PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(4): 449-451
DOI: 10.1055/s-2005-915306
Resümee
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Jazz meets Classics

Michael  Broda, Steffen  Fliegel
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Publication Date:
02 December 2005 (online)

Nach den Themenheften zu Panik (Heft 3/2000) und zu sozialen Ängsten (Heft 1/2003) liegt jetzt das dritte PiD-Heft vor, das sich mit einer Angstthematik beschäftigt. War nicht alles schon gesagt und geschrieben? Und sind nicht jeder Therapeut und jede Therapeutin gerade beim Thema Angst ohnehin Experte und Expertin?

Vielleicht hat uns gerade diese Vermutung bewegt, das vorliegende Heft zu planen und umzusetzen, um einige Aspekte zu beleuchten, die diese lebenszentrale Emotion aus mehreren Perspektiven beschreiben, aber auch um die einzelnen Behandlungsansätze bei dieser weit verbreiteten Störung gegenüberzustellen.

Was haben wir bei der Lektüre dieses Themenheftes erfahren? „Have all won und must all have prizes?”, wie der Dodo-Bird in Alice im Wunderland sein Urteil nach dem Wettlauf der Tiere formuliert? Sicherlich kann konstatiert werden, dass alle hier vorgestellten Ansätze und Methoden effektive und effiziente Hilfestellungen für PatientInnen anbieten. Es muss jedoch die Frage verfolgt werden, wie dies bei der doch so unterschiedlichen Herangehensweise der Therapieorientierungen erklärbar ist und welche Exportangebote anderer Ansätze für die eigene Therapierichtung nutzbar sind. Dabei kann es nicht um beliebige Mischungen therapeutischer Ansätze gehen. Unter dem Begriff der Methodenintegration wird häufig eine Tendenz beschrieben, Methoden und Techniken unterschiedlicher Ansätze zu mischen, vermutlich aus dem Erreichen von Grenzen bei der Angstbewältigung heraus. Wie niemand auf die Idee käme, Bach-Kantaten mit Stilelementen der Operette zu vermengen, sollten auch beliebige Therapieansätze nicht wahllos zusammengemixt werden.

Angstentstehung. Im Standpunktebeitrag sprechen Willi Butollo und Markos Maragkos bei der Angstentstehung von einer defizitären Persönlichkeitsentwicklung als Folge einer Inkonsistenzspannung, die durch die Ambivalenz zwischen Selbstständigkeitsimpulsen und Bindungssicherheitswünschen beim Individuum entstehen und damit auch als förderliche Voraussetzung für die Angstentstehung gelten kann. Ihr Beitrag verdeutlicht die Wichtigkeit eines Mehrperspektivenansatzes: Im Therapiemodell finden sich die wichtigsten Elemente der Grundorientierungen in nachvollziehbarer Kombination wieder.

Betrachten wir die Angstentstehung unter Zuhilfenahme der Bindungstheorie, so weist uns Carl Scheidt auf die Rolle des Bindungsverhaltens zur Entwicklung von Ängsten hin. Bei einer eingeschätzten Gefährdung der Bindungssicherheit setzt das Kleinkind ein Bindungsverhalten ein, das im positiven Falle von der erwachsenen Person adäquat beantwortet werden kann, im negativen Fall jedoch nicht zur Einschätzung einer Bindungssicherheit führt. In der Feinfühligkeit der Reaktion der Mutter lernt das Kleinkind die eigene Emotionsregulation, beim Ausbleiben dieser Feinfühligkeit kommt es je nach sich entwickelndem Bindungsstil zu unterschiedlichen Formen der Angst. Es ist verwunderlich, dass diese seit den frühen 70er-Jahren entwickelte Theorie in anderen Therapieformen, wie in der Verhaltenstherapie, keine Beachtung fand.

Auch Eva Jaeggi, selbst eine Grenzgängerin zwischen den Therapieorientierungen und jetzt Psychoanalytikerin, weist auf die Bedeutung von Ambivalenzkonflikten für die Angstentstehung hin. Diese entstehen aus Kindheitserlebnissen, deren bedrohlicher Inhalt verdrängt wird und damit zur Basis eines Konfliktes wird. Je nach Ausstattung des Ichs hat dies Einfluss auf die Ausgestaltung der Angststörung.

Ludwig Teusch und Jobst Finke vertreten unter gesprächspsychotherapeutischer Perspektive ebenfalls die Auffassung, dass die Nichtakzeptanz basaler Emotionen durch die Bezugsperson verhindert, dass diese in ein sich entwickelndes Selbstbild integriert werden können, und somit eine Selbstständigkeitsentwicklung erschwert.

Matthias Berking und Klaus Grawe beschreiben in ihrem Beitrag zu der neuropsychotherapeutischen Perspektive ebenfalls die Auffassung, dass Angstentstehung der inneren Konsistenzerhöhung dienen kann.

Doch auch die kognitive Verhaltenstherapie, in diesem Themenheft von Hinrich Bents erläutert, stellt sich der Frage der Angstentstehung, neben den bekannten lerntheoretischen Erklärungen auch in schematheoretischen Überlegungen. Danach können frühe Beziehungserfahrungen zur Ausbildung implizit steuernder Schemata führen, die ihrerseits korrigierende Lernerfahrungen verhindern.

Diese betonen auch Silvia Schneider und Barbara Schlup in ihrem Beitrag zu Ängsten bei Kindern und Jugendlichen. Trennungsängste aufbauend auf Bindungsunsicherheiten spielen in ihrem kognitiv-behavioralen Ansatz eine zentrale Rolle.

Bei der Lektüre unter der Fragestellung, wie Angststörungen entstehen, scheint die gemeinsame Schnittmenge zu überwiegen: Angst erhöht die innere Konsistenz und erfüllt so eine stabilisierende Funktion. Angstentstehung hat vermutlich in überwiegendem Maß etwas damit zu tun, wie dem Ausdruck kindlicher Grundbedürfnisse von nahen Bezugspersonen begegnet wird und welche Sicherheiten, Unsicherheiten oder Konflikte sich daraus entwickeln. Eine wichtige Erkenntnis an die Konstrukteure der Therapieschulen, bei den Überlegungen zur Angstentstehung die Ansätze von Bindungstheorie, Konfliktzentrierung, Schematheorien und Theorien von Störungen in der Selbstaktualisierung stärker wahrzunehmen und in einen gemeinsamen Dialog zu treten.

Aufrechterhaltende Bedingungen. Angststörungen brauchen jedoch auch im aktuellen Kontext aufrechterhaltende Bedingungen.

Unter diesem Aspekt hatten wir Stefan Leidig gebeten, Ängste und Arbeitsplatz - eines der zentralen Bedrohungsthemen unserer Zeit - näher zu beleuchten. Er verdeutlicht sowohl die aus Arbeitsplatz und Arbeitsbedingungen entstehenden Ängste als auch die Folgekosten von Angsterkrankungen am Arbeitsplatz.

Barbara Schlup und Silvia Schneider verweisen auf die Bedeutung von Angsterkrankungen im Kindes- und Jugendalter: Ängste im Kindes- und Jugendalter stellen einen deutlichen Risikofaktor für die Entstehung einer psychischen Störung im Erwachsenenalter dar.

In den Ansätzen der systemischen Therapie wird von Bettina Wittmund einerseits nochmals gut und nachvollziehbar beschrieben, in welchem Dilemma die systemische Theorie bei der Beschreibung von Störungskategorien steht, andererseits werden auch wieder eine ihrer Stärken deutlich: Die Betrachtung der kommunikativen Funktion des Symptoms und seine Bedeutung im familiären und sozialen Kontext ist sicherlich eine Bereicherung in der Erklärung von Angststörungen.

Ebenfalls anschaulich ist das von Hinrich Bents zur Beschreibung der Bedeutung von Kognitionen verwendete Beispiel des „FC Panik” als Fußballmannschaft, deren einzelne Spieler aus Gedanken bestehen und ein über Jahre hinweg eingeübtes Spielsystem praktizieren. Dieses trägt zur Automatisierung kognitiver Prozesse bei, macht Befürchtungskognitionen wahrscheinlicher und knüpft Angstentstehung an klar definierbare Bewertungsgedanken.

Ein weiteres Beispiel kognitiver Aufrechterhaltung von Ängsten liefern Gaby Bleichhardt und Wolfgang Hiller im Beitrag über krankheitsbezogene Ängste. Auch hier ist die automatisierte emotionale Reaktion auf körperliche Vorgänge die Angst, die durch Nicht-Überprüfung beibehalten wird.

Im Beitrag von Harald Krauß zur Psychopharmakologie wird ein weiteres Korrelat von Ängsten geschildert, das in psychologischer Betrachtungsweise häufig Gefahr läuft, ausgeblendet zu werden. Ängste können Folge von Schilddrüsenfehlfunktionen sein oder treten im Zusammenhang mit Alkohol- oder Drogenmissbrauch auf. Dies kann als Erinnerung dienen, diese Bereiche in der Anamnese unserer PatientInnen genau zu explorieren.

Bereits an dieser knappen Aufzählung wird wiederum deutlich, wie hilfreich es sein kann, bei der aktuellen Begründung der individuellen Angsterkrankung über den eigenen Grenzzaun zu schauen, wo es in der Regel vielfach Ergänzendes zu entdecken gibt.

Therapie. Wie soll nun die Therapie von Angsterkrankungen aussehen?

Dass vor einer jeden Therapie eine gute Diagnostik zu stehen hat, zeigen uns Jürgen Hoyer und Sylvia Helbig in ihrer Übersicht zu den wichtigsten Messinstrumenten.

Zunächst scheint es zu Beginn der Behandlung in mehreren Ansätzen wichtig zu sein, PatientInnen ein plausibles Modell der Störung anzubieten. Warum bekomme ich diese unerklärlichen Angstzustände, die oftmals in keinem Zusammenhang zum wahrgenommenen Stimulus stehen? Heike Alsleben konzentriert sich in ihrem Beitrag auf den Aspekt der Modellvermittlung und der schnellen Hilfe zur Selbsthilfe. Zwar ist dies schon immer eine Stärke der verhaltenstherapeutischen Interventionen, ganz ohne modellhafte Erklärungsansätze geht es aber auch in den anderen Grundorientierungen nicht: Das psychoanalytische Erklärungsmodell des Grundkonflikts wird modellhaft in der Übertragungsbeziehung deutlich und deutbar gemacht. Die Bindungstheorie vermittelt Einsichten über Bindungsverhalten und die Antwort der Bezugsperson darauf.

Konfrontation und damit das Aufgeben eines Vermeidungsverhaltens gehören seit jeher zum zentralen Therapieinventar der Verhaltenstherapie. Dabei ist sowohl die reale als auch die kognitive Vermeidung gemeint. Darüber sollen neue Lernerfahrungen ermöglicht werden. Die wiederholte Erfahrung, dass fantasierte Katastrophen ausbleiben, soll zur Entkoppelung von Angst und Gedanken oder Realsituation führen. Wer bislang annahm, dass dies der Psychoanalyse ganz fremd sei, sollte bei Freud (zit. nach Vogel 2005[1]) nachlesen: Die Einsicht allein, ohne die Erprobung in der Realität, sei bei der Behandlung von Ängsten nicht ausreichend. Auch Eva Jaeggi äußert sich entsprechend zur Vermeidung.

Zunehmend wichtiger in der Behandlung von Ängsten scheint die Rolle positiver Emotionen zu werden: In der psychoanalytischen Therapie differenziert Frau Jaeggi die Stärke der von ihr hergestellten positiven Emotionen nach dem Grad der Ich-Schwäche des Patienten, hält dies aber gerade auch im Herstellen einer verlässlichen Therapiebeziehung für einen zentralen Wirkfaktor. Dies ist auch Bestandteil der Gesprächstherapie: Empathie und Wertschätzung bilden die Basis in der therapeutischen Beziehung zur Behandlung der Angst.

Berking und Grawe stellen in ihrem Therapieprogramm bewusst positive Emotionen in der Angstsituation her.

Ebenfalls erlebnisaktivierend sind die imaginativen Ansätze, wie sie von Thomas Kirn beschrieben werden. Auch hier gibt es Verbindungen zu den Konfrontationsübungen der Verhaltenstherapie: Wo gelingt eine solch rasche Erlebnisaktivierung wie bei Konfrontationsübungen? Und wo wird eine solch enge Therapiebeziehung hergestellt wie bei einer gemeinsam durchlebten therapeutischen Übung? Wenn Kanfer (2000)[2] sagt: „Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg”, so ist dies ein zentraler Beleg für die Wichtigkeit des Auslösens positiver Emotionen im Therapieprozess. Und hier vermittelt sich wieder eine enge Verknüpfung zu den Ansätzen einer neuropsychologischen Sichtweise von Psychotherapie, die zu den wichtigen Hinterlassenschaften von Klaus Grawe gehört (Matthias Berking und Klaus Grawe).

Gibt es nun eine optimale Behandlung von Angsterkrankungen? Vielleicht gibt es nicht „die” Behandlung. So wie Menschen sehr unterschiedliche Zugänge zur Musik finden, sind PatientInnen eben auch auf unterschiedlichen Ebenen rational, emotional, in Bezug auf ihren Körper, auf der Handlungsebene oder in der Vorstellung ansprechbar und erreichbar und können bei der Arbeit auf einer dieser Dimensionen einen Veränderungsprozess in Gang setzen. Nicht jeder muss Mahler, Brahms oder gar Wagner mögen, es gibt Menschen, denen gibt die Gregorianik ebenso viel, wie anderen der Dixieland. Vielleicht wäre es demnach eine daraus abzuleitende Forderung, dass die Musik aber, egal welcher Stilrichtung, sehr gut sein müsse und eine Erkenntnis, dass jedoch manche Mixturen von Musikstilen nur schwer vorstellbar wären. Aber eigentlich müssten alle Stilrichtungen prinzipiell von allen gespielt werden können, alle müssten sich auf ein Notensystem beziehen und somit prinzipiell für alle transparent sein, auch wenn es immer Spezialisten für einzelne Stilrichtungen geben wird. Vielleicht ist die Zeit noch nicht reif für eine Angstbehandlung im Dialog, vielleicht macht es wirklich Sinn, sich auf das eine gelernte und feste Standbein zu stellen, das Sicherheit gibt. Dann aber ist eine Haltung wünschenswert mit Offenheit für die Grenzen des eigenen Ansatzes. Dann aber sollten die Erweiterungen, die ergänzend ins eigene Konzept passen, nicht einfach über den Zaun geholt und vereinnahmt werden. Wir empfehlen Türen und immer größer werdende Tore, die immer größer werden, immer größer …

Denn hat nicht auch schon der Ansatz „Jazz meets Classics” sehr schöne und neue Hörerlebnisse hervorgebracht?

In diesem Sinne wünschen wir allen LeserInnen ein „offenes Ohr” für die hier vorgestellten Ansätze.

1 Vogel R. Verhaltenstherapie in psychodynamischen Behandlungen. Stuttgart: Kohlhammer, 2005.

2 Kanfer FH, Reinecker H, Schmelzer D. Selbstmanagementtherapie. Berlin: Springer, 2000.