Einführung
Einführung
In unserer Serie über neue Berufskrankheiten auf dem Gebiet der Pneumologie hatten
wir bereits über die Erweiterung der Definition der Berufskrankheit (BK) 4104 um die
Diagnose „Kehlkopfkrebs” [1] sowie über die neue BK 4111 (Chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem bei
untertägig exponierten Steinkohlebergleuten … [2]) berichtet. Der Vorschlag des Ärztlichen Sachverständigenbeirats „Berufskrankheiten”
beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung [3], in Erweiterung der BK 4110 eine Lungenkrebserkrankung infolge beruflicher Exposition
gegenüber einer kumulativen Dosis von mindestens 100 Benzo(a)pyren-Jahren in die Liste
der Berufskrankheiten aufzunehmen, wurde bislang nicht umgesetzt, Anerkennungen und
Entschädigungen erfolgen derzeit im Einzelfall ggfs. über § 9(2) SGBVII (Öffnungsklausel).
Eine neuerlich vorgenommene Erweiterung der Liste der Berufskrankheiten ist Anlass
für die vorliegende Zusammenfassung, die direkt auf der im Bundesarbeitsblatt [4] veröffentlichten Empfehlung basiert.
Erkenntnisse über den allgemeinen Wirkungsgrad und die Kinetik des Quarzstaubes im
Organismus veranlassten die IARC (International Agency for Research on Cancer) im
Jahre 1997, Quarz als krebserzeugend einzustufen [5]. Die Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der Deutschen
Forschungsgemeinschaft nahm 1999 eine Neubewertung von Quarz vor. Dabei wurde die
krebserzeugende Wirkung von Siliciumdioxid (kristalliner Staub, Quarz-, Cristobalit-,
Tridymitstaub; alveolengängiger Anteil - identisch mit der älteren Definition „Feinstaub”;
Formel: SiO2) nach „Kategorie 1” eingestuft [6].
Der Nachweis eines erhöhten Lungenkrebsrisikos durch die Einwirkung von kristallinem
Siliziumdioxid (SiO2) bei nachgewiesener Quarzstaublungenerkrankung (Silikose oder Siliko-Tuberkulose)
führte zur Aufnahme der BK 4112 in die Liste der Berufskrankheiten.
Vorkommen und Gefahrenquellen
Vorkommen und Gefahrenquellen
Die kristallinen Modifikationen des Siliciumdioxid (SiO2) sind vorrangig unter den Bezeichnungen Quarz Cristobalit und Tridymit bekannt, wenngleich
eine Vielzahl weiterer Modifikationen existiert.
Aufgrund physikalischer und chemischer Eigenschaften sowie der Formbeständigkeit eignet
sich Quarz als Formengrundstoff für die Gießereiindustrie. Bevorzugt werden Sande
mit kantengerundeten mineralischen Körnern verwendet. In der chemischen Industrie
findet Quarz als Rohstoff zur Herstellung von Silikonen, Silikagel, Wasserglas zur
Gewinnung des Elements Silicium und zur Züchtung von Siliciumkristallen für die Halbleiterindustrie
Anwendung. In der Emaille- und keramischen Industrie werden Quarzmehle bei der Herstellung
keramischer Massen, Glasuren und Flicken eingesetzt; im Bereich der Feinkeramik u.
a. auch bei der Herstellung von Elektroporzellan, säurefester Keramik, Wand- und Bodenfliesen,
keramischen Dentalkörpern und Dentalmassen verwendet. Weiterhin wird Quarzsand bzw.
Quarzmehl als Füllstoff für Gießharze, Press- und Gießmassen, Porzellan, Dispersionsfarben,
Porenbeton, Zementschlämme für Tiefbohrungen und Dekorputz eingesetzt.
Die kristallinen Modifikationen des Siliciumdioxid werden in der Natursteinindustrie
bei der Gewinnung, Verarbeitung und Anwendung von Festgesteinen, Schotter, Splitter,
Kiesen und Sanden verwendet.
Weitere Anwendungsgebiete liegen im Bereich der Schmucksteinverarbeitung. Eine Reihe
von Varietäten des Quarzes und kryptokristallinen Quarzes finden als Schmuck- und
Halbedelsteine (Amethyst, Rauchquarz, Citrin, Chrysopas und Onyx) und fanden vor allem
früher als Schleif-, Polier- und Abrasivmittel Anwendung, hier dominieren jetzt Siliciumcarbid
oder -corund. Als Strahlmittel wurden bis zum 2. Weltkrieg fast ausschließlich Quarzsande
verwendet. Aufgrund des hohen Silikoserisikos der Strahlarbeiter wurden dann zunehmend
Ersatzstoffe für die silikogenen Strahlmittel eingesetzt, wobei die Verwendung silikogener
Strahlmittel heute bis auf wenige Ausnahmen untersagt ist.
Mit dem Vorkommen von Cristobalit und Tridymit ist zu rechnen, wenn Diatomenerden,
Sande oder Tone einer hohen Temperatur ausgesetzt wurden, z. B. in feuerfesten Steinen
und in gebranntem Kieselgur [7].
Tierversuche
Tierversuche
Tierkanzerogenese-Studien mit inhalativer Exposition an Ratten fanden einen signifikanten
Anstieg der Lungentumorinzidenzen bei Konzentrationen von 0,7 bis 52 mg AQS/m3 (AQS = alveolargängiger Quarzstaub) im Vergleich zu Tieren, die mit Reinluft oder
Titandioxid exponiert wurden oder unbehandelt waren [8]
[9]
[10].
Nach Exposition gegenüber quarzhaltigem extrahierten Ölschiefer, der 12 mg Quarz/m3 enthielt, wurden bei 11 von 59 histologisch untersuchten Ratten ebenfalls Lungentumoren
beobachtet [11]. In den Untersuchungen an F344-Ratten zeigte sich, dass weibliche Tiere mit einer
deutlich höheren Lungentumorinzidenz reagierten als männliche Tiere [10]. In einer Studie an weiblichen Wistar-Ratten wurden bereits nach 29-tägiger Exposition
und bis zu 33-monatiger Nachbeobachtung in beiden Konzentrationsgruppen Tumorinzidenzen
um 50 % beobachtet [10]. Nach einer licht- und elektronenmikroskopischen Analyse der Lungentumoren der Quarzstaub-exponierten
Tiere [11] wurde festgestellt, dass die Adenokarzinome in der Peripherie der Lunge lokalisiert
waren und überwiegend Differenzierungsmerkmale von Typ II-Pneumozyten aufwiesen [12]
[10]. In der Regel fanden sich in der Nähe der Tumoren fibrotische Knötchen [12]. Muhle u. Mitarb. [9] gaben an, dass die Adenokarzinome häufig eine ausgeprägte Fibosierung zeigten.
Auch die intratracheale Instillation von Quarz führte bei Ratten zu einer signifikanten
Erhöhung der Lungentumorraten [11]
[13]
[14].
Pathophysiologie
Pathophysiologie
Die allgemeinen Wirkungen von kristallinem Siliciumdioxidpartikeln beruhen auf einer
direkten Wechselwirkung der Kristalloberfläche mit Zellmembranen oder Zellflüssigkeiten.
Quarzstaubpartikel, die im Alveolarraum deponiert werden, können von Alveolarmakrophagen
phagozytiert werden. Phagozytierte Quarzpartikel aktivieren die Alveolarmakrophagen.
Es kommt zu deren Proliferation und zur erhöhten Bildung von Sauerstoffradikalen und
reaktiven Stickstoffoxidspezies. Zusätzlich werden z. T. zytotoxische Zytokine, bioaktive
Lipide, Wachstumsfaktoren und Proteasen frei. Sie können eine chronisch-entzündliche
Reaktion bewirken, in deren Rahmen eine direkte Parenchymschädigung ausgelöst und
die Kollagensynthese stimuliert werden können [15]
[16]
[17]. Vorrangig durch den oxidativen Stress können Mutationen von Epithelzellen, z. B.
durch Inaktivierung von Tumorsuppressorgenen oder Aktivierung von Protoonkogenen erfolgen.
Bezüglich der Wirkung von einatembarem kristallinen Siliciumdioxid sind - etwas formal-final
betrachtet - zwei pathogenetische Mechanismen zu unterscheiden:
-
Die nach Alveolardisposition von Fibroblasten ausgehende fibrogene Wirkung, deren
Kenntnis zur Aufnahme der Silikose und Silikotuberkulose in die Liste der Berufskrankheiten
führte (BK Nr. 4101 und 4102) und
-
eine primär die Epithelzellen der mittleren und tiefen Atemwege betreffende kanzerogene
Wirkung (neue BK Nr. 4112).
Epidemiologische Studien bei beruflich Exponierten
Epidemiologische Studien bei beruflich Exponierten
Die Mehrheit der berücksichtigten Kohortenstudien aus den verschiedenen Industriezweigen
(Granitindustrie, Gewinnung von Diatomeenprodukten, Keramikindustrie und Goldbergbau)
zeigt eine enge Assoziation zwischen Silikose-induzierten Staubexpositionen einerseits
und dem vermehrten Auftreten von Lungenkrebs andererseits [5]
[6]. Unter Exposition gegenüber geglühtem Diatomeen [18]
[19] kann eine Verdoppelung des Lungenkrebsrisikos ab einer kumulativen Quarzfeinstaubdosis
von mehr oder gleich als 5 mg/m3 × Jahre veranschlagt werden.
Für Natursteingewinner und -bearbeiter [20]
[21] ist die Verdoppelung des relativen Risikos mit hoher Wahrscheinlichkeit Silikose-assoziiert.
Das erhöhte relative Risiko für Lungenkrebs korreliert stark mit Intensität und Dauer
der Quarzstaubexposition sowie dem Vorliegen einer Silikose. Die Wahrscheinlichkeit
einer kausalen Assoziation wird durch die mit der Intensität der Quarzstaubexposition
konsistent einhergehende Kombination erhöhter Risiken für Lungenkrebs, Silikose, Silikotuberkulose
und anderer Quarzstaub-assoziierter nicht maligner Krankheiten des Atmungssystems
gestützt.
Aus Studien der keramischen Industrie [22]
[23] resultieren Hinweise auf eine Assoziation zwischen Quarzstaubexposition und Lungenkrebs.
Wurden Dosis-Häufigkeits-Beziehungen analysiert, so sind sie in der Tendenz positiv,
insbesondere auch in Raucher-adjustierten Studien. Eine Verdoppelung des Lungenkrebsrisikos
bzw. ein Trend dahin zeigt sich für die Erkrankung an Silikose, für hohe kumulative
Quarzstaubexpositionen und hohe mittlere Quarzstaubexpositionen in der Luft am Arbeitsplatz,
wie bei Tätigkeiten in Feuerungs- und Postfeuerungsprozessen.
Ähnlich ist die Datenlage in der Silikat- und Tonsteinindustrie [24]
[25]. Hier wird eine Verdoppelung des Lungenkrebsrisikos von Quarzstaub-exponierten Beschäftigten
mit einem hohen Silikoserisiko in erster Linie beim Vorliegen einer Silikose evident.
Besonderheiten der Berufskrankheit 4112
Besonderheiten der Berufskrankheit 4112
Das Lungenkrebsrisiko von Steinkohlebergleuten ist umstritten und anhand der vorliegenden
Studien derzeit nicht als gesichert anzusehen. Der Grund liegt darin, dass die Studien
aus dem Steinkohlenbergbau für Quarzstaub-exponierte Personen ohne Silikose keine
Verdoppelung des Lungenkrebsrisikos für die epidemiologische Auswertung gezeigt haben.
Teilweise positiven Studien [26]
[27] stehen negative Studien [Übersichten 5, 6] gegenüber. Ergebnisse laufender Untersuchungen
stehen noch aus. Daher ist Lungenkrebs in Verbindung mit Silikose bei Steinkohlebergleuten
beim gegenwärtigen Wissensstand von der Empfehlung einer neuen Berufskrankheit ausgenommen.
Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand zu
folgern ist, dass eine durch kristallines Siliciumdioxid induzierte Verdoppelung des
Lungenkrebsrisikos nur in Verbindung mit dem Nachweis einer Silikose (≥ 1/1 nach ILO-Klassifikation)
als eine wissenschaftlich gesicherte Assoziation betrachtet werden kann. Bei Personen,
die eine histopathologisch gesicherte Silikose aufweisen, aber röntgenologisch eine
ILO-Klassifikation < 1/1 aufweisen, bedarf es einer besonderen Abwägung; im Regelfall
wird keine Anerkennung einer Berufserkrankung nach Nr. 4112 begründbar sein.