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DOI: 10.1055/s-2007-991587
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Recovery - Perspektivenwechsel
Publication History
Publication Date:
08 October 2007 (online)
Dieses Buch soll Hoffnung machen - Betroffenen und Professionellen. Wie der Leser (die Leserin in der Diktion der Autorinnen) rasch feststellt, handelt es sich um ein Buch über Schizophrenie, d.h. es geht nicht um "Recovery" bei Depression, bipolaren Störungen, Suchterkrankungen oder z.B. Borderline-Störungen, obwohl das Thema natürlich auch in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll wäre.
Was ist Recovery? Jedenfalls nicht identisch mit "Heilung" und "keine Medikamente mehr brauchen". Recovery ist eher ein Konzept der Hoffnung auf ein erfülltes Leben, auch mit mehr oder weniger starken Einschränkungen und passageren Minderungen der Belastbarkeit. Die Autorinnen haben sich deshalb auch entschieden, den englischen Begriff zu verwenden, weil es keine wirklich adäquate Übersetzung dafür gibt. So einleuchtend das Konzept auf den ersten Blick erscheint, so differenziert wird beim näheren Hinsehen eine Abgrenzung von anderen ebenfalls vertrauten psychiatrischen Konzepten notwendig: Empowerment, Remission, Rehabilitation, Resilienz und Lebensqualität. Interessanterweise hat sich "Recovery" als Konzept der Betroffenen entwickelt, "Lebensqualität" dagegen als Konzept aus der Sicht der Professionellen, ohne dass es zwischen diesen zwei Entwicklungslinien eine wesentliche Interaktion gegeben hätte. Die Autorinnen kommentieren alle diese Aspekte umfassend und führen viele Beispiele erfolgreicher "Recovery"-Bewegungen aus vielen Ländern auf, typischerweise initiiert von sekundär professionalisierten ehemaligen Betroffenen.
In mancher Hinsicht absolvieren die Autorinnen in ihrem Buch eine Gradwanderung: Die Adressaten sollen erkennbar sowohl Betroffene als auch deren Angehörige und Professionelle sein. Das ist nicht immer einfach: Die Professionellen werden mit einer sorgfältig wissenschaftlich gehaltenen Darstellung mit Verweis auf zahlreiche Untersuchungen bedient, was für Betroffene möglicherweise zeitweilig etwas trocken und ermüdend wirken kann; Professionelle werden dagegen immer wieder misstrauisch und kritisch fragen, ob hier eine antipsychiatrische Tendenz mitschwingt, die Patienten zu einer vermeintlichen und dann doch häufig wieder enttäuschend verlaufenden Autonomie zu ermutigen. Dies ist allerdings nicht der Fall. Das Buch ist eher ein leidenschaftliches Plädoyer für den aufgeklärten und mündigen Patienten, der sein eigenes Leben gestaltet ohne sich resignativ auf eine passive Compliance, die von Sozialingenieuren überwacht wird, zurückzuziehen. Dass Patienten im Einzelfall aus nachvollziehbaren Überlegungen sich auch einmal gegen den ärztlichen Rat entscheiden und Risiken eingehen, ist weder neu noch verwerflich und kommt in allen medizinischen Bereichen vor, bekanntlich keineswegs selten, wenn Professionelle einmal selbst zu Patienten werden.
Tilman Steinert, Weissenau