Der Klinikarzt 2007; 36(12): 676-677
DOI: 10.1055/s-2007-1021782
Recht

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Je dringlicher der Eingriff, desto kürzer die „Bedenkzeit” - Beim Zeitpunkt der Aufklärung medizinischen Erfordernissen Rechnung tragen

Isabel Häser
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Korrespondenz

Dr. iur. Isabel Häser

Rechtsanwältin Ehlers, Ehlers & Partner

Widenmayerstraße 29

80538 München

Email: i.haeser@eep-law.de

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Publication Date:
07 January 2008 (online)

Table of Contents

Auch wenn das Aufklärungsgespräch grundsätzlich gesehen spätestens einen Tag vor einem elektiven Eingriff stattfinden sollte - ein deutlich kürzerer Zeitrahmen kann durchaus erlaubt sein, ohne die für den Patienten geforderte Entscheidungsfreiheit und damit dessen Selbstbestimmungsrecht zu beschneiden. Denn nicht nur wenn eine Verzögerung der Operation mit großer Wahrscheinlichkeit zum Tod des Patienten führen würde, kann man von einer „Notfalloperation” sprechen. Schon wenn bei einer Verschiebung des Eingriffs auf den nachfolgenden Tag gewichtige Komplikationen zu befürchten sind oder sich die Heilungschancen deutlich verschlechtern, muss der Patient die Möglichkeit haben, sich für einen umgehenden Eingriff zu entscheiden. Konkret bedeutet dies: Je dringlicher der Eingriff ist, umso kürzer kann auch der Zeitraum zwischen Aufklärung und Operation sein.

Die Aufklärung über die Risiken eines Eingriffs ist wichtig, damit der Patient aus freiem Willen in die geplante Operation einwilligen kann. Darüber sind sich Ärzte und Patienten einig. In der Theorie klingt dies alles ganz einfach, in der Praxis sehen sich Operateure und Anästhesisten hier immer wieder größeren und kleineren Problemen gegenüber. Wann zum Beispiel ist der richtige Zeitpunkt für die Aufklärung gekommen? Erfolgt diese nämlich zu spät, kann das einen Aufklärungsfehler und damit eine Schadensersatzpflicht des Arztes bzw. des Krankenhauses auslösen.

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Grundsatz: Aufklärung spätestens ein Tag vor dem Eingriff

Der Bundesgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung den Grundsatz aufgestellt, dass der Patient vor dem beabsichtigten Eingriff so rechtzeitig aufgeklärt werden muss, dass er durch hinreichende Abwägung der für und gegen den Eingriff sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahren kann. Daher fordert die Rechtsprechung regelmäßig, den Patienten spätestens am Vortag vor dem Eingriff über die Risiken aufzuklären. Was aber heißt dies in den Fällen, in denen aufgrund der Indikation nicht mehr so viel Zeit bleibt?

Hierzu hat nun noch einmal das Oberlandesgericht München in einem Urteil vom 21.09.2006 (Aktenzeichen: 1 U 2175/06) ausführlich Stellung genommen. Auch nach der Rechtsprechung lässt sich der Zeitpunkt der rechtzeitigen Aufklärung nicht generell, sondern nur unter Berücksichtigung der im Einzelfall gegebenen Umstände bestimmen. Das Aufklärungsgespräch muss grundsätzlich unter Berücksichtigung dieser Umstände so frühzeitig wie nötig erfolgen, um den erforderlichen Rechtsgutschutz des Selbstbestimmungsrechts zu erreichen. Wichtig ist, dass der Patient noch ausreichend Gelegenheit hat, sich innerlich frei für oder gegen den Eingriff zu entscheiden.

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Aber: Medizinischen Erfordernissen ist Rechnung zu tragen!

Das Oberlandesgericht München stellt erfreulich realistische Überlegungen an und verweist in seinem Urteil auf die medizinischen Erfordernisse, denen eben auch Rechnung zu tragen ist. Bei dringlichen Operationen werde der Patient regelmäßig ein weitaus höheres Interesse an einer umgehenden Durchführung des Eingriffs haben als an der Einhaltung einer formalen Bedenkzeit von mindestens 24 Stunden.

Dementsprechend kann bei Notfällen und Sonderlagen eine Aufklärung am Tag vor der Operation nicht verlangt werden, das ist auch in der Rechtsprechung anerkannt. Unter bestimmten Umständen sei vielmehr ein deutlich kürzerer Zeitraum zwischen der Risikoaufklärung und der Durchführung des Eingriffes zulässig.

Im konkreten Fall war die Aufklärung einen oder mehrere Tage vor der Operation nicht möglich. Die Notwendigkeit und Dringlichkeit des Eingriffes ergab sich erst am Morgen der Operation aufgrund der erhobenen Befunde. Unmittelbar nach der Stellung der Diagnose und der Bejahung der Operationsindikation führte der Arzt das Aufklärungsgespräch mit der Patientin. Die Aufklärung wurde nach Auffassung des Gerichts daher weder unnötig herausgezögert noch die Bedenkzeit der Patientin ohne medizinische Notwendigkeit verkürzt. Sie erfolgte - obwohl sie erst etwa vier Stunden vor der Operation stattfand - vielmehr zum frühestmöglichen Zeitpunkt und damit rechtzeitig.

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Notfalloperation auch bei Befürchtung gewichtiger Komplikationen

Denn eine Notfalloperation, bei der aus medizinischen Gründen eine kürzere Zeitspanne zwischen Aufklärung und Eingriff hingenommen werden muss, könne nicht nur angenommen werden, wenn eine Verzögerung der Operation mit großer Wahrscheinlichkeit zum Tode des Patienten führt. Sind bei einer Verschiebung des Eingriffs auf den nachfolgenden Tag gewichtige, unter Umständen sogar lebensbedrohliche Komplikationen zu befürchten, müsse der Patient die Möglichkeit haben, sich für einen umgehenden Eingriff zu entscheiden.

Es könne nicht angehen, dass ein Patient, der unverzüglich operiert werden kann und will, das Risiko einer nachhaltigen Verschlechterung seines Zustandes in Kauf nehmen müsse, damit ihm ein Tag Bedenkzeit zur Verfügung steht. Auch könne es nicht Aufgabe des Arztes sein, dem Patienten die Dringlichkeit des Eingriffes zu erläutern, damit dieser eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen kann, ohne anschließend dem Wunsch des Patienten und dem medizinisch Gebotenen Rechnung tragen zu können. Eine solche formale Betrachtungsweise würde weder den Interessen des Patienten noch denen des Arztes gerecht werden. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten würde bei einer solchen Konstellation geradezu auf den Kopf gestellt.

Welcher Zeitraum zwischen Aufklärung und Operation liegen muss, hinge somit davon ab, wie dringlich der anstehende Eingriff sei. Verschlechtern sich die Heilungschancen eines Patienten deutlich oder besteht die Gefahr gewichtiger Komplikationen, könne und müsse der Arzt den Eingriff sogar unverzüglich vornehmen. Unter Umständen riskiere er sogar den Vorwurf eines groben Behandlungsfehlers, wenn er die Operation erst am Folgetag durchführe und sich zwischenzeitlich die genannten Risiken verwirklichen.

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Umfang der Aufklärung

Auch im Hinblick auf den Umfang der Aufklärung beweist das Oberlandesgericht München große Praxistauglichkeit. Im konkreten Fall litt die Patientin an einer akuten Gallenblasenentzündung. Nach der Aufklärung über die möglichen Vorgehensweisen, entweder die laparoskopische oder die offene Variante, entschied sie sich für das minimalinvasive Verfahren. Im Aufklärungsgespräch hatte der aufklärende Arzt die Patientin unter anderem auf das erhöhte Risiko einer Darmverletzung hingewiesen.

Bei der Operation kam es zu einer (schicksalhaften) Perforation des Dünndarms, was während des Eingriffs unbemerkt blieb. Nachdem bildgebende Untersuchungen ein paar Tage später auf eine Flüssigkeitsansammlung im Abdomen hinwiesen, wurde die Patientin noch einmal operiert. Die Perforationsstelle am Dünndarm wurde ausfindig gemacht und durch eine Naht chirurgisch versorgt. Außerdem wurde eine ausgiebige Lavage des Bauchraumes vorgenommen. In der Folgzeit erlitt die Patientin eine Peritonitis mit einem septischen Krankheitsbild. Sie musste intensivmedizinisch behandelt werden und sich mehreren Revisionsoperationen unterziehen.

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Patient muss „Stoßrichtung” der Risiken klar sein

Nach Auffassung des Gerichts hat der Arzt die mit dem Eingriff verbundenen Risiken zutreffend dargestellt. Zwar habe er die Möglichkeit einer Peritonitis nicht ausdrücklich genannt und folglich auch die in diesem Fall möglicherweise erforderlich werdenden intensivmedizinischen Maßnahmen oder Revisionsoperationen nicht erläutert. Die Rechtsprechung verlange allerdings auch keine Aufklärung über jede denkbare Komplikation einschließlich der dann notwendigen Behandlung. Es genüge, den Patienten „im Großen und Ganzen” auf die Risiken und Gefahren hinzuweisen, er also ein allgemeines Bild von der Schwere und Richtung des Risikospektrums erhalte und ihm die „Stoßrichtung” der Risiken verdeutlicht werde.

Die Patientin sei unter anderem über die Möglichkeit der Verletzung des Darmes sowie die Gefahr von Nachblutungen sowie Infektionen hingewiesen worden. Dass diese Komplikationen gegebenenfalls auch ein lebensgefährliches Ausmaß annehmen können, liege auf der Hand und müsse nicht gesondert betont werden. Ebenso sei für einen Patienten, dem diese Risiken genannt werden, offensichtlich, dass eine Verletzung des Darmes, Nachblutungen und Infektionen weitere Operationen erforderlich machen können.

Sowohl bei der zunächst unbemerkt gebliebenen (schicksalhaften) Verletzung des Dünndarms als auch bei der nachfolgenden Peritonitis handelte es sich um Komplikationen, die sich sowohl in der Art als auch in der Schwere im Rahmen des erläuterten Risikospektrums bewegten. Der behandelnde Arzt hätte die mit der Operation verbundenen Gefahren weder verharmlost, noch habe sich ein gänzlich anderes, nicht von der Aufklärung umfasstes Risiko verwirklicht.

Mit dieser Urteilsbegründung trägt das Oberlandesgericht München dem Gedanken Rechnung, dass Patienten durchaus in der Lage sind, für sich selbst zu denken, und nicht in allen Bereichen von den Gerichten geschützt werden müssen. Dem Selbstbestimmungsrecht wird daher eine gewisse Verantwortung und Verständnisfähigkeit der Patienten gegenüber gestellt.

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Fazit

Die Frage des spätesten Zeitpunktes der Aufklärung für eine wirksame Einwilligung muss sich an den konkreten Umständen orientieren. Je dringlicher der Eingriff, umso kürzer kann damit gegebenenfalls auch der Zeitraum zwischen Aufklärung und Operation sein. In Notfallsituationen kann eine Aufklärung auch dann nur wenige Stunden vor dem Eingriff erfolgen, wenn sich die Heilungschancen eines Patienten deutlich verschlechtern oder gewichtige Komplikationen beim Verschieben der Operation auf den nächsten Tag zu befürchten sind.

Das Urteil des Oberlandesgerichts München ist von erfrischendem Realitätssinn geprägt. Es bleibt zu hoffen, dass sich viele Gerichte und auch der Bundesgerichtshof dieser Sichtweise anschließen. Denn Realitätssinn nutzt beiden: dem Patienten und dem Arzt.

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