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DOI: 10.1055/s-2007-1004537
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
„Aber er hat ja gar nichts an!”
But he has Nothing On!Publication History
Publication Date:
18 January 2008 (online)
„Aber er hat ja gar nichts an!” Nichts kann schonungsloser sein als das schlichte Aussprechen einer ungeliebten Wahrheit, die allen tagtäglich vor Augen steht. Sie ist im Märchen von Kindern zu hören - denjenigen also, die das perverse System noch nicht erfasst, mürbe und mundtot gemacht hat.
Kollege Marcus Schmidt hat sich soviel Freiheit des Denkens bewahrt, dass er eine solche Wahrheit ausspricht: Die deutsche Weiterbildung zum Allgemeinarzt ist der Sargnagel des Faches Allgemeinmedizin. Sie ist so unattraktiv, dass unter den verbliebenen Weiterbildungsassistenten überwiegend Idealisten oder aber Verlierer zu vermuten sind, die freiwillig in Zeiten des Ärztemangels Phasen der Arbeitslosigkeit und der Bezahlung halber Gehälter in Kauf nehmen. Sie wird mit jeder Novelle schmalspuriger, und eine wachsende Kluft trennt immer pompösere Weiterbildungszeugnisse von einer immer tristeren Weiterbildungsrealität.
Marcus Schmidt verliert den Mut, dass sich an der Misere etwas ändern wird, denn er erkennt: Alle sind daran beteiligt - nicht nur die üblichen Verdächtigen, nein: Auch die Gesundheitspolitik und schließlich, horribile dictu, auch die eigene wissenschaftliche und berufspolitische Interessenvertretung haben den Status quo mitzuverantworten, und sei es, weil ihre bisherigen Anstrengungen nicht genügen. Die Zeit wird erweisen, ob die jüngste Bewegung auf Seiten der DEGAM - unter anderem erkennbar an der engagierten Rede des Präsidenten vor den Delegierten des zurückliegenden HÄV-Kongresses in Berlin [1]- die nötige Dynamik für den künftig erforderlichen radikalen Kurs gewinnen wird.
Es wird bisher nicht deutlich genug ausgesprochen: Das Desaster der allgemeinärztlichen Weiterbildung ist eine entscheidende Ursache für das dramatische Fehlen des allgemeinärztlichen Nachwuchses. Denn die Wahl junger Familienväter und -mütter zwischen der Weiterbildung zum internistischen Hausarzt, der auf einem Ticket von der ersten bis zur letzten Haltestelle durchfährt, und derjenigen zum allgemeinmedizinischen Hausarzt, der mehrere Tickets kaufen, dabei Wartezeiten und Verluste hinnehmen muss und am Ende sogar weniger weit kommt (Verdienstmöglichkeiten), diese Wahl muss mit erdrückender Mehrheit zugunsten der internistischen Route ausfallen, und daran können auch Ärztetagsresolutionen oder PR-Veranstaltungen zugunsten der Allgemeinmedizin nichts ändern. Doch der Internist lernt zu viel (für teuer Geld), was er als Hausarzt nicht brauchen kann, und zu vieles nicht, was er als ein solcher dringend brauchen würde.
Schmidts Argumente, dies sei am Rande bemerkt, erscheinen nicht alle gleich stark. Manches - wie die Schere zwischen Weiterbildungsalltag und Weiterbildungsordnung - gilt für die ärztliche Weiterbildung allgemein, womit ein neues, freilich nicht weniger explosives Fass geöffnet wird. Anderes wirkt widersprüchlich, wie die (wenig überzeugende) Klage über 10-jährige Weiterbildungszeiten Alleinerziehender neben der (berechtigten) Forderung nach Integration eines breiteren Fächerspektrums. Doch sollten wir uns von Feinheiten nicht ablenken lassen: Schmidts Diagnose stimmt.
Die Wunde, in die Kollege Schmidt seinen Finger legt, ist eine chronische, und der Beifall, den seine mündlichen Ausführungen auf dem diesjährigen DEGAM-Kongress nach sich zogen, sollte ihn nicht täuschen: Seine Analyse ist in der Sache gut bekannt [1] [2] und seine spontane Wahl zum stellvertretenden Sprecher der DEGAM-Sektion Weiterbildung auf dem genannten Kongress ist nicht gleichbedeutend mit allseitiger Zustimmung zu den von ihm geforderten, durchgreifenden Konsequenzen. Berufsverband und Fachgesellschaft versäumen es seit Jahren, die Wunde Weiterbildung in gebotener Lautstärke zu benennen und ihre radikale Heilung zur obersten Priorität zu machen.
Das zuvor erwähnte aktuelle Engagement der DEGAM ist ein Hoffnungsschimmer und die vom Präsidenten geforderte Zentralisierung der Gelder aus dem Initiativprogramm [1] würde zweifellos eine punktuelle Verbesserung des Status quo bedeuten - doch die Wurzel der von Kollegen Schmidt aufgezeigten Missstände bleibt davon unberührt. Auch die von der DEGAM beworbene Lösung der Weiterbildungsverbünde [1] [3] [5] ist sicherlich ehrenwert, doch sie setzt auf Freiwilligkeit, kleine Schritte und langfristige Entwicklung. Insgesamt verkennt die DEGAM mit solchen symptomatischen Verbesserungsvorschlägen, dass die Weiterbildungsmisere der Allgemeinmedizin kein Betriebsunfall ist, sondern Ausdruck eines jahrzehntelangen Machtkampfs, in dem die Allgemeinmedizin immer mehr an Boden verloren hat und ohne Eingriff von außen weiter verlieren wird [4]. Die Bedrohung ist so existenziell, dass die DEGAM, beschränkt sie sich auf noch so gut gemeinte Bemühungen im Rahmen des heute Machbaren, im Ergebnis ungewollt den Totengräbern der Allgemeinmedizin unter die Arme greift, da solche Vorschläge - wie Analgetika und Zuwarten beim akuten Bauch - den Blick auf die erforderliche chirurgische Therapie verstellen.
Schmidts Therapieempfehlung trifft dagegen den Nagel auf den Kopf - und ist dabei so einfach: Die entscheidende Weichenstellung ist ein Systemwechsel in der Finanzierung der allgemeinärztlichen Weiterbildung, dergestalt, dass der allgemeinärztliche Weiterbildungsassistent sein gesamtes, durch obligate Umlagen aller potenziellen Weiterbilder und Zuschüsse der Krankenkassen aufgebrachtes sowie an zentraler Stelle (z. B. den Landesärztekammern) verwaltetes Gehalt seinem Weiterbilder mitbringt. Mit einem Schlag verkehren sich dadurch die Fronten, sodass die Weiterbilder, welche qua Umlage so oder so zahlen müssen, größtes Interesse gewinnen, dafür auch einen „kostenlosen” Assistenten zu bekommen - es entsteht ein Wettbewerb um Weiterbildungsassistenten über die Qualität der Weiterbildung. Gleichzeitig ist dies eine strukturelle Vorbedingung für die unumgängliche Einbeziehung auch einiger „kleiner” Fächer in die allgemeinmedizinische Weiterbildung [4]. Nichts anderes leistet das vom Präsidenten der DEGAM dankenswerterweise referierte [1] holländische Modell, das durch eine zentrale Gesamtfinanzierung der allgemeinärztlichen Weiterbildung (nicht nur durch die Zentralisierung eines Zuschusses!) gekennzeichnet ist. Stimmen aus den eigenen Reihen, die jetzt rufen, ein solcher Systemwechsel sei bei uns „nicht möglich” oder „nicht machbar”, mögen ihrer gleichlautenden Rufe in den 90er-Jahren zur Frage der Finanzierbarkeit von Weiterbildung durch die Krankenkassen gedenken, welche durch die wundersame Einführung des Initiativprogramms ebenso wundersam verstummten.
Die Blöße ist unübersehbar - und unerträglich. Die notwendige radikale Finanzierungsreform der allgemeinärztlichen Weiterbildung kann nur von Seiten der Gesundheitspolitik erfolgen, sie ist conditio sine qua non für die Aufrechterhaltung unseres Fachs - und für die nicht minder gebotene Verbreiterung des Pflicht- und Wahlfachkanons zur angemessenen Qualifizierung künftiger Primärärzte. Berufsverband und Fachgesellschaft sind aufgerufen, sich für diese grundlegende Reform einzusetzen - nicht irgendwie, sondern vereint und mit aller Kraft, nicht irgendwann, sondern jetzt. Ihre Mitglieder sollten sie mit Nachdruck daran erinnern.
Literatur
- 1 Kochen MM. Strukturelle Ansätze zur Lösung der Weiterbildungsprobleme im Fach Allgemeinmedizin. Z Allg Med. 2007; 83 437-430
- 2 in der Schmitten J, Helmich P. Weiterbildung Allgemeinmedizin: Ärzte müssen die Initiative ergreifen. Dt. Ärzteblatt. 2000; 97 A-976-A-979
- 3 Heinrich W, Czypionka B, Baum E, Donner-Banzhoff N. Weiterbildungsverbünde Allgemeinmedizin in Deutschland - eine Bestandsaufnahme. Z Allg Med. 2004; 82 441-445
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4 in der Schmitten J, Helmich P. Weiterbildung Allgemeinmedizin: Qualifizierung für die primärärztliche Versorgung.
Entwicklung, Gegenwart und Perspektiven der allgemeinmedizinischen Weiterbildungsordnung in Deutschland . Schattauer Verlag, Stuttgart 2000 - 5 Vorschlag der DEGAM . Weiterbildung Allgemeinmedizin: Die Verbundlösung. http://www.degam.de/alt/weiterbildung/rotation.htm , (Zugriff 26.11.2007)
Korrespondenzadresse
Dr. med. J. in der SchmittenMPH
Abteilung für Allgemeinmedizin
Universitätsklinikum
Düsseldorf
Postfach 10 10 01
40001 Düsseldorf
Email: Juergen.inderSchmitten@med.uni-duesseldorf.de