psychoneuro 2005; 31(9): 449-450
DOI: 10.1055/s-2005-919173
Brennpunkt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zielvereinbarung 2005 zwischen GKV und KV-Hamburg - Ausgabensenkung um 1 % u.a. bei Antidepressiva blockiert Teilhabe der Kranken am Fortschritt

Jürgen Fritze1 , Josef B. Aldenhoff1 , Frank Bergmann1 , Wolfgang Maier1 , Hans-Jürgen Möller1
  • 1Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und die Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP)
Further Information
#

Korrespondenz:

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

Gesundheitspolitischer Sprecher

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)

Asternweg 65

50259 Pulheim

Publication History

Publication Date:
06 October 2005 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Die Zielvereinbarung 2005 zwischen den Landesverbänden der GKV und der Kassenärztlichen Vereinigung in Hamburg tritt zum 01.07.2005 in Kraft und ist aus Sicht der KV als Ausweg zu interpretieren, Regresse für Vorjahre zu vermeiden. Die Zielvereinbarung könnte bundesweites Modell werden.

Bei insgesamt 13 spezifischen Arzneimittelgruppen, hier auch Antidepressiva, soll ein Einsparvolumen gegenüber 2004 von 1 % realisiert werden. Dazu sollen mehr Generika und weniger sog. Me-Too-Präparate (Analogpräparate) verordnet werden. Spezifisch sollen die „klassischen Antidepressiva”, das meint wohl die unselektiven, trizyklischen Aufnahmehemmer, bevorzugt werden, in der Gruppe der selektiven Serotonin-Aufnahmehemmer (SSRI) die Generika. Die Kosten je Tagesdosis (DDD) der SSRI sollen um 10 % reduziert werden. Werden die Ziele verfehlt, so soll der Arzt in individuellen Regress genommen werden.

Das entsprechende Substitutionspotential sei medizinisch vertretbar, weil „die Substanzauswahl nur sehr beschränkte Bedeutung für die zuverlässige Voraussage des individuellen Therapieerfolges” habe. Die patentgeschützten SSRI hätten keinen relevanten Qualitätsvorteil. Dabei beruft sich die Vereinbarung auf den Cochrane-Review aus dem Jahr 2001 und die Übersicht von Oeljeschläger & Müller-Oerlinghausen [9].

Die Datenbasis des Cochrane-Review war die Studien bis zum Jahr 1999. Folglich konnte der Review nicht alle Evidenz würdigen, insbesondere nicht die zum enantiomerenreinen Escitalopram. Escitalopram ist signifikant wirksamer als razemisches Citalopram, wie durch Meta-Analysen [2] [4] [6] und durch eine jüngste Studie [8] belegt. Das ist darauf zurückzuführen, dass R-Citalopram die Wirkung von S-Citalopram am Serotonin-Transporter hemmt. Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob razemisches Citalopram weiterhin als Arzneimittel vertretbar ist, da dem Patienten die volle Wirkung vorenthalten wird.

Die behauptete weitgehende Austauschbarkeit von modernen Antidepressiva gegen trizyklische Generika ignoriert, dass bei weitem die Mehrzahl depressiver Patienten vom Hausarzt behandelt werden und trizyklische Antidepressiva wegen Nebenwirkungen und Risiken (u.a. Lebensgefahr bei suizidal motivierter Intoxikation) erheblich schwerer zu handhaben und mit höheren Abbruchraten belastet sind [1]. Die auch von Oeljeschläger & Müller-Oerlinghausen [9] beklagte Unterbehandlung depressiver Patienten hat in den letzten zehn Jahren insbesondere durch die Nutzung der SSRI deutlich abgenommen. Wenn man schon SSRI durch trizyklische Antidepressiva ersetzen soll, dann muss man auch der Empfehlung von Oeljeschläger & Müller-Oerlinghausen [9] folgen, dabei die Plasmaspiegel des trizyklischen Antidepressivums zu messen und entsprechend die Dosis anzupassen. Ob dann die gewünschten Einsparungen erzielbar sind, ist mehr als fraglich. Schließlich beläuft sich - wie dem Arzneiverordnungsreport zu entnehmen - der Generikaanteil im Generika-fähigen SSRI-Markt schon jetzt auf 70-90 % [3]. Die Einsparziele der Hamburger Vertragsparteien werden also wahrscheinlich neuer Unter- und Fehlversorgung depressiver Patienten Vorschub leisten.

Depressionen gewinnen wachsende Bedeutung u.a. als Ursache für Arbeitsunfähigkeit. Darauf weist seit Jahren die WHO hin. Das haben sich jüngst die europäischen Gesundheitsminister in ihrem Aktionsplan vom 14.01.2005 zu eigen gemacht. Das wird auch den Krankenkassen - wie ihren Jahresberichten zu entnehmen - zunehmend bewusst. Es macht keinen Sinn, gerade in einem seit Jahren von Unter- und Fehlversorgung betroffenen - so auch der Sachverständigenrat der Bundesregierung - Indikationsgebiet die Versorgung durch kurzschlüssige Einsparziele zu gefährden.

Die Versorgungssituation von Patienten mit Depressionen ist nämlich ausweislich von zwei groß angelegten Studien in Hausarztpraxen außerordentlich mangelhaft. In Hausarztpraxen werden die meisten Patienten mit dieser Diagnose behandelt, wobei aber die überwiegende Mehrheit keine spezifische antidepressive Therapie (Pharmako- oder Psychotherapie) erhält [5] [7]. Die Beseitigung dieses eklatanten Mangels erfordert in jedem Fall eine Ausweitung der Verordnung von Antidepressiva (welcher Art auch immer), die auch eine Ausweitung der Arzneimittelkosten zur Folge haben muss (auch wenn nur Generika oder TZA verschrieben werden). Die getroffene Vereinbarung beinhaltet jedoch eine globale Kostenreduktion bei den Antidepressiva und schreibt so einen erschreckenden Qualitätsmangel in der Behandlung depressiver Patienten in Allgemeinarztpraxen fort.

#

Literatur

  • 1 Anderson IM. Selective serotonin reuptake inhibitors versus tricyclic antidepressants: A meta-analysis of efficacy and tolerability.  J Affect Disord. 2000;  58 19-36
  • 2 Auquier P, Robitail S, Llorca PM, Rive B. Comparison of escitalopram and citalopram efficacy: A meta-analysis.  International Journal of Psychiatry in Clinical Practice. 2003;  7 259-268
  • 3 Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen: Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2004.  Psychoneuro. 2005;  31 46-52
  • 4 Gorman JM, Korotzer A, Su G. Efficacy Comparison of Escitalopram and Citalopram in the Treatment of Major Depressive Disorder: Pooled Analysis of Placebo-Controlled Trials.  CNS Spectrums. 2002;  7 40-44
  • 5 Jacobi F, Höfler M, Meister W, Wittchen HU. Prävalenz, Erkennens- und Verschreibungsverhalten bei depressiven Syndromen. Eine bundesdeutsche Hausarztstudie.  Nervenarzt. 2002;  73 651-658
  • 6 Lepola U, Wade A, Andersen HF. Do equivalent doses of escitalopram and citalopram have similar efficacy? A pooled analysis of two positive placebo-controlled studies in major depressive disorder.  Int Clin Psychopharmacol. 2004;  19 149-55
  • 7 Linden M, Maier W, Achberger M, Herr R, Helmchen H, Benkert. Psychische Erkrankungen und ihre Behandlung in Allgemeinarztpraxen in Deutschland.  Nervenarzt. 1996;  67 205-215
  • 8 Moore N, Verdoux H, Fantino B. Prospective, multicentre, randomized, double-blind study of the efficacy of escitalopram versus citalopram in outpatient treatment of major depressive disorder.  Int Clin Psychopharmacol. 2005;  20 131-137
  • 9 Oeljeschläger B, Müller-Oerlinghausen B. Wege zur Optimierung der individuellen antidepressiven Therapie.  Deutsches Ärzteblatt. 2004;  101 A1337-A1340
#

Korrespondenz:

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

Gesundheitspolitischer Sprecher

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)

Asternweg 65

50259 Pulheim

#

Literatur

  • 1 Anderson IM. Selective serotonin reuptake inhibitors versus tricyclic antidepressants: A meta-analysis of efficacy and tolerability.  J Affect Disord. 2000;  58 19-36
  • 2 Auquier P, Robitail S, Llorca PM, Rive B. Comparison of escitalopram and citalopram efficacy: A meta-analysis.  International Journal of Psychiatry in Clinical Practice. 2003;  7 259-268
  • 3 Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen: Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2004.  Psychoneuro. 2005;  31 46-52
  • 4 Gorman JM, Korotzer A, Su G. Efficacy Comparison of Escitalopram and Citalopram in the Treatment of Major Depressive Disorder: Pooled Analysis of Placebo-Controlled Trials.  CNS Spectrums. 2002;  7 40-44
  • 5 Jacobi F, Höfler M, Meister W, Wittchen HU. Prävalenz, Erkennens- und Verschreibungsverhalten bei depressiven Syndromen. Eine bundesdeutsche Hausarztstudie.  Nervenarzt. 2002;  73 651-658
  • 6 Lepola U, Wade A, Andersen HF. Do equivalent doses of escitalopram and citalopram have similar efficacy? A pooled analysis of two positive placebo-controlled studies in major depressive disorder.  Int Clin Psychopharmacol. 2004;  19 149-55
  • 7 Linden M, Maier W, Achberger M, Herr R, Helmchen H, Benkert. Psychische Erkrankungen und ihre Behandlung in Allgemeinarztpraxen in Deutschland.  Nervenarzt. 1996;  67 205-215
  • 8 Moore N, Verdoux H, Fantino B. Prospective, multicentre, randomized, double-blind study of the efficacy of escitalopram versus citalopram in outpatient treatment of major depressive disorder.  Int Clin Psychopharmacol. 2005;  20 131-137
  • 9 Oeljeschläger B, Müller-Oerlinghausen B. Wege zur Optimierung der individuellen antidepressiven Therapie.  Deutsches Ärzteblatt. 2004;  101 A1337-A1340
#

Korrespondenz:

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

Gesundheitspolitischer Sprecher

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)

Asternweg 65

50259 Pulheim