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DOI: 10.1055/s-2006-926759
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Integrierte Versorgungsprojekte im Suchtbereich
Erfahrungen am Beispiel eines Projektes zum ambulanten AlkoholentzugIntegrated Health Care Projects in the Field of AddictionExperiences in an Out-patient Alcohol Withdrawal Project
PD Dr. Martin Schäfer
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin, Kliniken-Essen-Mitte, Ev. Huyssenstift
Henricistr. 92
45136 Essen
Email: m.schaefer@kliniken-essen-mitte.de
Publication History
Publication Date:
19 May 2006 (online)
- Zusammenfassung
- Abstract
- Einleitung und Grundlagen
- Rationale für den Ausbau teilstationärer bzw. ambulanter Angebote für den qualifizierten Alkoholentzug
- Individualisierter interdisziplinärer, qualifizierter, ambulanter (teilstationärer) Alkoholentzug: ein Vertrag zur integrierten Versorgung nach § 140b SGB V
- Diskussion
- Literatur
Zusammenfassung
Der § 140 SGB V dient als gesetzliche Vorgabe, um integrierte Versorgungsnetze zu entwickeln und diese direkt mit den Krankenkassen als Kostenträger zu verhandeln. Ziel ist u. a. die Vernetzung von stationären und ambulanten Therapieangeboten, um vorhandene Ressourcen besser zu nutzen und qualitativ hochwertige und trotzdem kostengünstige Behandlungsmodelle zu schaffen. In der vorliegenden Arbeit soll die Rationale und die praktische Struktur eines integrierten Versorgungsvertrages über einen individualisierten, interdisziplinären, qualifizierten ambulanten bzw. teilstationären Alkoholentzug dargestellt und im Rahmen der allgemeinen Erfahrungen mit Möglichkeiten der Entwicklung und Umsetzung integrierter Versorgungsmodelle im Suchtbereich diskutiert werden.
#Abstract
§ 140 SGB V is the legal basis for the development of integrated medical care structures in Germany and to carry on negotiations directly about these concepts directly with the health insurances. The main goal is a cross-linking of outpatient and inpatient treatment systems, which are strictly separated in Germany regarding financial support, in order to receive a higher efficiency of the available capabilities and to increase quality of medical supply by reducing cost at the same time. We present the rationale and the practical implementation of an integrated medical care model about individualized, interdisciplinary, qualified outpatient alcohol withdrawal treatment and discuss the project by considering general possibilities of development and implementation of integrated medical care models in addiction medicine.
Schlüsselwörter
Integrierte Versorgung - Alkoholismus - Abhängigkeit - ambulante Entzugsbehandlung - Versorgungsmodelle
Einleitung und Grundlagen
Der § 140 SGB V dient als gesetzliche Vorgabe, um integrierte Versorgungsnetze zu entwickeln und diese direkt mit den Krankenkassen als Kostenträger zu verhandeln. Das Modell der integrierten Versorgung soll die Versorgung von Patienten mit definierten Krankheitsbildern durch eine bessere Verknüpfung ambulanter und stationärer Strukturen verbessern. Weiterhin gelten als Ziele, Abläufe in der Behandlung und Betreuung von Patienten zu optimieren, die Versorgungsqualität zu verbessern, Ressourcen und Spezialisierungen optimal zu nutzen und möglichst Kosten bei gleicher oder erhöhter Effizienz zu senken. Dabei können die Krankenkassen ca. 1 % des stationären und ambulanten Budgets zur Finanzierung etwaiger Projekte zurückbehalten. Die Testphase läuft bis 2007. Parallel finden in Europa bis 2010 ähnliche Programme statt. Aus Sicht der Kostenträger (Gesetzliche Krankenversicherung: GKV) kann die integrierte Versorgung gem. §§ 140a ff. SGB V im Bereich der Psychiatrie ein wichtiges Steuerungsinstrument zur Entwicklung psychiatrischer Versorgungsstrukturen werden. Insbesondere sollen über Jahrzehnte gewachsene und etablierte Strukturen im Gesundheitswesen kritisch infrage gestellt und Einsparpotenziale erkannt werden. Eine nicht ausreichend abgestimmte Patientenversorgung, Doppeluntersuchungen, fehlende Leistungsorientierung bzw. Vergütung ohne Qualitätskontrolle, die starre sektorale Trennung von ambulant und stationär, verkrustete Strukturen oder Schnittstellenproblematiken verhindern aus Sicht der GKVen effizientere und doch kostengünstigere Versorgungssysteme. Den Problemen durch starre sektorale Aufgaben- und Budgetverteilung versuchte der Gesetzgeber bereits mit dem GRG ab 1.1.2000 zu begegnen. Wegen diverser organisatorischer und rechtlicher Probleme wurden jedoch in den Jahren 2000 bis 2003 nur wenige integrierte Versorgungen realisiert. Erst mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2004 wurden wichtige juristischen Hürden abgebaut und gleichzeitig wirtschaftliche Anreize zur Realisierung integrierter Versorgungen geschaffen.
Seit Einführung der integrierten Versorgung (IV) kam es zu zahlreichen Aktivitäten aller medizinischen Fachrichtungen (ambulant und stationär), da letztendlich nur jene Ärzte bzw. Krankenhäuser die zurückbehaltenen Gelder wieder erhalten, die sich entsprechend an IV-Projekten beteiligen. Ein elementares Ziel der integrierten Versorgung ist die Versorgung „aus einem Guss” oder „Hand in Hand”, also eine innovative Regelversorgung durch den Aufbau von kompetenten Versorgungsverbünden und Vernetzungen inklusive Überwindung der stationären und ambulanten Grenzen. Gerade die Psychiatrie leidet unter einer unzureichenden Vernetzung mit anderen Fachdisziplinen. Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) besteht aufgrund der fehlenden Verknüpfung von Hausärzten, Fachärzten, psychologischen und ärztlichen Psychotherapeuten, Krankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen ein erheblicher Bedarf an Projekten im Bereich der integrierten Versorgung. Aus diesem Grund entwickelt die DGPPN derzeit evidenzbasierte Rahmenkonzepte bezüglich der häufigsten Erkrankungen (Depression, Schizophrenie, demenzielle Erkrankungen und Alkoholismus), die die weitere Schaffung von IV-Modellen erleichtern sollen [1]. Zudem hat die DGPPN eine Auflistung der derzeitig geplanten, sich in Verhandlung befindlichen oder bereits initiierten IV-Projekte erstellt, die jedoch bei sehr schwer zu erhaltenden Informationen nicht immer den aktuellen Stand wiedergeben kann (siehe auch http://www.dgppn.de/aktuell/integr_versorgung.htm).
Der Einbezug von Suchterkrankungen in die Entwicklung der Rahmenkonzepte durch die DGPPN stellt einen besonders erfreulichen Faktor dar, wenn man bedenkt, dass Suchterkrankungen nicht ausreichend in der psychiatrischen und nervenärztlichen ambulanten Versorgung repräsentiert sind. Neben den stationären Therapieangeboten existiert für Patienten mit Suchterkrankungen oder abhängigem Verhalten zumeist nur die Möglichkeit, sich in hausärztliche Betreuung zu begeben, da sich nur wenige psychiatrische Fachärzte auf Suchterkrankungen spezialisieren oder entsprechende Angebote in ausreichendem Umfang vorhalten. Weitere Anlaufstellen bilden ambulante Beratungs- und meist nichtärztlich geführte spezialisierte Therapieeinrichtungen, die wiederum zumeist die medikamentösen Entzugs- oder rückfallverhindernden Therapien nicht selbst durchführen. Zudem existieren kaum einheitliche Absprachen oder Leitlinien bezüglich der Beratung, der akuten Therapiemöglichkeiten sowie Entwöhnung oder Rückfallprophylaxe, die einen gemeinsamen Standard festlegen. Verschiedene Sichtweisen und Suchtmodelle erschweren die Kommunikation und führen häufig statt zu einer effektiven Vernetzung mit klaren Behandlungspfaden zu individuellen von der Institution oder von Personen abhängigen Therapiemodellen, die einer engen Vernetzung mit optimierten, möglichst unkomplizierten Übergängen im Wege stehen. Vor allem ambulante und teilstationäre innovative Angebote, die eine enge Zusammenarbeit aller an der Suchthilfe Beteiligten benötigen, können daher zumeist gar nicht, oder nur langsam entwickelt bzw. umgesetzt werden. Die praktische Umsetzung eines solchen vernetzten Projektes im Bereich der Alkoholabhängigkeit soll daher beispielhaft im Folgenden skizziert und diskutiert werden.
#Rationale für den Ausbau teilstationärer bzw. ambulanter Angebote für den qualifizierten Alkoholentzug
In Deutschland gibt es ca. 1,6 Millionen alkoholabhängige Menschen. Weitere 2,7 Millionen Menschen betreiben einen schädlichen Gebrauch und 5 Millionen sind durch einen riskanten Konsum gefährdet, eine Alkoholabhängigkeit oder alkoholbedingte Folgeerkrankungen zu entwickeln [2]. Die Alkoholabhängigkeit stellt somit eine der häufigsten Erkrankungen in unserer Gesellschaft dar. Alkoholbedingte Folgeerkrankungen, Behinderungen und Fehlzeiten belasten das Gesundheitssystem und damit die ganze Gesellschaft. Die alkoholbedingten Gesamtschäden werden auf eine Höhe von ca. 20 Mrd. € geschätzt [3]. Neben zahlreichen akuten Komplikationen entstehen langfristig teure chronische Folgererkrankungen (Übersicht bei Singer und Theyssen [4]), die nur durch eine konsequente und frühzeitige Therapie im Rahmen von eng miteinander verzahnten ambulanten und stationären Angeboten zu verringern wären [2]. Schaut man sich an, in welchen ärztlichen Einrichtungen Patienten mit Alkoholismus unabhängig von einer suchtspezifischen Behandlung am häufigsten zu finden sind, so wird die Problematik der derzeitigen Alkoholismustherapie schnell deutlich. Ca. 80 % der Patienten kommen mit hausärztlich tätigen Ärzten in Kontakt. 34,5 % der Patienten werden stationär in Allgemeinkrankenhäusern aufgenommen. In psychiatrische, spezialisierte Suchtabteilungen gelangen dagegen nur 3,1 % der Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit. Fachkliniken führen sogar bei nur bei ca. 1,7 % der Patienten Entwöhnungsbehandlungen durch. Auch in Fachberatungsstellen findet man letztendlich mit 7 % nur einen sehr geringen Anteil aller Patienten mit Alkoholproblemen [2]. Somit nehmen unter 10 % der Patienten mit Alkoholismus die eigentlich qualifizierten und auf die Beratung und Behandlung von Suchtpatienten spezialisierten Einrichtungen in Anspruch. Häufig befinden sich die Patienten aufgrund sekundärer Probleme im Krankenhaus und bei niedergelassenen Ärzten, die zwar vorübergehend die sekundären Symptome (gastrointestinale Beschwerden, Schlafstörungen etc.) lindern, nicht aber die Sucht als primäre Ursache behandeln können [5]. Allein durch eine adäquate Aufklärung über die Suchtproblematik wäre es nach bisherigen Erfahrungen möglich, ca. 25 % dieser Patienten einer suchtspezifischen Behandlung zuzuführen [6]. Dabei würden insbesondere zunächst ambulante oder teilstationäre Angebote vom Patienten bevorzugt und angenommen werden.
#Spezielle Situation der stationären Entzugsbehandlungen in Berlin
Für Berlin bestand die besondere Situation, dass zur Darstellung der tatsächlich für die KK anfallenden Kosten durch Alkoholentzüge auf sehr gute epidemiologische Daten zurückgegriffen werden konnte. Zwischen 1993 und 1999 wurden in einer umfassenden Erhebung Daten aller Patienten erfasst, die mit der Hauptdiagnose einer Alkoholabhängigkeit (303 ICD9) stationär in 74 Berliner Krankenhäusern aufgenommen wurden [7]. Danach wurden durchschnittlich jährlich 400 männliche und 100 weibliche Patienten pro 100 000 Einwohner stationär aufgrund einer Alkoholabhängigkeit behandelt (durchschnittlich 244 Fälle pro 100 000 Einwohner im Jahr 1999): Das bedeutet ca. 8000 - 9000 Entzugsbehandlungen/Jahr für ganz Berlin. Die Behandlungen erfolgten in Berlin zu 23 % in Allgemeinkrankenhäusern, zu 40 % in psychiatrischen Kliniken und zu 30 % in als „Suchtfachabteilungen” ausgewiesenen Zentren, wobei sich im Gegensatz zur gesamtdeutschen Situation aufgrund der Berliner Besonderheiten hier auch zwei internistische Krankenhäuser auf die Behandlung alkoholabhängiger Patienten spezialisiert hatten und somit der Anteil an qualifizierten Entgiftungsangeboten im Vergleich zu anderen Städten und Regionen deutlich höher ist. Bis 1993 war die Alkoholabhängigkeit die fünfthäufigste Aufnahmediagnose für stationäre Krankenhausaufenthalte in Berlin und fiel danach auf Rang 10. Bezogen auf männliche Patienten blieb die Alkoholabhängigkeit jedoch weiterhin die vierthäufigste Hauptdiagnose und für die Gruppe der 15 - 45-jährigen Männer blieb Alkoholismus sogar die häufigste Hauptdiagnose stationärer Therapien in Berliner Krankenhäusern.
#Ambulante/teilstationäre Therapie
Für die langfristige Therapieprognose und Rückfallreduktion ist u. a. die Erhaltung bzw. Verbesserung sozialer Strukturen und die Einbeziehung dieser in die Therapie sehr wichtig [8] [9]. Ambulante bzw. teilstationäre Therapieformen haben hier eine besondere Bedeutung, da der Patient prinzipiell im Rahmen seines Umfeldes therapiert wird und nicht einfach nur für die Zeit der stationären Therapie aus diesem Umfeld herausgenommen wird. Ziel ist, dass der Patient lernt, auch in seinem teilweise „suchterhaltenden” Umfeld die Abstinenz aufrecht zu erhalten. Die Beachtung von Rückfällen für eine langfristige Therapieplanung setzt ein erweitertes medizinisches ambulantes Angebot voraus, dass - um die Kosten zu senken - mehrfache stationäre Entgiftungen und Kriseninterventionen, soweit möglich, verhindern soll. Erfahrungen mit ambulanten Entzugs- und Entwöhnungsbehandlungen sind durchaus positiv [10] [11] [12]. Soweit solche Strukturen vereinzelt vorhanden sind, arbeiten sie jedoch zumeist unterfinanziert oder im Rahmen von Modellprojekten oder Sonderförderungen [13].
#Individualisierter interdisziplinärer, qualifizierter, ambulanter (teilstationärer) Alkoholentzug: ein Vertrag zur integrierten Versorgung nach § 140b SGB V
Das hier skizzierte Projekt wurde als IV-Vertrag im Mai 2005 zwischen der DAK Berlin und der Charité - Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Charité Mitte als primäre Vertragspartner abgeschlossen.
#Ziele
Im Zuge des hier vorgestellten IV-Projektes soll für Patienten mit Alkoholproblemen ein optimiertes interdisziplinäres, intensiviertes, individualisiertes, standardisiertes Angebot einer ambulanten bzw. teilstationären qualifizierten Entzugsbehandlung unter Einbindung weiterer Kooperationspartner geschaffen werden. Als wesentliches Ziel wurde definiert, die Behandlungs- und Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Die Behandlung soll dadurch gekennzeichnet sein, dass die Betroffenen möglichst ohne lange Wartezeit Hilfe erhalten aufgrund klar geschaffener Strukturen und Vernetzungen von niedergelassenen Haus- und Nervenärzten, Beratungsstellen, psychologischen Therapeuten und Kliniken bzw. Versorgungszentren. Somit können Aufgabenteilungen durchgeführt werden, Informationen lückenlos und schnell übermittelt werden und durch ein unmittelbares ambulantes Versorgungsangebot stationäre Aufenthalte vermieden oder zumindest reduziert werden. Die teilstationäre oder ambulante Therapie soll vor allem den Bezug zum sozialen Umfeld und der Arbeitsstätte erhalten. Durch definierte Nachsorgetermine soll zudem die Compliance bezüglich rückfallverhütender Maßnahmen erhöht werden. Weitere Ziele sind die Reduktion von Fehlbelegungen in Kliniken, ohne spezifische Suchttherapieangebote, die Entwicklung von Komplexpauschalen zur angemessenen und wirtschaftlichen Vergütung der erbrachten Leistungen, die Etablierung umfassender Qualitätssicherungsmaßnahmen unter Einschluss einer qualitätsbezogenen Dokumentation sowie die Kostenersparnis durch Verlagerung von nicht notwendigen stationären Entzügen in den ambulanten Entzug und die Übernahme der Gesamtverantwortung der Leistungserbringer für die vereinbarten Behandlungskomplexe zur Verbesserung der interdisziplinären Kooperation.
Als Zielgruppen gelten Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit oder einem erheblichen Missbrauch und Patienten mit stationären Mehrfachentgiftungen, die die Kriterien für eine ambulante oder teilstationäre Entgiftung erfüllen. Die Zuweisung erfolgt über Hausärzte, Fachärzte, Beratungsstellen, Betriebsärzte, Psychotherapeuten, Klinikambulanzen bzw. Notaufnahmen oder auch die Krankenkasse selbst (Abb. [1]).
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Abb. 1 Übersicht über Zuweisungs- und Behandlungsabläufe innerhalb des IV-Projektes ambulanter bzw. teilstationärer Alkoholentzug.
Therapiebausteine (Modulsystem)
Erster Schritt im Vertragsangebot ist die ambulante Beratung und Motivation von Patienten mit Alkoholproblemen. Bei Motivation und Indikation kann direkt eine rasche und umfassende Diagnostik alkoholassoziierter psychischer Störungen erfolgen. Der interdisziplinäre Ansatz erlaubt die unmittelbare Durchführung suchtspezifischer internistischer Basisdiagnostik (Labor, Ultraschall-Abdomen). Kernstück ist dann die direkt anschließende Organisation und Durchführung eines qualifizierten ambulanten bzw. teilstationären Alkoholentzuges. Im Rahmen der qualifizierten Entzugsbehandlung werden regelmäßig Arztkontrolltermine, therapeutische und motivierende Gespräche, die Teilnahme an einer ambulanten Suchtgruppe und eine sozialpsychiatrische Beratung bei Bedarf angeboten.
Für die Durchführung der Therapie und die Vereinfachung der Kooperation mit den verschiedenen Leistungserbringern wurden verschiedene Therapiebausteine im Sinne eines Modulsystems entwickelt (siehe Tab. [1]). Hierbei war es möglich, die Erfordernisse bezüglich der Qualifikation und der benötigten Ressourcen klar zu definieren und möglichst vielen verschiedenen Berufsgruppen und Fachrichtungen die Möglichkeit zu geben, sich an den Modulen zu beteiligen und damit auch Leistungen abrechnen zu können. Auch die Interdisziplinarität spiegelt sich dort wieder. Neben den ambulanten Vorgesprächen haben die Hausärzte hier die Möglichkeit, die Patienten nach einer somatischen Basisabklärung direkt an den nächsten Leistungserbringer (z. B. Klinikambulanz, Praxis, Versorgungszentrum) zu vermitteln, die dann direkt bei entsprechender Motivation die psychiatrische Diagnostik und Therapie durchführen können. Unterschiedliche Leistungserbringer können sich im Anschluss aktiv an der Nachbetreuung beteiligen bzw. ihnen wird der Patient direkt aufgrund der bestehenden Vernetzung weitergeleitet.
Modul Erstgespräch/Motivationsgespräch | beinhaltet Information, Diagnosesicherung und Motivation bzw. Indikationsstellung stationär oder ambulant inklusive eventuelle Weiterleitung in stationäre Therapie bei vorhandenen Kontraindikationen |
Modul Basisdiagnostik bei Entzugswunsch | psych. Komorbidität, EKG, Labor mit BB, Transaminasen, Krea, Elektrolyte |
Modul erweiterte internistische Abklärung | beinhaltet Ultraschall-Abdomen; durchzuführen bei auffälligem klinischen Tastbefund im Oberbauch, erhöhten Transaminasen oder reduzierter Leberleistung |
Modul qualifizierte ambulante Entzugsbehandlung | beinhaltet ambulante bzw. tagesklinische Behandlung mit Problemanalyse, Beratung, Diagnostik und Therapieeinleitung inkl. aller ambulanten oder teilstationären medizinischen Maßnahmen und Medikation im Rahmen der Alkoholentzugsbehandlung exklusive stationäre Therapie |
Modul Komplikationen im ambulanten Entzug mit nachträglicher stationärer Aufnahmeindikation | gilt für Einzelfälle, in denen nachträglich eine (verkürzte) stationäre Aufnahme nötig wird, z. B. nach epileptischen Anfällen, Herzrhythmusstörungen, Elektrolytentgleisungen, Pankreatitis oder anderen ambulant nicht ausreichend überwachbaren Komplikationen |
Die Module können einzeln von Vertragspartnern erbracht und abgerechnet werden. |
Patienteninformation und -motivation
Durch verschiedene Maßnahmen werden potenzielle Patienten auf das Projekt aufmerksam gemacht. Dazu zählen u. a. Informationsveranstaltungen (Arzt-Patient), regelmäßige Mitteilungsblätter durch den Versicherer, Anzeigen in Tageszeitungen und lokalen Zeitschriften sowie Information der Hausärzte durch wiederholte Rundschreiben der Krankenkasse.
#Qualitätssicherung
Die integrierte Versorgung fordert ein strenges Qualitätsmanagement. Zur Einhaltung der Strukturqualität werden daher im Rahmen des Projektes die personellen sowie die räumlichen und anderweitigen materiellen Ressourcen von den Leistungsanbietern gestellt. Die Prozessqualität wird durch die Erstellung einheitlicher Behandlungsalgorithmen und inhaltlicher Prozessvorgaben gesichert. Die Ergebnisqualität wird im Rahmen einer regelmäßigen Dokumentation und Nachbeobachtung erfasst. Zusätzlich werden Anforderungen an die Leistungserbringer zur Durchführung der einzelnen Module gestellt. Generell müssen Leistungserbringer ausgewiesene Kenntnisse in der Diagnostik, Beratung, Betreuung und Behandlung alkoholbedingter Störungen und regelmäßige Teilnahme an suchtspezifischen Weiterbildungsveranstaltungen nachweisen.
#Dokumentation und Evaluation
Es wird eine ausführliche Dokumentation der Behandlung und des Verlaufes in der Katamnese durchgeführt. Die vollständige Dokumentation wird in einer zentralen Datenbank gesammelt. Bei jedem Patienten erfolgt eine katamnestische Untersuchung bzw. telefonische Befragung 3 Monate nach Therapieende bezüglich der anschließend durchgeführten Entwöhnungsmaßnahmen, Besuch von Suchtgruppen, Suchtdruck und eventuellen Rückfällen.
#Diskussion
Aufgrund der besseren Übersichtlichkeit und der bisher fehlenden Erfahrung mit größeren umfassenden Projekten sollte sich das hier vorgestellte IV-Projekt zunächst auf die Optimierung einer qualifizierten interdisziplinären Diagnostik, Beratung und akuten Entzugsbehandlung beschränken. Langfristig wäre bei positiver Erfahrung der Ausbau eines kompletten interdisziplinären ambulanten Versorgungsangebotes für Patienten mit Alkoholismus oder anderen Suchterkrankten denkbar, das neben der akuten qualifizierten Entgiftungstherapie auch die Entwöhnung, die Rückfallprophylaxe und vor allem die Frühintervention als wichtige Pfeiler der Therapie enthält [14]. Auch die Prävention sollte in einem zweiten Schritt inhaltlich berücksichtigt werden. Dazu müssen alle Vertragspartner (Leistungserbringer und Krankenkassen) stetig und gemeinsam anhand der mitgeführten Evaluation eine sinnvolle Ausweitung des IV-Versorgungsangebotes auf langfristige ambulante Therapieangebote, insbesondere die medikamentöse bzw. soziotherapeutische Rückfallprophylaxe, prüfen.
Verschiedene Vorteile des Konzeptes können aufgeführt werden, die so bisher nicht flächendeckend in bestehenden Versorgungssystemen für Patienten mit Alkoholismus enthalten sind. So handelt es sich um ein niederschwelliges und in vielen Fällen unmittelbar greifendes Angebot, für das eine gute Erreichbarkeit (Sofortkontakt) eine erhebliche Bedeutung hat. Es erfolgt neben der interdisziplinären Diagnostik auch eine umfangreiche Therapieaufklärung. Ein möglichst neutraler Behandlungsort soll einen diskreten Umgang mit der Krankheit und der Therapie ermöglichen. Alle akut notwendigen Hilfsmöglichkeiten sind zunächst zumindest an einer Stelle oder später evtl. auch an mehreren ausführenden Zentren vorhanden. Alle krankheitsspezifischen notwendigen Untersuchungsangebote sind standardisiert vorhanden. Die Kriterien der Qualitätssicherung und Anforderungen an die Leistungserbringer sind klar und für alle ersichtlich definiert.
Rasch wurden bezüglich der Durchführung und Vernetzung jedoch auch Probleme auf verschiedensten Ebenen deutlich. Zunächst war das Misstrauen zwischen den möglichen Leistungsanbietern hoch und bedurfte zahlreicher vertrauensbildender Maßnahmen. Die Therapiedurchführung mit Vorgabe von definierten Standards im Rahmen der Qualitätssicherung traf auf verschiedenste, schon lange bestehende Modelle und Auffassungen, wie eine Entgiftungsbehandlung erfolgen sollte. Die Erfahrungen mit einer zunehmenden Patientenzahl führt jedoch zu einer wachsenden Sicherheit im gegenseitigen Umgang und zu einer wachsenden produktiven Diskussion über gemeinsame Leitlinien als Standards.
Ein weiterer Engpass ist, dass hausärztlich tätige Kollegen sich mit einer zunehmenden Zahl von Projekten auseinandersetzen müssen, wobei der finanzielle Benefit nicht immer sofort klar ersichtlich ist. Weiterhin ist es praktisch kaum möglich, an allen für die Projekte notwendigen Qualitätszirkeln und Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen. Hier muss sich in Zukunft zeigen, ob auch Gewichtungen oder Spezialisierungen bezüglich der allgemeinmedizinischen Versorgung entstehen.
Bisher sind insgesamt nur wenige IV-Projekte in der Psychiatrie und speziell im Suchtbereich tatsächlich umgesetzt worden. Dabei wären im Suchtbereich zahlreiche IV-Modelle denkbar, z. B. für Medikamenten- oder Heroinabhängigkeit, da sich die Behandlungen gut standardisieren und vom Umfang her definieren lassen. Auch für die interdisziplinäre Behandlung von Komorbiditäten (HIV und HCV) böten sich IV-Modelle an. Während bei Fortbestehen des Modells der integrierten Versorgung Projekte im Bereich Medikamentenabhängigkeit nach einigen Rückmeldungen der Kostenträger möglich erscheinen (aufgrund der hohen stationären Liegezeit), so ist bisher bei illegal Drogenabhängigen kein Interesse bei Krankenkassen zu sehen. Hierin zeigt sich auch ein generelles Problem der IV-Vertragsverhandlungen: Während die Ärzteschaft alle Krankheitsbilder und Patientengruppen „optimiert” behandeln und interdisziplinär versorgen möchte, so sind die verschiedenen Krankenkassen bisher aufgrund von Analysen nur an Angeboten für spezielle Patientengruppen interessiert. Dabei handelt es sich primär um in der KK sehr häufig vertretene Patientengruppen (z. B. Diabetiker, Herzkranke etc.) bzw. um Kollektive, die hohe Kosten verursachen und bei denen man langfristig sparen möchte. Da die IV-Projekte bisher aber auch werbewirksam sind, kann gerade erwünscht sein, für geringfügig Kranke oder sogar eher gesunde Patienten ein Angebot zu schaffen, das die KK für diese „Low-risk”-Gruppe interessant macht. Als Folge dieser sehr unterschiedlichen möglichen Zielgruppen ergab sich ein schwer berechenbarer Wechsel von „Wünschen” mancher KK, für welche psychiatrischen Patienten nun ein Angebot entwickelt werden sollte.
In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist die erhebliche personelle und finanzielle Vorleistung zur Entwicklung von IV-Projekten, die auch bei Vertragsabschluss nur nachträglich vergütet werden, wenn dieses extra vereinbart wird. Weder niedergelassene Ärzte noch Krankenhäuser können diese Leistung zeitlich oder finanziell ohne erhebliche persönliche Opfer erbringen bei einer bisher extrem hohen Rate an Ablehnungen. Vorabsprachen mit Krankenkassen sind zumeist unverbindlich, wobei ein anderer Anbieter bzw. ein Konkurrenzantrag sowie ein plötzlicher Strategiewechsel aufgrund personeller Veränderungen im Management der KK zu frustrierenden Fehlinvestitionen führen kann. Im Rahmen des laufenden Projektes müssen dann die personellen sowie die räumlichen und anderweitigen materiellen Ressourcen von den Leistungsanbietern gestellt werden. Das ist nur bei schon bestehenden Strukturen oder ausreichenden Fallzahlen rentabel. Gerade für niedergelassene Ärzte ist es kaum möglich, ständig verfügbare Zusatzstrukturen zu schaffen, sodass hier Kliniken oder größere Versorgungszentren die besten Voraussetzungen haben. Solange jedoch die Krankenkassen einzeln die Verträge und nicht im Kollektiv abschließen, erscheinen ausreichende Fallzahlen in vielen Projekten nicht erreichbar. Für den Leistungserbringer besteht zudem das Risiko, dass eine Zwischenevaluation zu einem verfrühten Abbruch des Projektes führt. Schließlich bleibt auch unklar, wie die weitere Finanzierung nach Ablauf der „Testphase” 2007 aussehen wird.
Trotz der hier aufgeführten Schwierigkeiten könnten erfolgreich abgeschlossene IV-Projekte in der Psychiatrie und insbesondere im Suchtbereich zeigen, inwieweit sie als Modelle in Richtung einer pauschalisierten Vergütung in der psychiatrischen Versorgung dienen könnten. Dazu müssten die KK jedoch viel häufiger als bisher IV-Verträge mit psychiatrischen Leistungserbringern abschließen.
#Literatur
- 1 DGPPN. Rahmenkonzept - Integrierte Versorgung: Depression. Nervenarzt. 2005; 76 103-125
- 2 Mann K. Neue ärztliche Aufgaben bei Alkoholproblemen. Deutsches Ärzteblatt. 2002; 99 B515-521
- 3 Küfner H, Kraus L. Epidemiologische und ökonomische Aspekte des Alkoholismus. Deutsches Ärzteblatt. 2002; 99 A936-A945
- 4 Singer M V, Teyssen S. Alkoholassoziierte Organschäden. Deutsches Ärzteblatt. 2001; 98 A2109-2120
- 5 Wienberg G. Versorgungsstrukturen von Menschen mit Alkoholproblemen in Deutschland - eine Analyse aus Public Health-Perspektive. Mann K Neue Therapieansätze bei Alkoholproblemen Lengerich/Berlin/Riga/Rom/Wien/Zagreb; Pabst Science Publishers 2002: 17-45
- 6 Heinz A, Batra A. Neurobiologie der Alkohol- und Nikotinabhängigkeit. Stuttgart; Kohlhammer 2003
- 7 Sieber E, Binting S, Willich S N. Stationäre Entzugsbehandlungen von Patienten mit der Diagnose Alkoholismus in Berlin (1993 - 1999). Gesundheitswesen. 2002; 65 81-89
- 8 Miller W R, Wilbourne P L. Mesa Grande: a methodological analysis of clinical trials of treatments for alcohol use disorders. Addiction. 2002; 97 265-277
- 9 Berglund M, Thelander S, Salaspuro M. et al . Treatment of alcohol abuse: an evidence-based review. Alcohol Clin Exp Res. 2003; 27 1645-1656
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- 11 Soyka M, Horak M, Löhnert B. et al . Ambulante Entgiftung Alkoholabhängiger. Nervenheilkunde. 1999; 18 147-152
- 12 Soyka M, Clausius N, Hohendorf G. et al . Ambulante Entgiftung mit Carbamazepin und Tiapridex - medizinische Sicherheit und Ergebnisse einer Follow-up-Untersuchung. Suchtmedizin in Forschung und Praxis. 2004; 4 307-311
- 13 Soyka M. Ambulante Entziehung und Entwöhnung Alkoholkranker. Neue Konzepte und Ergebnisse der Therapieforschung. Bayrisches Ärzteblatt. 2004; 2 80-83
- 14 Maylath E, Schwoon D R, Degkwitz P. et al . Früherkennung und Kurzintervention in Hausarztpraxen und Allgemeinkrankenhäusern. Psychoneuro. 2005; 31 331-336
PD Dr. Martin Schäfer
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin, Kliniken-Essen-Mitte, Ev. Huyssenstift
Henricistr. 92
45136 Essen
Email: m.schaefer@kliniken-essen-mitte.de
Literatur
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PD Dr. Martin Schäfer
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin, Kliniken-Essen-Mitte, Ev. Huyssenstift
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Abb. 1 Übersicht über Zuweisungs- und Behandlungsabläufe innerhalb des IV-Projektes ambulanter bzw. teilstationärer Alkoholentzug.