Z Orthop Ihre Grenzgeb 2006; 144(5): 448-451
DOI: 10.1055/s-2006-954404
Orthopädie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Tertiärprävention nach osteoporotischer Fraktur - praktische Umsetzung in der klinischen Routine als Qualitätssicherungsmaßnahme

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Dr. Michael Hirschmann

Kantonsspital Bruderholz, Klinik für Orthopädie

CH 4101 Bruderholz BL

Publication History

Publication Date:
05 October 2006 (online)

 
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Dr. Michael Hirschmann

Das Krankheitsbild "Osteoporose" ist in den letzten Jahren ins Bewusstsein der Bevölkerung gerückt. Die Fraktur nach Bagatelltrauma ist oft das erste klinische Zeichen für das Vorliegen einer Osteoporose und gleichzeitig deren schwerwiegendste Komplikation. Spätestens jetzt sollten die Patienten einer standardisierten Diagnostik und Behandlung zugeführt werden, um das Auftreten von weiteren Frakturen zu verhindern. Dies ist oberstes Ziel der Tertiärprävention.

Trotz der gesteigerten Sensibilisie-rung und des Wissens um die Notwendigkeit einer Behandlung der Osteoporose sind bei der akuten Traumaversorgung spezielle Abklärungs- oder Therapiealgorithmen noch nicht hinreichend in der klinischen Routineversorgung implementiert. Dies führt dazu, dass die große Mehrzahl der an Osteoporose Erkrankten auch nach der ersten osteoporotischen Fraktur weiterhin unerkannt und unbehandelt bleibt.

Wir beschreiben hier die praktische Umsetzung der Tertiärprävention als prozessorientierte Qualitätssicherungsmaßnahme an einer Universitätsklinik. Rolle und Aufgaben der daran beteiligten Berufsgruppen werden definiert. Schließlich werden Probleme und Widerstände bei der Umsetzung aufgezeigt und Lösungsansätze vorgestellt.

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Tertiärprävention: Warum?

Bedingt durch den demografischen Wandel machen die so genannten Altersfrakturen im Klinikalltag schon heute einen relevanten Anteil der zu versorgenden Frakturen aus. Die prognostizierte weitere starke Zunahme dieser Verletzungen wird zur medizinischen und ökonomischen Herausforderung für die Gesundheitssysteme in den kommenden Jahren. Aufgrund der bestehenden Unterdiagnostik und -therapie von Osteoporose entstehen aber nicht nur Kosten in Milliardenhöhe. Gleichzeitig geht bei den Betroffenen erhebliche Lebensqualität verloren. Das Ergreifen von prophylaktischen Maßnahmen ist daher dringend geboten. Dies insbesondere deshalb, weil wirksame Medikamente für die Behandlung der Osteoporose zur Verfügung stehen.

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DEXA-Screening nicht sinnvoll

Bei jährlichen Therapiekosten von mehreren hundert Euro und begrenzten Ressourcen müssen diese Medikamente allerdings gezielt eingesetzt werden. Beim Unterschreiten von international festgelegten Grenzwerten der mittels Doppel-Röntgen-Energie-Absorptiometrie-Technik - kurz DEXA-Methode - gemessenen Knochendichte wird zwar die Diagnose "Osteoporose" gestellt (diagnostische Schwelle), dies ist allerdings nicht automatisch mit einem Therapiebedarf gleichzusetzen (therapeutische Schwelle).

Erst durch die Kombination von mehreren Risikofaktoren - unter Einschluss der Knochenmineraldichte - ergibt sich das individuelle Risikoprofil, auf dessen Grundlage gegebenenfalls eine spezifische Pharmakotherapie empfohlen werden kann. Der Einsatz der DEXA als Screeningmethode ist daher nicht sinnvoll.

Das so genannte "Case Finding" trägt diesem Umstand Rechnung. Ziel ist es, Patienten mit einem hohen Risiko für das Erleiden einer osteoporotischen (Folge-)Fraktur zu identifizieren und einer adäquaten Diagnostik und Therapie zuzuführen. Dabei ist die erste erlittene Fraktur der stärkste prädiktive Faktor für das Erleiden von weiteren Frakturen. Je nach Lokalisation der osteoporotischen Erstfraktur steigt das Risiko für das Erleiden weiterer Frakturen um das Zwei- bis Fünffache an.

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Schlüsselrolle des Orthopäden/Chirurgen

Der Orthopäde/Unfallchirurg nimmt beim Case Finding eine Schlüsselrolle ein: Er sieht die Patienten mit Fraktur nach inadäquatem Trauma häufig als Erster. Er kann somit diejenigen Patienten identifizieren, die nach erfolgter Frakturversorgung von einer strukturierten Osteoporosediagnostik profitieren würden. Wenn sich der Verdacht der Osteoporose bestätigt, sind abgestuft präventive Maßnahmen zur Vermeidung von Folgefrakturen indiziert.

Obwohl die Begründung für das oben beschriebene Vorgehen einleuchtend und wissenschaftlich gut belegt ist, mangelt es gegenwärtig noch an der praktischen Umsetzung im Routinebetrieb in den Kliniken. Dies wird unter anderem auf einen Mangel an einfachen Algorithmen und Protokollen und damit einhergehend einem Mangel an Zeit und Ressourcen zurückgeführt.

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Rahmenbedingungen am Universitätsspital Basel für die Umsetzung der Tertiärprävention

In Basel als typischem Schweizer Stadtkanton beträgt der Anteil der über 65-jährigen Einwohner an der Gesamtbevölkerung heute schon über 20% - ein Zahlenwert, der gesamtschweizerisch erst für das Jahr 2020 vorausgesagt wird. In Basel sind wir daher schon heute mit den entsprechenden Fallzahlen an Altersfrakturen konfrontiert.

Die Kompetenz für Abklärung und Therapie der Osteoporose und ihrer Komplikationen ist am Universitätsspital Basel auf mehrere Abteilungen verteilt. Die akute Frakturversorgung wird vom Behandlungszentrum Bewegungsapparat übernommen. Die Osteodensitometrie ist in der Abteilung für Nuklearmedizin verfügbar. Die Rheumatologische Universitätsklinik mit Möglichkeit zur Osteodensitometrie ist gemeinsam mit der Orthopädischen Frührehabilitation und Geriatrie in einem eigenen, von der Universitätsklinik räumlich getrennten Gebäude untergebracht. 75% der orthopädisch-traumatologischen Patienten werden zur Rehabilitation in dieses Rehabilitationszentrum (Felix-Platter-Spital) verlegt.

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Patientenpfad

Zielgerichtete Prävention muss in geeigneten Strukturen stattfinden, um wirksam zu sein. Ein strukturiertes Behandlungsprogramm sollte die Kernelemente

  • Behandlung nach evidenzbasierten Leitlinien

  • Qualitätssicherung

  • Schulung der Leistungserbringer und Information der Patienten

  • Dokumentation und Evaluation einschließen. Im folgenden Abschnitt stellen wir den Patientenpfad vor, wie er für die Behandlung von Patienten mit osteoporotischer Frakturen am Universitätsspital Basel implementiert ist. Dabei werden die Schritte besonders herausgehoben, mit denen die oben genannten Kernelemente eines strukturierten Behandlungsprogrammes verwirklicht werden.

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Der Basler Patientenpfad

Die Notaufnahme wird zur Schlüsselstelle für die Patientenidentifikation. Alle Patienten, die neu wegen einer Fraktur zur Behandlung ins Universitätsspital Basel kommen, durchlaufen diese Abteilung. Bei Verlegung von der Notfallstation kann in jedem Fall beurteilt werden, ob der Patient die Kriterien für eine weitergehende Osteoporoseabklärung erfüllt. Die Notaufnahme ist damit der ideale Ort, um die Patienten zu identifizieren, denen eine standardisierte Osteoporoseabklärung angeboten werden sollte.

Andererseits befindet sich der Patient auf der Notfallstation immer in einer Ausnahmesituation. Die anstehende notfallmäßige Frakturbehandlung soll nicht durch die Aufklärung über die Osteoporosediagnostik oder prophylaktische Maßnahmen verzögert werden. Darüber hinaus steht in der Notaufnahme für jeden einzelnen Patienten oft nur sehr wenig Zeit zur Verfügung. Unsere Zielsetzung war es daher, für den Notfallassistenten die Aufgabe im Rahmen der Tertiärprävention auf die Patientenidentifikation zu beschränken. Zeitintensive Tätigkeiten, wie die eigentliche Aufklärung und Motivation für die notwendige Diagnostik, sollen dagegen zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.

Bei zur stationären Behandlung aufgenommenen, identifizierten Patienten werden Name, Station und Zimmernummer erfasst und nach Verlegung auf die Bettenstation der Osteoporoseschwester durch die Stationsärzte mitgeteilt. Sie sucht diese Patienten dann postoperativ auf der Station auf und nutzt so den Vorteil eines direkten Gesprächs für Information und Aufklärung. Auf diese Art wird das Kernelement "Information der Patienten" verwirklicht. Nach der Primärversorgung der Fraktur wird der Patient jetzt über die Osteoporoseproblematik und mögliche prophylaktische Maßnahmen aufgeklärt. Gleichzeitig wird dem Patienten die standardisierte weitere Abklärung angeboten. Im Austrittsbericht an die nachbehandelnde Klinik oder an den Hausarzt wird auf die von uns empfohlene Osteoporoseabklärung hingewiesen.

Nach erfolgter Osteodensitometrie werden mit dem Patienten die therapeutischen Möglichkeiten erörtert. Wir erhalten eine Kopie des Berichts. Auf diese Art ist der Informationskreis geschlossen und wir erfahren, wie viele Patienten die vorgeschlagene Abklärung wahrgenommen haben. Gleichzeitig ergänzen Befund und empfohlene Therapie die bislang schon erhobenen Patientendaten. Durch diese Maßnahmen werden die Elemente "Dokumentation und Evaluation" sowie "Behandlung nach evidenzbasierten Leitlinien" verwirklicht.

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Die verschiedenen Rollen beim Patientenpfad

Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Rollen die beteiligten Personengruppen im Rahmen des Patientenpfades einnehmen.

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Rolle des Patienten

Im Rahmen der präventiven Maßnahme soll die Compliance des Patienten dadurch erhöht werden, dass er detaillierte Informationen zu Behandlungsaufbau und -ablauf erhält. Die Rolle des Patienten bei der Therapiemitentscheidung wird durch unseren Pfad ganz bewusst betont und verwirklicht damit gleichzeitig ein weiteres Kernelement des strukturierten Behandlungsprogramms. Wegen des großen Bewusstseins in der Bevölkerung für den Themenkomplex "Osteoporose" stoßen wir mit unserem Abklärungsangebot oft auf ein schon lange bestehendes Bedürfnis.

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Rolle der Osteoporosegruppe

Eine Gruppe von Assistenz- und Oberärzten hat sich an unserer Klinik in der Osteoporosegruppe mit dem Ziel zusammengeschlossen, die Patientenerfassung sicherzustellen. Auf den Stationen sind diese Gruppenmitglieder erste Ansprechpartner bei Fragen von Kollegen, Patienten, Pflegepersonal oder Angehörigen. Außerdem wirken die Mitglieder dieser Gruppe auf die Kollegen als ständiger Motivator. Den Assistenten wird im Rahmen des Projektes ermöglicht, das Auswerten einer Densitometrie zu erlernen.

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Rolle des Pflegepersonals

Das Pflegepersonal kann während des Aufenthalts des Patienten in der Klinik entscheidend dazu beitragen, eine hohe Compliance im Hinblick auf die Abklärungsmaßnahmen zu erreichen. Daher war es für uns von Beginn an wichtig, das Pflegepersonal über die geplante Qualitätssicherungsmaßnahme zu informieren und damit gleichzeitig ein weiteres Kernelement eines strukturierten Behandlungsprogrammes "Schulung der Leistungserbringer" zu erfüllen. Andererseits sollten keine definierten Aufgaben oder Tätigkeiten aus der Tertiärprävention an das Pflegepersonal auf den Stationen delegiert werden, da es sich dabei um einen Teil der Therapie handelt.

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Rolle der Osteoporoseschwester

Das Konzept, an Kliniken die Stelle einer Osteoporoseschwester einzurichten, ist in mehreren Ländern erfolgreich umgesetzt worden. Ihre Rolle liegt im Wesentlichen in der Koordination der verschiedenen, an der Behandlung des Osteoporosepatienten beteiligten Fachdisziplinen. Durch dieses Schnittstellenmanagement wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Diagnose und Therapie der Osteoporose bis heute auf verschiedene Abteilungen verteilt sind. Darüber hinaus übernimmt sie die wichtige Aufgabe der "Patienteninformation und -schulung" wahr.

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Rolle des Hausarztes

Die Bedeutung des Hausarztes für die langfristig erfolgreiche Umsetzung der Tertiärprävention kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. So sollte der Hausarzt idealerweise auch als Motivator arbeiten, indem er den prophylaktischen Maßnahmen positiv gegenübersteht. Nur in diesem Fall werden die Patienten zur jahrelangen Einnahme von Medikamenten und zur Umsetzung der empfohlenen Maßnahmen gegen eine Erkrankung bereit sein, die sich lange Zeit relativ symptomlos weiterentwickelt.

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Probleme und Lösungsansätze

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Aufwand/Ressourcenbedarf

Um die Akzeptanz für diese Qualitätssicherungsmaßnahme beim Pflege- und Ärztlichen Personal möglichst hoch zu halten, ist es dringend geboten, den Mehraufwand für jeden einzelnen Mitarbeiter zu minimieren. Gerade in der Anfangsphase ist es aufgrund von Unsicherheiten und Fragen notwendig, dass interne Ansprechpartner, wie z.B die Osteoporoseschwester, benannt und offiziell mit der Aufgabe betraut sind.

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Assessment des Patienten

Die Vermeidung von Zweit- und Folgefrakturen und damit eine Optimierung der Behandlung von geriatrischen Patienten mit Altersfraktur erschöpfen sich nicht in der Abklärung und gegebenenfalls einer medikamentösen Behandlung der zugrunde liegenden Osteoporose. Genauso muss in bestimmten Fällen eine Sturzabklärung und Sturzprävention in Erwägung gezogen werden. Um diejenigen Patienten zu identifizieren, die solcher weitergehender Maßnahmen bedürfen, ist ein genaues Patientenassessment erforderlich, welches unter anderem Ernährungsstatus des Patienten, gegebenenfalls das Risiko für das Entwickeln eines postoperativen Delir etc. erfasst. Dem Assistenzarzt auf der Station obliegt bei der Betreuung von geriatrischen Patienten mit Fraktur die wichtige Aufgabe, eine auf den individuellen Patienten zugeschnittene Kombination der genannten Maßnahmen vorzuschlagen und umzusetzen.

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Ausblick und Ziele

Seit dem Starttermin am 1. Februar 2005 wurden bislang 915 Patienten (Durchschnittsalter 75, range 50-101, m:w=1:3) identifiziert, die für eine genaue Abklärung qualifiziert haben. Tabelle [1] eigt die erfasste Frakturverteilung. Bei 20% der Patienten erfolgte die Behandlung wegen einer Zweit- oder Folgefraktur. Eine erweiterte Diagnostik mittels DEXA erfolgte in 21% (n=192) der erfassten Patienten mit dem Ergebnis einer normalen (n=45), osteopenischen (n=75) und osteoporotischen (n=72) Knochendichte. Aufgrund der Qualitätssicherungsmaßnahme wurde bei 258 Patienten eine Basisprophylaxe mit Kalzium plus VitaminD3, und bei 88 Patienten eine Bisphosponat-Therapie eingeleitet.

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Tab. 1 Frakturverteilung des erfassten Patientenkollektives am Universitätsspital Basel

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Wissenschaftliche Studien

Durch die Etablierung eines definierten Abklärungsprozedere sollen die an Osteoporose erkrankten Patienten eine adäquate Therapie und Behandlung erhalten. Wichtig scheint es uns zu betonen, dass es sich bei diesen Bemühungen um eine Qualitätssicherungsmaßnahme handelt. Ein derart etablierter Prozess bietet allerdings optimale Voraussetzungen, um im weiteren Verlauf wissenschaftliche Fragestellungen auf dem Gebiet der Osteoporose zu bearbeiten.

Dres. Hirschmann M, Müller A, Frank M, Conzelmann M, Tyndall A, Regazzoni P, Dick W, Jakob M, Suhm N

Finanzielle Unterstützung Der Firma MSD Schweiz (Glattbrugg) wird für die Unterstützung bei der Umsetzung dieser Qualitätssicherungsmaßnahme gedankt

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Dr. Michael Hirschmann

Kantonsspital Bruderholz, Klinik für Orthopädie

CH 4101 Bruderholz BL

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Dr. Michael Hirschmann

Kantonsspital Bruderholz, Klinik für Orthopädie

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Tab. 1 Frakturverteilung des erfassten Patientenkollektives am Universitätsspital Basel