Psychother Psychosom Med Psychol 2007; 57(6): 233-234
DOI: 10.1055/s-2007-970836
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Hartvig Dahl - The Lonely Rider

Hartvig Dahl - The Lonely RiderHorst  Kächele1 , Michael  Hölzer1
  • 1Klinikum der Universität Ulm, Abt. für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
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Publication Date:
25 May 2007 (online)

Prof. Dr. Horst Kächele

PD Dr. Michael Hölzer

Wenn Preise verliehen werden, dann trifft es meist die Richtigen - das gilt für den Literaturbetrieb und wohl auch für die psychotherapeutische Fachwelt. In der internationalen psychoanalytischen „scientific community” gibt es zwar relativ wenig Preise zu gewinnen, aber einem gilt allgemeine Hochschätzung: Der für unser Fach großzügig dotierte Mary Sigourney Award - von einer vermögenden Privatperson gestiftet - nennt folgendes Ziel:

„Mary Sigourney's purpose was to recognize past achievements by individuals and organizations which constitute significant contributions to psychoanalysis and to thereby encourage activity in the field” (www.sigourney.org).

Die Liste derer, die mit diesem Preis ausgezeichnet wurden, ist noch nicht lang und doch enthält sie viele zu Recht ausgezeichnete Personen von Rang und Wert. Einer fehlt, der kürzlich ein langes Lebens als „lonely rider” beendet hat.

Sein Name hätte u. E. auf der M. S.-Award-Liste stehen sollen, doch seine exquisit fokussierte Arbeitsweise, die fast ausschließlich seine Lebensgefährtin Virginia Teller in sein Lebensprojekt einbezog, ließ schon bei seinen Lebzeiten vermuten, dass der Gemeinte nicht preiswürdig sein würde.

Öffentlichkeit erlangt dieser Psychoanalytiker aber in einer anderen, spektakulären Weise. Eine Journalistin, Janet Malcolm, verfasste für den New Yorker - das Intellektuelle Magazin Nr. 1 - ein überaus kritisches Feature der psychoanalytischen Szene in New York am Ende der 70er-Jahre. Das Buch, das auf diese Artikelserie folgte, erschien mit dem Freud-ironisierenden Titel: Psychoanalysis: The impossible profession [1].

Geschildert wurde eine untergehende Geheimkultur, eine unsägliche prokrastinierte Ausbildungswelt von ca. 50-jährigen Psychiatern, denen als Ausbildungskandidaten die wertschätzende Zuwendung ihrer Lehranalytiker alles bedeutete.

Dieses liebevoll vernichtende Bild einer verkrusteten psychoanalytischen Subkultur wurde konterkariert durch ein leuchtendes Gegenbeispiel: das Interview mit dem Psychoanalytiker Hartvig Dahl erscheint wie ein Blitz am Himmel und deutete auf eine Zukunft, die damals noch unbestimmt war. Dahl schilderte seine unentwegten Bemühungen um das Verständnis psychoanalytischer Prozesse mit Methoden der modernen kognitiven Science …

Die freien Assoziationen in der fünften Sitzung (hour 5) der von ihm selbst analysierten Patientin, Mrs C, wurden - wie der Stein von Rosette für Champollion -, zum paradigmatischen Material, zum Musterbeispiel, das es empirisch-formal zu entschlüsseln galt. Diese wissenschaftliche Herausforderung wurde dann auch Gegenstand eines internationalen Kongresses, der 1985 in Ulm mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgeführt werden konnte.

In der Publikation der Kongressbeiträge [2] ist nachzulesen, wie Dahl [3] in der Einleitung fast triumphierend erklären konnte, dass nun endlich auch die psychoanalytische Therapie - nach der experimentellen Grundlagenforschung - ein empirisches Paradigma gefunden habe, das es anhand tonband-aufgezeichneter Protokolle zu vertiefen gälte.

Was Carl Rogers schon 1942 eingefordert hatte [4], wurde in der psychoanalytischen Behandlungswelt lange Zeit mit Verweis auf Freuds diesbezügliche skeptische Bemerkungen abgewiesen. Zeitgleich mit Merton Gill, mit David Rapaport führender Theoretiker der Ich-Psychologie, der 1967 Tonbandaufzeichnungen als unbedingte Voraussetzung zur radikalen Theorierevision befürwortete [5], begannen einige mutige Psychoanalytiker, keineswegs Außenseiter in ihrem Fach, mit der Tonbandaufzeichnung psychoanalytischer Behandlungen. Als Hartvig Dahl die recht klassisch geführte Behandlung einer neurotischen Patientin - unter peinlicher Supervision durch Jakob Arlow -, um deren Klassizität in den Augen der New Yorker Psychoanalytic Society zu validieren - fünf Mal die Woche aufzeichnete, als in der BRD Adolf Ernst Meyer und Helmut Thomä gleiches wagten, änderte sich die Lage.

Mit der Einführung von Tonbandaufzeichnungen wurde in der Tat eine radikal neue Situation geschaffen. Dritte, die nicht unmittelbar am Behandlungsprozess beteiligt waren, konnten sich ein eigenes Bild verschaffen. Wissenschaftstheoretische Diskussionen mussten nicht länger auf arm-chair theorizing oder auf das Hörensagen beschränkt werden, sondern konnten sich nun mit klinisch verfügbarem Material beschäftigen.

In diesem Prozess der Transformation von oral history zur verschrifteten Dokumentation war Hartvig Dahl ein leuchtendes Vorbild. Seine unermüdliche Bemühung um eine textbasierte empirisch formalisierbare Entzifferung unbewusster Strukturen - genannt FRAMES [6] - teilte er mit den anderen Teilnehmern des Ulmer Kongresses und vielen anderen.

Inzwischen haben viele psychoanalytische Forscher an diesem Forschungsprogramm weitergearbeitet und dessen Fruchtbarkeit demonstriert. Hartvig Dahl sollte deshalb einen Preis erhalten, den Preis für „lonely riders”, den auch Freud hätte bekommen sollen.

Literatur

  • 1 Malcolm J. Psychoanalysis: The impossible profession. New York; Knopf 1980
  • 2 Dahl H, Kächele H, Thomä H. Psychoanalytic Process Research Strategies. Berlin; Springer 1988
  • 3 Dahl H. Introduction. In: Dahl H, Kächele H, Thomä H (eds) Psychoanalytic Process Research Strategies. Berlin; Springer 1988: VII-XVI
  • 4 Rogers C R. The use of electrically recorded interviews in improving psychotherapeutic techniques.  American Journal of Orthopsychiatry. 1942;  12 429-434
  • 5 Gill M M, Simon J, Fink G, Endicott N A, Paul I H. Studies in audio-recorded psychoanalysis. I. General considerations.  J Am Psychoanal Assoc. 1968;  16 230-244
  • 6 Dahl H. Frames of mind. In: Dahl H, Kächele H, Thomä H (eds) Psychoanalytic Process Research Strategies. Berlin; Springer 1988: 51-66

Prof. Dr. Horst Kächele

Klinikum der Universität Ulm, Abt. für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

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89081 Ulm

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