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DOI: 10.1055/s-2007-980070
Entstehung der Leitlinien in der Deutschen Gesellschaft für Neurologie - Parkinson-Syndrome
Publication History
Publication Date:
08 August 2007 (online)
Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Neurologie entschloss sich Ende 2001 Leitlinien zur Diagnostik und Therapie neurologischer Erkrankungen für das Internet und in Buchform zu erstellen. Leitlinien sind entsprechend der AWMF „systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben und den behandelnden Ärzten und ihren Patienten die Entscheidungsfindung für eine angemessene Versorgung in spezifischen klinischen Situationen erleichtern”. Unter der Federführung von H.C. Diener aus Essen, wurden alle Ordinarien für Neurologie, die Chefärzte für Neurologie und der Berufsverband der Neurologen angesprochen und gebeten, Vorschläge für relevante Leitlinien zu erstellen. Es wurden insgesamt 91 Vorschläge eingebracht und dann in einem zweiten Schritt Personen benannt, die die Leitlinien erstellen sollten. Jede Leitlinie wurde von einem federführenden Autor mit einer Expertengruppe zusammen erstellt. Dies geschah auf S2-Niveau und wurde unter Berücksichtigung der evidenzbasierten Medizin vorangetrieben. Während man die von Expertengruppen erstellten Leitlinien als S1-Leitlinien klassifiziert, hat die DGN durch das Zusammenwirken von Expertengruppen und der kritischen Sichtung der Literatur (evidenz-basierte Leitlinie) das S2 Niveau erreicht. Nach Erstellung der Leitlinien wurden alle Leitlinien durch eine Kommission, die von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie eingerichtet wurde, geprüft und gegengelesen. Der letzte Schritt bestand dann in der Verabschiedung durch den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. So entstand 2002 das erste Leitlinienbuch, das im Thieme Verlag erschien. Die zweite Auflage erschien 2003 und die dritte, überarbeitete Auflage 2005. Zunächst erschienen die Leitlinien jeweils in Buchform, danach wurden sie ins Internet gesetzt.
Leitlinien sind Handlungsanleitungen für die Diagnostik und Therapie einer Erkrankung oder eines Symptomenkomplexes. Die Etablierung von Leitlinien führt zu Therapiesicherheit, garantiert eine moderne und wissenschaftlich fundierte Versorgung der Patienten und sollte auch die ökonomischen Ansprüche an eine Ressourcen-adäquate Diagnostik und Therapie im Auge behalten. Gerade die Parkinsonsyndrome eignen sich hervorragend für die Erstellung von Leitlinien, da sie nicht nur äußerst relevante Krankheitsbilder darstellen, sondern auch eine anspruchsvolle Differenzialdiagnose voraussetzen und andererseits eine Vielzahl an Therapieoptionen bieten. Aus Mitglieder des Kompetenznetz Parkinson und der Deutschen Parkinsongesellschaft wurde eine Expertengruppe gegründet (K.M. Eggert, G. Deuschl, T. Gasser, B.H. Oertel, G. Arnold, H. Baas, R. Dodel, H.M. Mehdorn, H. Przuntek, H. Reichmann, P. Riederer, S. Spieker, C. Trenkwalder). Diese Kommission untergliederte die Parkinsonleitlinie in die Definition des idiopathischen Parkinsonsyndroms, wonach neben der Akinese eines der übrigen Kardinalsymptome, wie Rigor, Ruhetremor und posturale Instabilität, zur Diagnosesicherung hinzugehören. Fakultative Begleitsymptome sind darüber hinaus sensorische Symptome, vegetative Symptome, psychische Symptome und kognitive Symptome. Jeder Parkinsonpatient muss klassifiziert werden entsprechend der Hoehn & Yahr-Skala und bezüglich seines Typs. So werden der akinetisch-rigide Typ, der Äquivalenztyp und der Tremor-Dominanz-Typ voneinander unterschieden. Unter Berücksichtigung der zunehmenden Bedeutung der genetisch determinierten Parkinsonsyndrome stellt die Familienanamnese einen wichtigen Eckpfeiler in der Klassifikation von Parkinsonsyndromen dar. Man muss nach symptomatischen sekundären Parkinsonsyndromen fahnden und vaskulär-, tumorös-, medikamentös-, posttraumatisch-, toxisch- oder entzündlich-bedingte Parkinsonsyndrome ausschließen, bevor die Diagnose eines idiopathischen Parkinsonsyndroms gestellt werden kann. Weiter ist zu berücksichtigen, dass Parkinsonsyndrome im Rahmen anderer neurodegenerativer Erkrankungen auch als atypische Parkinsonsyndrome bezeichnet auftreten und relativ häufig als Multisystematrophie, progressive supranukleäre Blickparese, kortikobasale Degeneration, spinozerebelläre Atrophien und Demenz vom Lewy-Körperchen-Typ vorkommen.
Aufgabe der Kommission war auch eine Stellungnahme zur Basisdiagnostik von Parkinsonpatienten zu erstellen. Die Diagnostik sollte in vier Schritten erfolgen. Zum einen sollte zuerst nach den klassischen Symptomen, d. h. nach den Kardinalsymptomen, gefahndet werden. Aus meiner Sicht sollte neben der Bradykinese, dem Ruhetremor, dem Rigor und der posturalen Instabilität künftig die Hyposmie hier hinzugezählt werden, da sie bei bis zu 90 % der Parkinsonpatienten vorliegt. Neben dieser sorgfältigen klinischen Untersuchung sollte dann im zweiten Schritt nach anamnestischen Hinweisen auf ein symptomatisches Parkinsonsyndrom oder auf eine der häufigen Differenzialdiagnosen gesucht werden. Der dritte Schritt besteht in der Beschreibung so genannter roter Flaggen, d. h. Warnsymptome, die auf ein atypisches Parkinsonsyndrom hinweisen. Im Verlauf der Erkrankung kommt es dann zu unterstützenden Zeichen wie z. B. dem einseitigen Beginn und der persistierenden Asymmetrie, dem Auftreten eines Ruhetremor, dem positiven Ansprechen auf Dopaminergika sowie dem späteren Auftreten von Dyskinesien. Die apparative Basisdiagnostik besteht unseres Erachtens nach auch in einem Staging am besten nach Hoehn & Yahr und eventuell entsprechend der Unified Parkinson's Disease Rating Scale. Um symptomatische Parkinsonsyndrome oder auch atypische Parkinsonsyndrome nicht zu übersehen, ist eine strukturelle Bildgebung des Cerebrums zu fordern. Dies könnte ein CT sein, besser wäre ein MRT. Sehr positiv und die Diagnose verstärkend sind Testverfahren, wie der Levodopa-Test oder der Apomorphin-Test, bei denen gefordert wird, dass sich die Symptomatik um mehr als 30 % auf der Unified Parkinson's Disease Rating Scale bessert. Aufwändige und teure bildgebende Verfahren wie SPECT und PET sind nur für wissenschaftliche Fragestellungen, für die Überprüfung neuroprotektiver Therapien und insbesondere bei Unklarheiten bezüglich der Differenzialdiagnose eines idiopathischen Parkinsonsyndroms bzw. atypischer Parkinsonsyndrome heranzuziehen. Nahezu jeder Patient entwickelt über die Jahre Störungen des autonomen Nervensystems, so dass Untersuchungen des autonomen Nervensystems, wie urodynamische Untersuchungen oder Untersuchungen auf posturale Hypotension mittels Schellong-Test und Kipptischverfahren, notwendig werden. Fakultative Zusatzuntersuchungen sind die Substantia-nigra-Sonographie, das Sphinkter-EMG, die quantitative Tremormessung sowie aufwändige Untersuchungen des autonomen Nervensystems sowie eventuell auch, falls nicht bereits geschehen, eine quantitative Riechanalyse. Die therapeutischen Grundsätze beruhen in dem Erreichen von ehrgeizigen Therapiezielen, nämlich dem Erhalt der Selbstständigkeit in den Aktivitäten des täglichen Lebens, der Verhinderung oder Verminderung von Pflegebedürftigkeit und der Erhaltung der Selbstständigkeit in Familie und Gesellschaft. Ferner sind anzustreben, dass Parkinsonpatienten möglichst lange berufsfähig bleiben und eine hohe Lebensqualität genießen. Um dies zu erreichen, wird aus heutiger Sicht bei jüngeren Patienten, die keine wesentlich Komorbidität aufweisen, als Standarttherapie der Einsatz von Dopamin-Agonisten und nur selten, wenn ein schneller Therapieerfolg notwendig ist, der frühe Einsatz von Levodopa, dann allerdings rasch kombiniert mit einem Dopamin-Agonisten empfohlen. Patienten mit milderer Symptomatik können durchaus initial auch monotherapeutisch mit einem MAO-B-Hemmer bzw. Amantadin behandelt werden. Die Erhaltungstherapie sollte auf einer möglichst langfristigen Dopamin-Agonsiten-Monotherapie bzw. dann in der Kombinationstherapie beruhen.
Bei älteren Patienten, die insbesondere biologisch alt sind oder eine hohe Komorbidität aufweisen, empfehlen die Leitlinien den präferenziellen Einsatz von Levodopa, bevorzugt unter 600 mg pro Tag. Auch hier wird alternativ der Einsatz von Amantadin oder eines MAO-B-Hemmers (in den Leitlinien wird Selegilin erwähnt) empfohlen. Die Erhaltungstherapie wird insbesondere mit Levodopa zusammen, z. B. mit einem zusätzlichen COMT-Hemmer, empfohlen. In späteren Stadien gibt es operative Behandlungsverfahren, wie insbesondere die tiefe Hirnstimulation. In den Leitlinien wird dann ausführlich die nichtmedikamentöse Therapie diskutiert und auch klare Empfehlungen für Komplikationen wie motorische Fluktuationen, Freezing, Störungen des autonomen Nervensystems, Depression, Demenz, Psychose und Angst gegeben.
Somit sind die bestehenden Parkinsonleitlinien ein Spiegel der aktuellen Diagnostik und Therapie, wie sie weltweit in hoch entwickelten Ländern geleistet werden kann und geleistet werden sollte. Es handelt sich dabei nicht um Richtlinien, so dass therapeutische Freiheit bestehen bleibt. Andererseits ist bereits darauf hinzuweisen, dass die Leitlinien einen solchen Stellenwert erreicht haben, dass sie zunehmend von Gerichten und Behörden als Maßstab des richtigen diagnostischen und therapeutischen Handelns herangezogen werden. Dieses Argument kann man auch umdrehen und davon ausgehen, dass die bestehenden Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie uns Neurologen in unserer Diagnostik und Therapie soweit unterstützen, dass sie gegenüber oben genannter Institutionen durchsetzbar und einforderbar sind. Somit können wir aufgrund der Leitlinien fordern, dass wir in Diagnostik und Therapie für unsere Patienten unverändert einen hohen Standard ansetzen wollen.
Es ist unsere Aufgabe, die Leitlinien jeweils an den neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse anzugleichen. Die Leitlinien sind über die Jahre so weiterentwickelt worden, dass auch eine Wertung im Sinne der evidenzbasierten Medizin für sämtliche Therapieverfahren eingefügt. wurde. Die Leitlinien sind nicht als starres Gebilde zu betrachten, da sie über die Jahre immer wieder schwierige Fragen aufgreifen müssen und sich auch künftig zu kritischen Fragen äußern müssen. So ist z. B. in den nächsten Leitlinien klare Stellungnahme gefordert zu der Frage, ob bei MAO-B-Hemmern Selegilin oder Rasagilin der Vorzug zu geben ist. Es wird des Weiteren zu diskutieren sein, ob und in welchem Umfang der Einsatz dieser Medikamente neben dem symptomatischen Effekt auch einen neuroprotektiven Ansatz beinhalten. Ähnliche Überlegungen gelten für die Dopamin-Agonisten und das Coenzym Q, die zumindest in der Zellkultur und in Versuchstierexperimenten hervorragende neuroprotektive Eigenschaften aufweisen. Somit ist auch darüber nachzudenken, ob künftig z. B. mit einem möglicherweise neuroprotektiven, aber auch symptomatisch wirksamen MAO-B-Hemmer die Therapie eingeleitet und dann eventuell nach einem halben Jahr zusammen mit einem Dopamin-Agonisten fortgesetzt werden sollte. Immer mehr Untersuchungen unterstreichen, dass wir künftig in den Leitlinien anregen sollten, unmittelbar nach Diagnosestellung des idiopathischen Parkinsonsyndroms mit der Therapie zu beginnen. Diese Aussage beruht auf Erkenntnissen aus der TEMPO-Studie, aber auch aus Selegilin-Studien, aus Dopamin-Agonisten-Studien und aus einer jungen Studie zum frühen Einsatz vom COMT-Hemmern als adjuvante Therapie. Immer mehr spricht dafür, dass der frühe Einsatz von potenten Antiparkinson-Medikamenten den Krankheitsverlauf positiv und nicht negativ beeinflusst. Neu ist auch die Diskussion zu führen, ob und in welchem Umfang alle Ergot-Typ-Dopamin-Agonisten als Second-line-Präparate empfohlen werden sollen oder eben nur, wie dies derzeit die entsprechenden Hersteller uns im Rahmen von „rote Handbriefe” nahe brachten (Pergolid und Cabergolin).
Die Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie sind somit das wichtigste Nachschlagewerk für sämtliche Ärzte geworden, die neurologisch Erkrankte diagnostizieren und behandeln wollen. Sie habe eine hohe Anerkennung in Fachkreisen wie der DGN, des DVN und der AWMF sowie vor Gerichten und bei Behörden gefunden. Nachdem die Leitlinien von den herausragenden Vertretern der Deutschen Neurologischen Gesellschaft verfasst sind ist davon auszugehen, dass sämtliche Kapitel den neusten Wissenschaftsstand widerspiegeln und somit für jeden, der einen Rat sucht, um Patienten optimal zu betreuen, eine wahre Fundgrube darstellen. Durch die Möglichkeit, im Internet, aber auch in Buchform bei offenen Fragen Rat zu erhalten, sind die Leitlinien zu einem unabdingbaren Bestandteil jeder neurologischen Praxis geworden.