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DOI: 10.1055/s-2007-959206
„Die stumme Schwester”
Ein Fieberthermometer in der Weltliteratur[1] „The Silent Sister”. A Clinical Thermometer in World LiteraturePublication History
Publication Date:
31 May 2007 (online)
Das 1924 veröffentlichte Werk „Der Zauberberg” des deutschen Schriftstellers Thomas Mann gehört zu den inhaltreichsten und am besten durchkomponierten Romanen, die je geschrieben wurden. Die Atmosphäre eines Lungensanatoriums ([Abb. 1]) im Schweizer Hochgebirge spiegelt in beklemmender Weise die desolate Seelenverfassung der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg; der Roman bietet eine scharfsinnige, pessimistische Diagnose der damaligen geistigen, politischen und ökonomischen Zustände. Auffallend groß ist aber auch des Autors Interesse an medizinischen Fragen, insbesondere an den Verfahren der Diagnostik wie Auskultation, Perkussion, Röntgen oder Thermometrie. Unter anderem beschreibt Thomas Mann ein „stummes” Fieberthermometer, welches verängstigte oder simulierende Patienten im Unklaren über die Höhe ihrer Temperatur lassen sollte. Handelte es sich bei der „stummen Schwester” („silent sister”, „la soeur muette”) um eine rein dichterische Fiktion oder um ein tatsächlich verwendetes Fieberthermometer?
Abb. 1 Schauplatz der Weltliteratur: Das „Waldsanatorium Dr. Jessen” in Davos, heute „Waldhotel Bellevue” (Thomas-Mann-Archiv, Zürich).
„Da war im vorigen Jahre Fräulein Kneifer, Ottilie Kneifer, durchaus von Familie, die Tochter eines höheren Staatsfunktionärs. Sie war wohl anderthalb Jahre hier und hatte sich so vortrefflich eingelebt, dass sie, als ihre Gesundheit vollkommen hergestellt war - denn das kommt vor, man wird zuweilen gesund hier oben -, dass sie auch dann noch um keinen Preis fort wollte. Sie bat den Hofrat von ganzer Seele, noch bleiben zu dürfen, sie könne und möge nicht heim, hier sei sie zu Hause, hier sei sie glücklich; da aber lebhafter Zudrang herrschte und man ihr Zimmer benötigte, so war ihr Flehen umsonst, und man beharrte darauf, sie als gesund zu entlassen. Ottilie bekam hohes Fieber, sie ließ ihre Kurve tüchtig ansteigen. Allein man entlarvte sie, indem man ihr das gebräuchliche Thermometer mit einer „Stummen Schwester” vertauschte. - Sie wissen noch nicht, was das ist, es ist ein Thermometer ohne Bezifferung, der Arzt kontrolliert es, indem er ein Maß daran legt, und zeichnet die Kurve dann selbst. Ottilie, mein Herr, hatte 36,9, Ottilie war fieberfrei.” [1]
So erzählt der temperamentvolle Italiener Settembrini dem Hamburger Ingenieur Hans Castorp einen eindrücklichen Fall vollständiger Akklimatisierung an eine Hochgebirgsklinik. Als Settembrini vermutet, Castorp habe - durch die neue Umgebung geschwächt - der Geschichte nicht ganz folgen können, erwidert dieser eilfertig: „Nein, wirklich, ich habe alles verstanden! Die Stumme Schwester ist also nur eine Quecksilbersäule, ganz ohne Bezifferung - Sie sehen, ich habe es vollkommen aufgefasst!”
1 Überarbeitete Fassung. Der ursprüngliche Artikel erschien in der Schweizerischen Zeitschrift für Medizin und medizinische Technik 1988; 10 (3): 31 - 34