Notfall & Hausarztmedizin 2006; 32(10): 461
DOI: 10.1055/s-2006-956950
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Routine - Routinen - am routiniertesten

Ulrich Rendenbach, Katrin Große
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Publication Date:
27 November 2006 (online)

Herzzentren - wie das in Bad Rothenfelde - bilden Krankenpfleger zu „Chirurgieassistenten” aus. Zur Begründung wird auf das sehr hohe Qualitätsniveau chirurgischer Eingriffe verwiesen, das die weitergebildeten Pfleger ermöglichen. Überhaupt werde der gesamte Operationsablauf im Niveau erheblich gesteigert [1]. Warum also nicht Fachkräfte zu Spezialisten und Spezialisten zu Fachspezialisten oder Spezialisierungsspezialisten entwickeln, die flink und geübt zum gewünschten Einsatz kommen, um gestellte Aufgaben nahezu fehlerfrei zu lösen?

Immerhin lassen Erfahrung, Fertigkeit und Übung - Routine - bessere Qualität, sprich weniger Fehler vermuten. Routinen im Sinne einer Verkettung teils sehr komplizierter Handlungsabläufe stehen für Wiederholung, Standard, Gewöhnung, Kontrolle - scheinbar ohne Abnutzung und Langeweile - und versprechen Sicherheit. Es liegt nahe, dass der durch Übungen entstandene Meister über ein riesiges Potential an Fertigkeiten und Denkmodellen verfügt, die er förmlich aus dem Ärmel schüttelt. Wie im Schlafe erhebt er den körperlichen Status, bestimmt und interpretiert Laborparameter, thorakotomiert [1], überwacht Depressive [2] - gewandt, fließend, verlässlich. Selbstverständlich übernehmen Apparate auch derartige Routineabläufe: Kein modernes EKG-Gerät ohne Auswertung der Stromkurve, Lungenfunktionen mit perfektem Ausdruck des Befundes, vom Rechner gesteuerte, halbautomatische Operationsassistenten wie der da Vinci Operationscomputer oder RoboDoc.

Das gesamte ärztliche Handeln scheint von Routinen geprägt und durchwoben. Die entsprechenden Denk- und Handlungsabläufe gehören dann eben dazu, werden systemimmanent, schleifen sich ein, bilden eine Spur, formen den ausgetretenen Weg, eine Kerbe, Loipe und lassen das Bekannte wiederholen, ja machen sich unentbehrlich und wirken auch ihrer selbst wegen. Meist brauchen sie dann nicht mehr be- und hinterfragt zu werden.

Dies dürfte auch den Erwartungen des Patienten entsprechen, der auf den Routinier vertraut. Er wäre sicherlich verwundert, lüde ihn sein Arzt zu einer Partie Schach ein, anstelle sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Routinen, eingeübte Fertigkeiten beziehungsweise das Unterstellen solcher, werden offenbar vorausgesetzt. Wer möchte nicht gerne von einem erfahrenen Arzt, ja Spezialisten behandelt werden, der sich auskennt, Fehler vermeidet, die Gefahr schon im Vorfeld wittert und abwendet? Routiniert zu sein scheint somit wesentlich an die Zuschreibung der anderen gebunden: „Der kann das, der ist Profi. Der hat schon meinen Vater behandelt.” Tatsächlich erkennt das geübte Auge einen Herzinfarkt im Mantel des gewöhnlichen Thoraxschmerzes.

Routinen können auch als Zuschreibungen von Kompetenz erfolgen, die ich mir selber gebe: „Ich kann das, weil ich das gelernt und so oft gemacht habe.” Sie sind offenbar wesentlicher Bestandteil beruflichen Selbstvertrauens und verweisen auf Praktizismus und Können. Wenn ich 1000 Patienten gesehen habe, macht das doch einen Unterschied zu 10 Patienten! Arbeitshypothesen, Diagnosen und Therapieentscheidungen scheinen sicherer und schneller getroffen. Dabei lässt sich fragen, wie flexibel Routinen machen im Sinne von: Ich mache das, weil das so üblich ist, es von mir erwartet wird, sei es von Patienten, Kollegen oder Verwaltungen.

Wie kompetent sind die Geübten? Unterlaufen ihnen womöglich andere Fehler, die nicht so offensichtlich sind, sozusagen Fehler höherer Ordnung? Wie ist das, wenn der Hausarzt Husten einem Virusinfekt zuordnet, später aber ein Bronchialkarzinom vom Spezialisten gesichert wird? Oder denken wir an die mangelhafte Diagnostik im hohen Alter, einhergehend mit einer gravierend unterschätzten Erkennung von Depressionen. Routinearbeiten, so urteilen die Statistiker, sind am gefährlichsten, die Unfallzahlen sind dort am höchsten, wo Arbeitsabläufe gewohnheitsmäßig und deshalb mit verringerter Aufmerksamkeit verrichtet werden [6].

Wir dürfen uns getrost beobachten und nach Üblichkeiten abklopfen, die sich vor dem Hintergrund von Traditionen, Sitten und Wissen gebildet haben. Auch dürfen wir uns fragen, wie viel Individualität und Spielraum wir uns zugestehen. Warum also nicht das Gewöhnliche, Alltägliche, Bekannte, Eingeordnete im Kopf auf den Kopf stellen und eine Partie Schach wagen?

Because, „the strangest things seem suddenly routine!” [5].

Literatur

  • 1 Diegeler A. et al. . Bessere Qualität durch mehr Routine.  Dtsch Ärztebl. 2006;  103 1802-1804
  • 2 www.allgemeinmedizin.uni-frankfurt.de/forschung/depression .
  • 3 Wiesing U. Wer heilt, hat Recht? Über Pragmatik und Pluralität in der Medizin.  Stuttgart: Schattauer. 2004; 
  • 4 BGH vom 24. 6. 75 - VI ZR 72/74.
  • 5 suddenlyroutine.blogspot.com/ .
  • 6 www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/41480/ .

Dr. med. Ulrich Rendenbach

Allgemeinmedizin, Universität Leipzig

Dipl. psych. Katrin Große

Universität Dresden, Carl Gustav Carus