende Erinnerung an die schwere Zeit spurlos abzulegen. Als Königstochter wurde sie wiedererkannt, belohnt und glücklich vermählt.

Hier ist weder eine Erblichkeit noch die Vorstellung eines Nävus zu strapazieren. Viel eher handelt es sich um die Vergegenwärtigung des Traumes des modernen Menschen von der idealen, effektiven und unschädlichen Anti-Aging-Behandlung.

Ganz anders muss man den Symbolgehalt der Tierhaut bei Menschenkindern im Märchen „Das Eselein” betrachten. Die Haut steht für ein zusammengesetztes Konstrukt eines Menschen, mit menschlicher Lernfähigkeit, besonders guter und erfolgreicher sogar, und tierhaftem Aspekt. Das Motiv wird im Tiroler Märchen „Vom Kalberlkönig” und im rumänischen „Mirko, dem Borstenkind” aufgenommen. Immer sind es Königskinder, Prinzen, als spät geborene Einzelkinder, die als Eselein, Kalb oder Ferkel zur Welt kommen. Ihre Lernfähigkeit und auch ihr Verhalten aber zeigen, dass es sich um wertvolle Menschenkinder handelt, denen ein tierhaftes Äußeres angeboren ist. Dies wird durch die Tierhaut ausgedrückt. Es scheint eine Prüfung der Eltern und deren Kinderwunsch zu sein, kann aber von den Eltern selber nicht gelöst werden. Nur durch eigene Bewährung als wertvolle Menschen im Zusammenwirken mit der liebevollen Aufnahme in die oberste Gesellschaft, die Vermählung mit einer Prinzessin, wird gezeigt, dass die Tiergestalt durch nächtliches Weglegen der Tierhaut reversibel ist. Entschlossenes Handeln durch Verbrennen der abgelegten Tierhaut gehört dazu. Es braucht also die innere Größe, Sicherheit und Reife des tiergestaltigen Prinzen und eine Prinzessin dazu, die seine inneren Werte erkennt und trotz der Tiergestalt schätzt. Damit kann diese verworfen werden und der bisher „verschleierte Prinz” tritt hervor und bleibt ganz Mensch. Allerdings ist in keiner Version die Rede von Kindern. Eine gewisse Analogie zum Märchen „Der Froschkönig” ist unverkennbar.

Hier wird ein wertvolles Menschenkind in eine Tiergestalt verpackt, die als minderwertig gilt und im Volksmund auch als Schimpfwort Verwendung findet. Die Tiergestalt kann in der Nacht vorübergehend durch Beiseitelegen der Tierhaut gelöst und durch verbundene Leistung von „innen und außen” endgültig abgelegt werden. Solche Bestückungen von menschlichen Führungspersonen mit Tierhäuten zu kombinierten Tier-Menschgestalten gibt es in vielen Religionen und Kulturen. Während bei den Kentauren die physischen Qualitäten von Mensch und Pferd kombiniert erscheint, ist es bei den tierköpfigen Gottheiten der Ägypter eher eine Betonung und symbolische Einverleibung von besonderen Qualitäten. Schamanen, die Tierköpfe für kultische Handlungen zu tragen pflegen, stülpen sich symbolisch besondere Kräfte und Qualitäten dieser Tiere gleichsam über. Besondere Kräfte der Bären, Löwen etc. bestärken die Macht über Menschen, und Adler, Geier oder Fische bezeugen den Zugang des Schamanen zum Meer und in die Luft, also überall hin, auch bis zu den Göttern. Damit ist die Verbindungsfunktion des Schamanen als Vermittler zu den Göttern aufgebaut, der Weg begehbar und die Stellung gesichert. Er braucht dazu keine „Jakobsleiter”. Tierhäute zur Kleidung besonderer Menschen und Funktionen aber sind bis heute weiter entwickelt, verfeinert und in den soziokulturellen Kontext aufgenommen worden. Gekrönte Häupter und viele Leitungspersonen tragen im Ornat noch tierische Attribute, die besonders auszeichnen und daran erinnern, dass Tierhäute seit jeher dem Menschen besondere Qualitäten zuordnen.

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Danksagung

Dank gebührt Frau Madeleine Devrient aus Basel für die Unterstützung bei der Quellensuche.

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Literatur

Prof. Ernst G. Jung

Maulbeerweg 20 · 69120 Heidelberg

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Literatur

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Abb. 1 Dyskeratosis Darier.

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Abb. 2 Großer Tierfellnävus, fast den halben Körper bedeckend, hier die untere Hälfte.