Notfall & Hausarztmedizin 2006; 32(3): 115
DOI: 10.1055/s-2006-939773
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Bürokratie-Bürokratismus - oder: TÜV dem Amtsschimmel?

Ulrich Rendenbach1 , Katrin Große2
  • 1Allgemeinmedizin Universität Leipzig
  • 2Universitätsklinik Dresden, Carl Gustav Carus
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Publication Date:
03 April 2006 (online)

Guten Tag Herr Doktor, meine linke Hand schmerzt so grässlich! Was können Sie da machen?” „Na, Herr Schneider, lassen Sie mal sehen!” Dieser selbstverständlich und einfach erscheinende Kontakt zwischen dem Patienten und seinem Arzt versteht sich als schlichte Bitte nach Hilfe. Gleichsam aktiviert sich ein immenses undurchschaubares Geflecht an Gesetzen, Vorschriften, Bestimmungen, Verordnungen und Erlassen gepaart mit technischen Notwendigkeiten, die Ausdruck unseres modernen Gesundheitssystems sind. Herrn Schneiders Chipkarte will bereitgehalten und eingelesen sein, die Arztpraxis den geforderten Standards genügen. Ärztliche diagnostische und therapeutische Richt- und Leitlinien wollen befolgt werden, die Dokumentation und Leistungsabrechnung muss erstellt werden und eine wirtschaftliche Bilanz will vorgelegt sein. Ohne ICD-Schlüssel ist eine Abrechnung nicht möglich, und der Patient bleibt ohne „Anschluss” an das Gesundheitssystem. Das heißt, Herr Schneider wird gleichzeitig zum „Fall”, und erst dann kann er eine medizinische Behandlung erfahren und diese verrechnet werden [1]. Damit greift das umfangreiche Arztrecht, eine Internetsuche zum Begriff Arztrecht erbringt unter Google über 1,3 Millionen Einträge.

Nun wird der Arzt in seiner Funktion als Heiler und Arbeitgeber von bürokratischen Paragraphen eingezwängt und in Schach gehalten (AVWG). Er kann seinen bürokratischen Pflichten der Praxisführung meist ohne professionelle Hilfe nicht mehr nachkommen und braucht beispielsweise zumindest die Unterstützung eines Steuerberaters. Rechts- und Sachzwänge haben sich enorm vervielfältigt. So ist das Bundesgesetzblatt seit den 50er Jahren auf 3700 Seiten angewachsen - Tendenz steigend.

Das Institut für Mittelstandsforschung in Bonn berechnete die Gesamtkosten für bürokratische Tätigkeiten von Kleinunternehmern (bis zu neun Beschäftigte) auf zirka 6020 Euro pro Arbeitnehmer und Jahr. Die zeitliche Belastung wird mit etwa 64 Stunden pro Person und Jahr angesetzt. Ärzte schätzen ihren bürokratischen Aufwand auf 30 % ihrer Arbeitszeit.

Ärztliches Handeln unterliegt nun einerseits zunehmend Wirtschaftlichkeitskriterien, die von Interessen der Versicherungen und der Politik bestimmt werden. Andererseits unterliegt es anwachsenden bürokratischen Pflichten, welche die eingeforderte Wirtschaftlichkeit unterlaufen. Ob ärztliches Handeln überhaupt nach wirtschaftlichen Aspekten beurteilt werden kann, sei dahingestellt. Nach einer Pressemitteilung der KVWL sind in den letzten Monaten von 60 bedrohten Praxen 24 in Konkurs gegangen, und 46 % aller niedergelassenen Ärzte stehen unter Bankaufsicht [4].

Das vermeintlich freie und intuitive Handeln des Arztes wird eingeschränkt. Die Arbeit am Patienten verringert sich, und die ärztlichen Interessen stellen sich in den Spagat zwischen dem Wohle der Patienten und dem Überleben der Arztpraxis. Fehlende Transparenz kann eine „Kultur des Misstrauens” befördern [1]. Hilfsmittel wie die Digitalisierung der Patientenkartei entwickeln sich nicht selten als Geister, die einmal gerufen, nicht wieder verschwinden, sondern ein ausschweifendes Eigenleben vollführen. Als Beispiel seien die Dokumentationspflichten DMP und DRG genannt oder Abrechnungsprozeduren, die sich in drei verschiedene Gebührenordnungen verzweigen. Ohne Computer ist der bürokratische Mantel, der um den Patienten und dessen Erkrankung gelegt wird, nicht mehr zu öffnen. Auch besteht die zwangsweise Mitgliedschaft in einer vom Staat autorisierten Behörde („Krankenkasse”) bis hin zu einem vorgegebenen Katalog von Leistungen, die erbracht werden dürfen.

Modellhaft beschreiben die „Parkinsonschen Gesetze” diese Entwicklung [5]: Mehr Zeit bedeutet mehr Verwaltung, die Mehrarbeit füllt stets den Zeitrahmen. Oder einfacher, moderner: ICD 10, DRG, DMP wurden eingeführt, weil die Festplatte leistungsfähiger wurde. Und: In Gremien werden nicht die wichtigen Themen besprochen, sondern die, von denen alle etwas wissen. Dies kann man bei politischen Debatten zum Thema Gesundheitswesen und deren Resultanten, zum Beispiel das Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz (AVWG) beobachten.

Weit über 100 Gesetze und mehr als 4000 Verordnungen reglementieren die Gesetzliche Krankenversicherung und das Gesundheitswesen in Deutschland. Versuche seitens der Politik, den Abbau an Bürokratie zu befördern, sind hinlänglich gemacht worden. Nur heißt es eben nicht, dass dieses Ziel zur „Chefsache” erklärt, bereits auch spürbare Verbesserungen erbringt. Bürokratie mit Bürokratie abzubauen, wird von unseren dänischen Nachbarn versucht und soll auch in Deutschland eingeführt werden. So ist ein „Bürokratie-TÜV” vorgesehen, der neuen Verordnungen und Gesetzen eine Kosten-Nutzen-Analyse vorstellt. Zu denken wäre auch an Verfallsdaten für Gesetze. Die öffentliche Diskussion wird und muss weitergehen.

Oder sollen wir unsere Praxen schließen und verzweifeln??

Literatur

  • 1 Fuchs P, Jost Bauch. Gesundheit als System. Konstanz: Hartung-Gorre-Verlag 2006
  • 2 DUDEN .Das Herkunftswörterbuch. Mannheim 1997
  • 3 Bull HP. Süddeutsche Zeitung vom 12.8.2005.  de.wikipedia.org/wiki/Max_Weber
  • 4 www.kvwl.de/presse_politik/presse/index.htm
  • 5 de.wikipedia.org/wiki/Parkinsonsches_Gesetz

Dr. med. Ulrich Rendenbach

Allgemeinmedizin Universität Leipzig

Dipl.-Psych. Katrin Große

Universitätsklinik Dresden, Carl Gustav Carus