PPH 2006; 12(1): 1
DOI: 10.1055/s-2006-926571
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Beunruhigendes in der Pflege

W. Schnepp
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
01. März 2006 (online)

In vielen unserer Pflegeforschungsprojekte und in vielen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen in der Pflegepraxis, vor allen Dingen aber im Gespräch mit „Patienten”, mehren sich Hinweise auf erschreckende Situationen in vielen Versorgungseinrichtungen und auch in Pflegebereichen.

Dazu einige wenige Beispiele: Ein junger geistig behinderter Mann, der psychisch erkrankte, entwickelte nach Aufnahme in die Psychiatrie eine schwere Hauterkrankung, die dermatologisch behandelt werden musste. Laut der Beobachtungen der Mutter dieses Patienten waren die Pflegekräfte hierzu nicht in der Lage und sie hatten auch keine Zeit für die aufwändige Hautbehandlung. So hat dies notgedrungen die Mutter übernommen. Eine ältere Dame wurde telefonisch von einer Intensivstation darüber informiert, dass ihre Schwester im Sterben läge, sie solle sofort kommen. Als sie auf der Intensivstation ankam, stand sie vor dem Schild „von 12:00 bis 14:00 Uhr keine Besuchszeit”. Sie hat pausenlos geklingelt, niemand reagierte, und erst kurz nach 14:00 Uhr wurde die Tür mit dem Hinweis geöffnet „was kommen sie so spät, nun ist sie tot”. Als eine Kollegin von mir einen schweren Unfall hatte, war der Arzt in der Unfallambulanz nicht in der Lage, eine Rippenserienfraktur zu diagnostizieren, dies tat erst die Hausärztin am anderen Tag.

Diese Beispiele ließen sich beliebig erweitern. Auffallend ist, dass es sich offensichtlich nicht um Einzelbeispiele handelt, ich habe vielmehr den Verdacht, dass derlei Situationen längst systemischen Charakter haben. Aber wie kommt das? Wie kommt es, dass Patienten und ihre Angehörigen in dieser Weise geschädigt werden? Wie kann es sein, dass sich professionelle Helfer, die doch sicher die Absicht haben, kranken Menschen beizustehen, so verhalten? Kann es alleine mit Zeitmangel, der sicher dramatisch ist, erklärt werden? Kann man es überhaupt noch als ein Verhalten einzelner Individuen interpretieren? Oder hat sich in der Gesundheitsversorgung längst etwas „breit” gemacht, was nun dieses Verhalten hervorruft?

In der gesamten Gesundheitsdebatte scheint die Tatsache, dass es um kranke Menschen, um Patienten geht, kaum noch Thema zu sein. In dieser Debatte geht es allein um Ökonomie. Krankenhausdirektoren und auch Pflegedirektorinnen können stundenlang über Qualitätsanforderungen, Qualitätssicherung und ökonomische Prinzipien debattieren, das Wort „Patient” hört man jedoch kaum, „Patientenwohl” noch weniger. Krankenhäuser scheinen sich zunehmend „abzuschotten”, man sieht dies an der unsinnigen Renaissance der Besuchszeiten auf Intensivstationen, obwohl aufgrund von Forschungen bekannt ist, wie wichtig Angehörige gerade für diese Patienten sind. Ich finde es bemerkenswert, dass in der gesamten Gesundheitsdebatte völlig ausgeklammert wird, dass Patienten und ihre Angehörige sehr verletzbar sind, als Individuen, aber auch als vulnerable Gruppen, wie etwa psychiatrische Patienten. Politisch motivierte Umstrukturierungen, Ökonomie, Privatisierung und ein straffes Qualitätsmanagement müssen ja nichts Schlechtes sein, aber wenn sie sich nicht mehr auf ethische Grundprinzipien beziehen, diese nicht mehr garantieren, wenn sie sich nicht mehr ihrer schützenden Funktion bewusst sind, dann würde ein Krankenhaus sehr viel besser funktionieren, wenn es dort keine Patienten gäbe.

Nach 30 Jahren Berufserfahrung in der Krankenpflege stehe ich ratlos und zugeben auch etwas deprimiert vor dieser Entwicklung. Die Erfolge jahrelanger Kämpfe um mehr Humanität, um mehr Patientenorientierung, scheinen sich in einem rasanten Tempo in Nichts aufzulösen, politischer Widerstand von Pflegekräften ist eher selten und noch seltener erfolgreich. An wen sollten sich Pflegekräfte auch wenden, wenn sie erleben, dass immer mehr Hilfskräfte auf Fachabteilungen eingestellt werden? Etwa an die Pflegedienstleitung, die dies veranlasst hat? Wen interessiert eine Nachtwache im Altenheim, die alleine 50 Bewohnerinnen „bewachen” muss, von denen 20 dement sind? Wer hört auf die psychiatrische Fachkrankenschwester, die genau weiß, dass in einem Stadtteil mit hoher sozialer Problematik unbedingt psychiatrische Pflegedienste und Beratungsstellungen eingerichtet werden müssten? Die Politik und einen Großteil unsere Gesundheitsmanager scheint dies offensichtlich kaum zu interessieren.

Ich beende dieses Editorial mit dem Satz einer körperbehinderten Frau, die uns über ihre Erfahrungen mit allgemeinen Krankenhäusern berichtete: „Wenn du im Krankenhaus keinen Fürsprecher hast, keine Familie da ist, dann bist du verraten und verkauft.”

    >