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DOI: 10.1055/s-2005-918567
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Evidence-Based Medicine und Reale-Welt-Studien am Beispiel des Diabetes mellitus - Empathie-basierte Medizin? Erwiderung
Publication History
Publication Date:
29 September 2005 (online)
Mit Recht weist Herr Professor Rohde darauf hin, dass die Briten EBM immer wieder kritisch unter die Lupe nehmen (weitere kritische Stimmen: 1, 2, 3). Warum dann aber die Aufregung, wenn auch in Deutschland auf die Schwachstellen von EBM hingewiesen wird? Ich kämpfe nicht gegen EBM, sondern ich plädiere für die wissenschaftliche Suche und Erprobung neuer Studiendesigns, die die reale Welt besser spiegeln, und das Spektrum von EBM erweitern können. Der Begriff „Reale-Welt-Studien“ ist keine Erfindung von mir, sondern kommt ebenfalls aus dem angloamerikanischen Wissenschaftsraum. In einem Editorial [5] sollte es erlaubt sein, die Dinge etwas zuzuspitzen, um die Aufmerksamkeit auf die folgenden Beiträge im Supplement zu lenken. Ich denke, dass es gerade meine Aufgabe als Chefredakteur ist, unsere Leser auf neue Entwicklungen in der klinischen Forschung aufmerksam zu machen, die vielleicht besser geeignet sind, unsere täglichen klinischen Entscheidungen zu beeinflussen. An dieser Stelle sei der Hinweis erlaubt, dass ich selbst seit 30 Jahren ärztlich tätig bin, und mich wie viele andere auch schon vor EBM um eine wissenschaftliche Medizin mit Unterstützung externer Evidenz bemüht habe.
Ich wehre mich allerdings - wie andere auch - gegen eine Ideologisierung des EBM-Begriffs [6] und nehme dabei gern in Kauf, dass ich manche Protagonisten in ihrer EBM-Selbstgefälligkeit störe. Was sollen wir mit dem Hinweis anfangen, dass nur ungefähr die Hälfte aller ärztlichen Therapien im Sinne von EBM als gesichert gelten? Ist damit gemeint, dass wir hier gar nicht therapieren dürfen, sondern abwarten müssen, bis uns ein Cochrane-Institut grünes Licht gibt? Dann hätten wir uns z. B. bis zum Jahr 1998 um eine gute Stoffwechseleinstellung und Blutdruckkontrolle bei Diabetikern gar nicht bemühen müssen, denn erst die UKPDS (United Kingdom Prospective Diabetes Study Group) hat in einer kontrollierten Studie gezeigt, dass eine intensivierte Therapie bei Typ 2-Diabetes tatsächlich zur Senkung makrovaskulärer Ereignisse führt. Die Sinnhaftigkeit einer intensiven Stoffwechsel- und Blutdruckkontrolle war aber doch wohl aufgrund pathophysiologischer und klinischer Überlegungen auch vor UKPDS nicht wirklich zu bezweifeln. Für eine Vielzahl alltäglicher Diagnosen gelten ähnliche Überlegungen; d. h. wir therapieren selbstverständlich in vielen Fällen berechtigterweise Intelligenz-basiert auch ohne EBM, z. B. eine Iridozyklitis oder eine Riesenzellarteriitis mit Kortison um eine Erblindung zu verhindern - auch ohne kontrollierte Studie!
Nicht nur in diesem Sinne kann EBM tatsächlich nicht der Weisheit letzter Schluss sein, wenn wir die jetzige Rangfolge der Evidenzgrade als sakrosankt akzeptieren [4]. Zur wissenschaftlichen Medizin gehört es auch, Fehlentwicklungen, Schwachstellen und Unzulänglichkeiten sowie politischen Missbrauch aufzuzeigen und sich um neue Konzepte zu bemühen.
Literatur
- 1 Charlton B G, Miles A. The rise and fall of EbM. Q J Med. 1998; 91 371-374
- 2 Feinstein A R, Horwitz R I. Problems in the „Evidence“ of „Evidence based medicine“. Am J Med. 1997; 103 529-535
- 3 Maynard A. Evidence based medicine: an incomplete method for informing treatment choices. Lancet. 1997; 349 126-128
- 4 Middeke M. Evidence-Based Medicine: Nicht der Weisheit letzter Schluss. Der Kassenarzt. 2005; 7 28-30
- 5 Middeke M. Evidence-Based Medicine und Reale-Welt-Studien am Beispiel des Diabetes mellitus. Dtsch Med Wochenschr. 2005; 130 61-63
- 6 von Wichert P. Evidenzbasierte Medizin: Begriff entideologisieren. Dtsch Ärzteblatt. 2005; 102 A1569