Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/s-2006-939482
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Selbstverletzungen - Borderline-Störungen bleiben in der Praxis oft unentdeckt
Publication History
Publication Date:
03 April 2006 (online)
Borderline-Erkrankungen sind in der Bevölkerung zwar häufig, werden aber im primärärztlichen Bereich nur in rund der Hälfte der Fälle korrekt diagnostiziert. Im Interview erläutert PD Dr. med. Romuald Brunner, leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni Heidelberg, wie sich diese Persönlichkeitsstörung in der Praxis am besten erkennen lässt.
Warum ist in letzter Zeit immer häufiger von der Borderline-Störung zu hören?
Brunner: Bei Jugendlichen hat in den letzten Jahren das selbstschädigende Verhalten zum Beispiel durch Aufritzen der Unterarme oder anderer Körperregionen deutlich zugenommen. Zwar kann man daraus nicht schließen, dass auch die Borderline-Störungen zugenommen haben, allerdings ist selbstschädigendes Verhalten ein häufiges Zeichen bei Borderline-Erkrankungen, die dadurch auch mehr Aufmerksamkeit erhalten.
Ist die erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber Borderline-Störungen gerechtfertigt?
Brunner: Die Borderline-Störung hat unter den Persönlichkeitsstörungen eine herausragende Stellung. Borderline-Störungen präsentieren sich von allen Persönlichkeitsstörungen mit den dramatischsten Auffälligkeiten. Es kann zu Suizidversuchen, heftigen Wutausbrüchen oder massiven Selbstverletzungen kommen, die dann rasche Hilfe erfordern. Dagegen treten andere Persönlichkeitsstörungen klinisch viel weniger in Erscheinung. Menschen mit einer ängstlichen Persönlichkeitsstörung leben zum Beispiel zurückgezogener, aber keiner schickt sie deshalb gleich zum Arzt. Ähnliches gilt auch für schizoide Persönlichkeiten, die oft als eigenwillige oder merkwürdige Menschen wahrgenommen werden, ohne dass die Umwelt möglicherweise stark darunter leidet.
Zudem ist die Borderline-Störung unter allen Persönlichkeitsstörungen diejenige, die am häufigsten psychiatrische beziehungsweise psychotherapeutische Interventionen erfordert. Rund 1,6 bis 1,8% leiden in der Allgemeinbevölkerung unter einer Borderline-Störung, was eine etwa doppelt so hohe Prävalenz darstellt wie bei schizophrenen Erkrankungen.
Dabei sollte man nicht vergessen, dass durch Borderline-Störungen sehr hohe Kosten entstehen. Zum Beispiel durch intensivmedizinische Maßnahmen nach einem Suizidversuch. Im Gegensatz zu schweren depressiven Störungen, bei denen es vielleicht ein einziges Mal im Rahmen einer depressiven Episode im Leben zu einem Suizidversuch kommt, durchzieht die Suizidalität bei Borderline-Patienten oft das ganze Leben. Einige werden wegen Suizidversuchen mehr als 20 Mal auf Intensivstationen aufgenommen. Und wenn ein Intensivbett 1500 Euro am Tag kostet, dann verursacht das enorme Kosten. Es gibt Berechnungen, wonach die Ausgaben für die Versorgung der Borderline-Erkrankung wohl bald die Ausgaben bei schizophrenen Patienten übersteigt.
Warum werden Borderline-Patienten in der ärztlichen Primärversorgung oft nicht erkannt? Angeblich wird nur bei 42% eine korrekte Diagnose gestellt.
Brunner: Wenn ein Borderline-Patient zum Beispiel wegen eines Suizidversuchs oder einer Selbstverletzung zum Arzt kommt, wird teilweise nur der eine Suizidversuch oder die einzelne Selbstverletzung isoliert betrachtet. Für eine umfassende Diagnostik bleibt in der täglichen Routine oft zu wenig Zeit. Ohne eine Ganzkörperuntersuchung fallen zum Beispiel alte Narben von früheren Schnittverletzungen, die den Verdacht auf eine Borderline-Störung lenken könnten, nicht auf. Häufig wird auch nicht exploriert, ob extrem starke Stimmungsschwankungen vorhanden sind, ob eine chronische Suizidalität vorliegt, ob schwere Kontakt- und Beziehungsstörungen mit vielfachem Abbruch von persönlichen Beziehungen vorhanden sind, ob häufig ein Gefühl der Leere oder Depressionen bestehen, die in ihrer Kombination dann auf eine Borderline-Störung hindeuten können.
Grundsätzlich sollte man aber auch betonen, dass eine umfassende psychiatrische Exploration und die Einleitung entsprechender Therapien, nicht die vordringliche Aufgabe von Allgemeinmedizinern oder Chirurgen ist, sondern dies eher durch ein psychiatrisches Konsil erfolgen sollte, was allerdings unzureichend häufig in die Wege geleitet wird.
Bei welchen Symptomen sollte man hellhörig werden und an eine Borderline-Störung denken?
Brunner: Es gibt kein einzelnes Zeichen, das für die Borderline-Störung pathognomonisch wäre. Entscheidend ist vielmehr das Zusammentreffen verschiedener Kriterien. Hellhörig sollte man zum Beispiel werden, wenn folgende drei Leitsymptomatiken gemeinsam vorliegen: Erstens Selbstdestruktivität wie zum Beispiel repetitives Ritzen. Zweitens extrem starke Stimmungsschwankungen innerhalb kurzer Zeit, zum Beispiel ein Kippen zwischen euphorischer, normaler und schwer depressiver Stimmung. Und drittens starke Kontakt- oder Identitätsprobleme. Der Verdacht auf eine Borderline-Störung erhärtet sich dann insbesondere, wenn die Problematik schon ein bis zwei Jahre dauert und nicht im Sinne einer akuten oder posttraumatischen Belastungsstörung bei einer aktuellen Krise auftritt, die zum Beispiel infolge einer einschneidenden Lebensveränderung, einem schweren Verkehrsunfall oder im Zuge einer lebensbedrohlichen körperlichen Erkrankung, zum Beispiel einer Krebserkrankung, auftreten kann.
Wie oft verbirgt sich hinter repetitivem Ritzen eine Borderline-Störung?
Brunner: Dazu gibt es keine Studien. Bekannt ist nur, dass zirka 70% der Borderline-Patienten Selbstverletzungen zeigen. Umgekehrt steckt bei schwerem repetitivem Ritzen vielleicht in einem Drittel eine Borderline-Erkrankung dahinter. Allerdings sollte man bei repetitiven Selbstverletzungen auf jeden Fall psychotherapeutische Hilfe anbieten, unabhängig ob ein Borderline-Syndrom oder eine andere Störung vermutet wird.
Wie sollen sich Ärzte beim Verdacht auf eine Borderline-Störung verhalten?
Brunner: Am wichtigsten ist es, nicht mit Vorwürfen zu reagieren. Das kann natürlich im Einzelfall schwierig sein, wenn ein Borderline-Patient zum fünften oder zehnten Mal mit Selbstverletzungen zum Nähen kommt oder man deshalb wieder mal um drei Uhr nachts aufstehen muss. Ähnlich wie bei Schizophrenie- oder Magersuchtpatienten darf man den Betroffenen aber die Symptomatik auch bei einer Borderline-Störung nicht zum Vorwurf machen.
Grundsätzlich sollte man die Patienten mit der Problematik eher konfrontieren, als die Schwierigkeiten totzuschweigen. Natürlich nicht im Sinne einer massiven Konfrontation. Zum Beispiel kann man den Leidensdruck vorsichtig ansprechen. Oft empfiehlt es sich, auf Nebenschauplätzen zu beginnen. Grundsätzlich sollte man sich als Arzt eher trauen, solche Problematiken anzusprechen und nicht sagen, das kann man dem Patienten nicht zumuten. Meist wollen sich Ärzte das selbst nicht zumuten, während die Patienten das schon aushalten würden und davon ja auch langfristig profitieren.
Wenn sich eine Borderline-Patientin immer wieder selbstverletzt, kann schnell das Gefühl aufkommen "das ist völlig harmlos, das macht die doch ständig".
Brunner: Genau vor dieser Ermüdung sollte man warnen. Zwar können die Selbstverletzungen für die Betroffenen eine Entlastung darstellen, doch die Häufigkeit und Intensität von Selbstverletzungen ist ein starker Vorhersagefaktor für einen späteren Suizid und sollte deshalb unbedingt ernst genommen werden. Grundsätzlich sollte man immer im Hinterkopf behalten, dass die Gesamtsuizidrate bei Borderline-Störungen ähnlich hoch ist wie bei schweren depressiven Erkrankungen.
Wohin soll man Patienten mit einem Verdacht auf eine Borderline-Erkrankung überweisen?
Brunner: Insgesamt gibt es in Deutschland nur wenige Stellen, die auf Borderline-Erkrankungen spezialisiert sind. Prinzipiell kann man aber zu jedem Psychiater oder Psychotherapeuten überweisen. Zwar hat nicht jeder ein adäquates Behandlungskonzept für Borderline-Patienten, aber jeder wird die Diagnose stellen können und bei Bedarf weiterüberweisen.
Grundsätzlich erscheint zumindest die erste Vorstellung bei einem ärztlichen Psychotherapeuten günstiger als bei reinen Psychologen, da oft noch eine umfassende ärztliche Diagnostik und Mitbehandlung zum Beispiel mit Medikamenten erforderlich ist. Am wichtigsten erscheint aber eine für dieses Krankheitsbild qualifizierte psychotherapeutische Ausbildung.
Mit dem Begriff Borderline wollte man ursprünglich zum Ausdruck bringen, dass es sich um eine Krankheit an der Grenze zwischen Psychose und Neurose handelt. Ist diese Vorstellung noch aktuell?
Brunner: Nein. Wahrscheinlich würde man diese Erkrankung heute nicht mehr Borderline-Störung nennen. Denn die Auffälligkeiten, die bei Borderline-Patienten unter Stress auftreten können, stellen keine psychotische Entgleisung im eigentlichen Sinne dar.
Zudem zeigen Studien, dass aus Borderline-Patienten im Langzeitverlauf keine schizophrenen Patienten werden.
Das Interview führte Dr. med. Karl Eberius, Heidelberg