Der Klinikarzt 2006; 35(7): 269
DOI: 10.1055/s-2006-949108
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Welchen Wert haben die neuen Reanimations-Leitlinien?

H.-R. Arntz
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
19. Juli 2006 (online)

Während die diagnostischen und therapeutischen Strategien bei akutem Koronarsyndrom schon seit vielen Jahren eine dynamische Entwicklung zeigen, war die Entwicklung zu den Vorstellungen und Methoden der kardiopulmonalen Reanimation eher von statischem Charakter. Erst in den letzten fünf bis zehn Jahren wurden auch auf diesem Sektor Durchbrüche erzielt, die völlig neue Perspektiven eröffneten - wie zum Beispiel die Einführung halbautomatischer Defibrillatoren bis selbst in die Laienebene. Eine weitere Quelle der neuen Dynamik war die Rückbesinnung auf längst Bekanntes: So schrieben die „Erfinder” der Herzlungenwiederbelebung Kouwenhoven, Jude und Knickerbocker bereits 1960 im „Journal of the American Medicinal Association - JAMA”: „If there is only one person present, (...), attention should be concentrated on the massage.”

Eine Reihe systematischer Analysen zur Realität der kardiopulmonalen Reanimation der letzten Jahre zeigte demgegenüber, dass der Anteil der Herzdruckmassage im Ablauf einer leitliniengerechten Reanimation augenscheinlich völlig unzureichend ist. Offensichtlich waren auch die bisherigen Vorgaben für die Reanimation zumal durch Laien oder Ersthelfer viel zu kompliziert, um sicher in die Tat umgesetzt zu werden. Diese wiederentdeckten und neuen Erkenntnisse waren also der Anlass für eine grundlegende Veränderung der neuen Reanimationsleitlinien, die im November 2005 in „Resuscitation” publiziert wurden und auch in deutscher Übersetzung vorliegen (Notfall- & Rettungsmedizin 2006).

Dennoch sind viele Vorgaben in den neuen Regeln keineswegs ohne jedes Fragezeichen. So entspricht zum Beispiel das 30:2-Verhältnis von Herzdruckmassage und Beatmung im Algorithmus zur Basisreanimation („basic life support”, BLS) mathematischen Modellen und ist in seiner überlegenden Wirksamkeit beim Menschen nicht bewiesen. Wir wissen zwar, dass der Vasopressor Vasopressin dem Adrenalin vermutlich nicht überlegen ist, wir wissen mangels plazebokontrollierter randomisierter Untersuchungen beim Menschen aber nicht, ob ein Vasopressor überhaupt sinnvoll ist. Ein biphasischer Schock scheint der monophasischen Energieabgabe überlegen zu sein. Wir wissen aber weder welche Schockenergie noch welche Entladungscharakteristik optimal ist. Es ist denkbar, dass viel weniger die Energie (oder Stromstärke) über den Defibrillationserfolg entscheidet als vielmehr die elektrische Charakteristik des Kammerflimmerns. Reduziert man unsere Kenntnisse über die effektiven Maßnahmen bei der Reanimation auf das, was absolut sicher nachgewiesen ist, so sind dies die „Basisreanimation”, in welcher Technik auch immer, die Defibrillation bei Kammerflimmern und schließlich der Zeitpunkt, wann diese Maßnahmen nach einem Kollaps ergriffen werden.

Wenn denn so viele Fragen noch offen sind, gilt es im Zeitalter einer evidenzbasierten Medizin zu fragen, welchen Wert die neu entwickelten Leitlinien überhaupt haben. Mehr als ein wesentlicher Schritt auf ein noch in weiter Ferne liegendes Optimum sind die neuen Leitlinien nicht. Sie sind in jedem Fall Ausgangspunkt und Vergleichsbasis für neue Methoden. Die offenen Fragen sind der Antrieb für diejenigen, die sich für die Reanimationsforschung interessieren. Der wichtigste Aspekt der neuen Leitlinien ist jedoch ohne Zweifel, dass es hoffentlich gelingt, mit deutlich vereinfachten Basismaßnahmen mehr potenzielle Ersthelfer dazu zu motivieren, rasch zu reagieren und die lebensrettenden Sofortmaßnahmen zu ergreifen.

Prof. Dr. H.-R. Arntz(Gasteditor)

Berlin

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