Z Sex Forsch 2006; 19(2): 154-158
DOI: 10.1055/s-2006-933505
Kommentar

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Abschied vom „echten” Transsexuellen

Zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005[1] Sophinette Becker1
  • 1Institut für Sexualwissenschaft, Klinikum der Universität, Frankfurt am Main
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Publication Date:
10 July 2006 (online)

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat mit Beschluss vom 6. Dezember 2005 die Regelung des Transsexuellengesetzes (TSG) für verfassungswidrig erklärt, der zufolge bei Transsexuellen ohne Personenstandsänderung eine Vornamensänderung bei Eheschließung wieder rückgängig gemacht wird (§ 7 Abs. 1 Nr. 3), und zwar „solange homosexuell orientierten Transsexuellen ohne Geschlechtsumwandlung eine rechtlich gesicherte Partnerschaft nicht ohne Verlust des nach § 1 des Transsexuellengesetzes geänderten Vornamens eröffnet ist” (Wortlaut des Beschlusses, Punkt 1).

In dem Verfahren ging es um folgenden Fall: Eine nicht operierte Mann-zu-Frau-Transsexuelle[2] hatte nach einer Vornamensänderung (gemäß § 1 TSG) ihre Lebenspartnerin, mit der sie aus ihrer Sicht eine gleichgeschlechtliche Beziehung führte, geheiratet. Daraufhin entzog ihr das Standesamt entsprechend § 7 Abs. 1 Nr. 3 TSG[3] den weiblichen Vornamen. Die Mann-zu-Frau-Transsexuelle legte dagegen mehrere Rechtsmittel ein. Schließlich setzte das Landgericht Itzehoe das Verfahren aus und hat den § 7 Abs. 1 Nr. 3 TSG „dem Bundesverfassungsgericht […] zur Entscheidung über dessen Verfassungswidrigkeit vorgelegt”[4].

Das Bundesverfassungsgericht holte Stellungnahmen ein vom Bundesministerium des Innern, vom Deutschen Familiengerichtstag, von der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS), vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD), von der Ökumenischen Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche (HuK), von der Deutschen Gesellschaft für Transsexualität und Intersexualität (dgti) sowie vom Sonntags-Club, einem Berliner Verein von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen.

Die Stellungnahmen des Bundesinnenministeriums und des Deutschen Familiengerichtstages zeugen von keinerlei Kenntnis der Vielfalt transsexueller Entwicklungen und sind von der Befürchtung geprägt, gleichgeschlechtliche Beziehungen könnten der Ehe gleichgestellt werden bzw. den Anschein einer Ehe erwecken. Entsprechend erklärten beide mit wenig überzeugenden Argumenten § 7 Abs. 1 Nr. 3 TSG für verfassungskonform. In den Stellungnahmen aller anderen befragten Organisationen dagegen wurde diese Bestimmung des TSG als verfassungswidrig bezeichnet. Dieser Auffassung hat sich das BVerfG angeschlossen, wobei es sich in der Begründung seines Urteils im Wesentlichen auf die Stellungnahme der DGfS im Rahmen dieses Verfahrens (Becker et al. 2004) sowie auf eine grundsätzliche Stellungnahme der DGfS zur Reform des TSG (Becker et al. 2001) bezieht.

Der BVerfG-Beschluss[5] affirmiert durchaus die Sonderstellung der Ehe einschließlich deren Schutz vor „dem Anschein ihrer Öffnung […] auch für gleichgeschlechtliche Partner” (Abs.-Nr. 58). Dieses „legitime Gemeinwohlziel” (Abs.-Nr. 56) dürfe aber nicht in das Recht eines nicht operierten homosexuell orientierten Transsexuellen eingreifen, sowohl einen seinem empfundenen Geschlecht entsprechenden Vornamen zu führen als auch eine rechtlich abgesicherte Partnerschaft (nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz) einzugehen. Das bestehende Recht zwinge ihn (oder sie) dazu, „entweder auf eine rechtliche Absicherung seiner partnerschaftlichen Verbindung zu verzichten, um sich so seine Identität im Namen zu erhalten, oder die Ehe einzugehen, damit jedoch auf seine geschlechtliche Identität im Namen [zu] verzichten” (Abs.-Nr. 53).

Der BVerfG-Beschluss fordert den Gesetzgeber zu einer gesetzlichen Neuregelung auf, für die drei Möglichkeiten aufgezeigt werden:

die ersatzlose Streichung des § 7 Abs. 1 Nr. 3 TSG, die Änderung des Personenstandsrechts dahingehend, dass auch ein nach §§ 1 ff TSG „anerkannter Transsexueller ohne Geschlechtsumwandlung rechtlich dem von ihm empfundenen Geschlecht zugeordnet wird” (Abs.-Nr. 72), eine Ergänzung des Lebenspartnerschaftsrechts in dem Sinne, dass unoperierte homosexuell orientierte Transsexuelle eine Lebenspartnerschaft eingehen können.

Während die vorherige und die jetzige Bundesregierung die überfällige Reform des TSG verschleppt haben bzw. verschleppen[6], hat das BVerfG er-μkannt, dass „die dem Transsexuellengesetz zugrunde liegenden Annahmen über die Transsexualität […] sich inzwischen in wesentlichen Punkten als wissenschaftlich nicht mehr haltbar erwiesen” haben (Abs.-Nr. 63). Das BVerfG betont dabei folgende Aspekte:

„Ein operativer Eingriff als Voraussetzung für die Änderung der Geschlechtszugehörigkeit wird in der Fachwissenschaft zunehmend als problematisch beziehungsweise nicht mehr für haltbar erachtet” (Abs.-Nr. 25). „So erachtet es die Fachwelt auch bei einer weitgehend sicheren Diagnose ‚Transsexualität’ nicht mehr als richtig, daraus stets die Indikation für geschlechtsumwandelnde Maßnahmen abzuleiten” (Abs.-Nr. 66). „Die These vom Durchgangsstadium, in dem sich der Transsexuelle mit ‚kleiner Lösung’ hin zur ‚großen Lösung’ befinde, ist damit nicht mehr tragfähig. Für die unterschiedliche personenstandsrechtliche Behandlung von Transsexuellen mit und ohne Geschlechtsumwandlung sieht die Fachliteratur deshalb keine haltbaren Gründe mehr” (Abs.-Nr. 66). Durch die Erkenntnisse über die Vielfalt sexueller Orientierungen bei Transsexuellen sei auch die frühere Auffassung des BVerfG (von 1978) überholt, „der männliche Transsexuelle wünsche keine homosexuellen Beziehungen, sondern suche einen heterosexuellen Partner […]. Mithin kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Hinwendung eines Transsexuellen zum gleichen Geschlecht seine Transsexualität infrage stellt” (Abs.-Nr. 67). „Aus der sexuellen Orientierung eines Menschen kann […] nicht auf seine empfundene Geschlechtlichkeit geschlossen werden. Heiratet ein nicht operativ veränderter Mann-zu-Frau-Transsexueller eine Frau, lässt dies deshalb nicht den Schluss zu, dass er sich wieder dem seinen Geschlechtsmerkmalen entsprechenden Geschlecht zugehörig fühlt” (Abs.-Nr. 54).

Das BVerfG wertet das „empfundene Geschlecht” als Kriterium für die rechtliche Bestimmung der Geschlechtszugehörigkeit gegenüber den bisher allein ausschlaggebenden äußeren Geschlechtsmerkmalen deutlich auf. Damit hat das BVerfG eine den Stand der wissenschaftlichen Diskussion reflektierende Entscheidung gefällt, die die Vielfalt transsexueller Entwicklungen anerkennt und den Paradigmenwechsel (Entkoppelung der Diagnose Transsexualität von der Indikation zu geschlechtstransformierenden Operationen bzw. des Geschlechtswechsels vom Wunsch nach operativen Maßnahmen) nachvollzieht. Der Beschluss des BVerfG ist nicht zuletzt auch eine Ohrfeige für das Bundesministerium des Innern bzw. eine Rüge für die anhaltende Weigerung der Bundesregierungen, das TSG zu reformieren, obwohl ihnen qualifizierte Vorschläge vorlagen[7]. Durch den BVerfG-Beschluss ist jetzt immerhin ein gewisser Handlungsdruck entstanden.

Als wir in der Stellungnahme der DGfS zur Reform des TSG die „vollständige Abkoppelung der juristischen Anerkennung im gewünschten Geschlecht von operativen Eingriffen” (Becker et al. 2001: 267) forderten, gingen wir nicht davon aus, dass diese Forderung in absehbarer Zeit als geltendes Recht durchsetzbar sein würde. Der Beschluss des BVerfG ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Auflösung der Zwangsverbindung von Geschlechtswechsel und „geschlechtsumwandelnden” Operationen. Selbst bei einer defensiven Reaktion des Gesetzgebers (mit der zu rechnen ist) ist es jetzt nur mehr eine Frage der Zeit, bis die Personenstandsänderung ohne operative Veränderung der äußeren Geschlechtsmerkmale möglich sein wird.

Dies würde insbesondere die Situation vieler Mann-zu-Frau-Transsexueller enorm erleichtern, weil es ihnen mehr Spielraum für eine individuelle Lösung ihrer spezifischen Transsexualität ließe[8]. Für Frau-zu-Mann-Transsexuelle würde sich zunächst nichts ändern, weil die für sie im Zusammenhang mit der Personenstandsänderung relevante somatische Zwangsmaßnahme (die Entfernung des Uterus aufgrund des Gebots der Fortpflanzungsunfähigkeit nach § 8 Abs. 1 Nr. 3) in dem BVerfG-Verfahren nicht behandelt worden ist. Es scheint mir aber aussichtsreich, auch dies noch durchzusetzen; das dadurch tangierte Tabu, das die Gebärfähigkeit unauflöslich an das Frausein koppelt, ist durch die rasante Entwicklung der Reproduktionsmedizin längst ins Wanken geraten.

Die Aufgabe der nosologischen Entität „Transsexualität” zugunsten einer Vielfalt von Transsexualitäten ist vom BVerfG aufgenommen worden. Nur Fundamentalisten[9] halten noch an der „echten” („genuinen”, „wirk-μlichen”) Transsexualität fest, die per definitionem stets mit dem Wunsch nach geschlechtstransformierenden Operationen verbunden sei[10].

Die Relativierung geschlechtstransformierender Operationen als der einzigen „Lösung” für Transsexuelle ändert nichts an der Tatsache, dass diese Operationen nach wie zur Linderung des Leidensdrucks eines Teils der Transsexuellen dringend indiziert sind. Befürchtungen, der BVerfG-Beschluss könnte dazu führen, dass die Krankenkassen keine geschlechtstransformierenden Operationen mehr bezahlen müssen, halte ich für unbegründet, da die entsprechenden sozialrechtlichen Regelungen davon nicht betroffen sind, Transsexualität nach wie vor als eine Krankheit im Sinne der RVO gilt und die individuelle Indikation zu somatischen Maßnahmen auch sonst in der Medizin vielfach üblich ist. Vielmehr erhoffe ich mir, dass die verbreitete ungute Vermengung von juristischer Anerkennung im Wunschgeschlecht mit der Indikation zu somatischen Maßnahmen aufgelöst werden wird.

Auch wenn der Beschluss des BVerfG erfreulich ist, sollte man ihn doch nicht überschätzen: Weder ist dadurch die - von den einen als Menschenrechtsverletzung oder als essenzialistischer Irrglaube, von den anderen als Fundament unserer abendländischen Kultur bewertete - zweigeschlechtliche Ordnung aus den Angeln gehoben worden, noch ist der Beliebigkeit des Geschlechtswechsels dadurch Tür und Tor geöffnet. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat nicht mehr und nicht weniger getan, als die Entwicklung sexualwissenschaftlicher Erkenntnisse der letzten 25 Jahre nachzuvollziehen.

1 BVerfG, 1 BvL 3/03 vom 6.12.2005, http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20051206_1bvl1000303.html

Literatur

  • 1 Becker S. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Antwort auf die Kritik an den „Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen”.  Z Sexualforsch. 1998;  11 155-162
  • 2 Becker S. Transsexualität - Geschlechtsidentitätsstörung. In: Kockott G, Fahrner EM (Hrsg). Sexuelle Störungen. Stuttgart, New York: Thieme, 2004; 153-202
  • 3 Becker S, Berner W, Dannecker M, Richter-Appelt H. Stellungnahme zur Anfrage des Bundesministeriums des Innern (V 5 a-133115-1/1) vom 11. Dezember 2000 zur Revision des Transsexuellengesetzes.  Z Sexualforsch. 2001;  14 258-268
  • 4 Becker S, Berner W, Preuss W, Sigusch V. Stellungnahme zur Anfrage des Bundesverfassungsgerichts (Erster Senat, 1 BvL 3/03) zum Aussetzungs- und Vorlagebeschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe vom 26.3.03. Frankfurt am Main und Hamburg, 11. Mai 2004 (unveröffentl.)
  • 5 [BVerfG] Bundesverfassungsgericht. BVerfG, 1 BvL 3/03 vom 6.12.2005.  http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20051206_1bvl000303.html

1 BVerfG, 1 BvL 3/03 vom 6.12.2005, http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20051206_1bvl1000303.html

2 Der empfundenen Geschlechtszugehörigkeit entsprechend ist von „sie” die Rede, obwohl sie rechtlich noch ein Mann ist, da keine Personenstandsänderung nach § 8 TSG erfolgt ist.

3 „Die Entscheidung, durch welche die Vornamen des Antragstellers geändert worden sind, wird unwirksam, wenn […] der Antragsteller eine Ehe schließt, mit der Abgabe der Erklärung nach § 1310 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs.”

4 Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Landgerichts Itzehoe vom 26. März 2003, Az. 4 T 497/02

5 Die den folgenden Zitaten in Klammern hinzugefügten Zahlen bezeichnen die jeweilige Absatz-Nummer des BVerfG-Beschlusses.

6 1980 wurde das TSG im Anschluss an die richtungsweisende Entscheidung des BVerfG von 1978 verabschiedet. Seitdem wurde das Gesetz bereits durch mehrere (von der Rechtsanwältin Maria Sabine Augstein erstrittene) Urteile des Bundesverfassungsgerichts korrigiert:
- Das Mindestalter von 25 Jahren für die Personenstandsänderung wurde aufgehoben (1982).
- Das Mindestalter von 25 Jahren für die Vornamensänderung nach § 1 wurde aufgehoben (1993).
- Der Anspruch auf die Anrede Herr/Frau entsprechend der Vornamensänderung wurde bestätigt (1996).
Die rot-grüne Bundesregierung hatte eine Reform des TSG versprochen. Sie hat dieses Versprechen aber nicht eingehalten. Das Bundesinnenministerium hat im Jahr 2000 eine Anfrage an wissenschaftliche Fachgesellschaften, einzelne Wissenschaftler sowie an Selbsthilfeorganisationen gerichtet, die eingegangenen Stellungnahmen jedoch bis heute nicht ausgewertet. Die derzeitige CDU/SPD-Regierung hat auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag geantwortet, wegen großer anderer zeitlicher Belastungen sei die Revision des TSG auf unbestimmte Zeit verschoben worden.

7 Der aktuellste Vorschlag, der die Positionen der DGfS und die des BVerfG aufgenommen hat und sie um wichtige, insbesondere ausländerrechtliche Aspekte ergänzt hat, findet sich beim LSVD (http://typo3.lsvd.de/fileadmin/pics/Dokumente/Recht/TSG.pdf). Dort wird auch auf zwei derzeit beim BVerfG anhängige Verfahren gegen die Begrenzung der Anwendbarkeit des TSG auf deutsche Staatsangehörige verwiesen.

8 Zur Vielfalt transsexueller Entwicklungen bei Mann-zu-Frau-Transsexuellen und der entsprechenden individuellen Indikation somatischer Maßnahmen vgl. Becker 2004.

9 Zu diesen zählen nicht nur manche Chirurgen und die ICD, sondern auch eine elitäre Selbsthilfeorganisation, nämlich der selbst ernannte „Zentralrat der Transsexuellen”, der Transsexuelle ohne Operationswunsch als „minderwertige Falsifikate” bezeichnet.

10 Dies wird auch den von mir mitverfassten „Standards zur Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen” (1997) vorgeworfen, meines Erachtens jedoch nur zum Teil zu Recht (vgl. Becker 1998: 157, Fußn. [4]).

Dipl.-Psych. S. Becker

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