Ernährung & Medizin 2007; 22(4): 190-194
DOI: 10.1055/s-2007-993771
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Stellungnahme der Gesellschaft für angewandte Vitaminforschung (GVF) zum Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung über vitaminisierte Lebensmittel und zur Änderung der Nahrungsergänzungsmittelverordnung

 Gesellschaft für angewandte Vitaminforschung e. V.
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Publication Date:
17 December 2007 (online)

Beta-Carotin

Der Verordnungsentwurf sieht Höchstmengen für Beta-Carotin von max. 2 mg/100 g bzw. 100 ml für die Anreicherung von Lebensmitteln und von 2 mg pro empfohlener Tagesmenge bei Nahrungsergänzungsmitteln vor. Des Weiteren sollen Lebensmittel, denen isoliertes Beta-Carotin aus ernährungsphysiologischen Gründen zugesetzt wurde, einen Warnhinweis zum Schutz von Rauchern tragen. Die im Entwurf dargelegte Begründung für diese Maßnahmen aus vorsorglichem Verbraucherschutz ist allerdings aus unserer Sicht wissenschaftlich nicht nachvollziehbar.

Es ist richtig, dass die Ergebnisse zweier Interventionsstudien aus den 90er Jahren (ATBC und CARET) eine signifikant erhöhte Lungenkrebsinzidenz und -mortalität bei langjährigen starken Rauchern und/oder Asbestarbeitern - und nur bei diesen Hochrisikogruppen - nach Supplementierung mit hochdosiertem Beta-Carotin (20 mg/Tag bzw. 30 mg Beta-Carotin plus 7,5 mg Vitamin A) im Vergleich zur Placebogruppe zeigten [2] [18].

Diese Ergebnisse sind seit mittlerweile mehr als 10 Jahren bekannt, und es kann kein Zweifel bestehen, dass die chronische Zufuhr von Beta-Carotin in Dosierungen ab 20 mg pro Tag bei den genannten Hochrisikogruppen kontraindiziert ist. Die GVF hält daher einen Warnhinweis für Raucher bei hoch dosierten Präparaten für gerechtfertigt [10]. Allerdings sind die nun vorgeschlagenen Maßnahmen erheblich weitreichender, da sie die Gesamtbevölkerung betreffen - also auch Nichtraucher und ehemalige Raucher - und damit Personengruppen, für die keine negativen Effekte von Beta-Carotin nachgewiesen werden konnten, auch nicht bei höherer Dosierung. Vielmehr besteht durch diese Maßnahmen das Risiko einer Unterversorgung mit (Pro-)Vitamin A in bestimmten Bevölkerungsgruppen (s. Abschnitt Risikogruppen). Den Ergebnissen von CARET und ATBC stehen Ergebnisse mehrerer Interventionsstudien gegenüber, in denen Beta-Carotin allein [9] [16] [20] und/oder in Kombination mit anderen Mikronährstoffen gegeben wurde und in denen kein erhöhtes Risiko für Lungenkrebs beobachtet wurde [1] [5] [11] [12]. Diese Studien unterscheiden sich von der ATBC-Studie und von CARET in folgenden Aspekten, die für die Interpretation der Studienergebnisse und für eventuell daraus abzuleitende Maßnahmen des Risikomanagements relevant sind:

Die Probandenkollektive bestanden aus Nichtrauchern, ehemaligen Rauchern und aktiven Rauchern, d. h. nicht nur aus Personen mit hohem Lungenkrebsrisiko und/oder Beta-Carotin wurde nicht allein, sondern in Kombination mit anderen (antioxidativen) Mikronährstoffen verabreicht, insbesondere in Kombination mit Vitamin E und C und/oder die durch die Supplementierung mit Beta-Carotin erreichten Konzentrationen im Blut waren niedriger als in der ATBC- bzw. in der CARET-Studie.

In den letzten 10 Jahren wurde versucht, mittels Untersuchungen an Tiermodellen (Frettchen, Mäusen) die zellulären Mechanismen aufzuklären, die dem in der ATBC-Studie bzw. in CARET beobachteten erhöhten Lungenkrebsrisiko bei hochdosierter Gabe von Beta-Carotin zugrunde liegen. Obschon zahlreiche, vielversprechende Arbeiten veröffentlicht wurden, welche auf unkontrollierte Oxidationsprozesse in der Raucherlunge hinweisen, kann heute die Frage der Kausalität nicht schlüssig beantwortet werden. Tiere verstoffwechseln Beta-Carotin anders als der Mensch; Frettchen als Raubtiere kennen Beta-Carotin in der normalen Ernährung nicht und Mäusen muss man ein Mehrfaches an Beta-Carotin ins Futter geben, um zum Menschen vergleichbare Plasmawerte zu erreichen. Die Gabe von Beta-Carotin (entsprechend 30 bzw. 12 mg pro Tag) in Kombination mit Vitamin E und C in entsprechender Dosis (entsprechend 100 I.E. bzw. 210 mg pro Tag) hat in Frettchen sogar positive Effekte: Bei Gabe der Kombination werden die Konzentrationen von Retinsäure und diversen Zellproliferationsmarkern in der Lunge auf normalem Niveau gehalten, und es wurden histologisch keine präneoplastischen Veränderungen bzw. Tumore beobachtet. Im Gegenteil, bei Zigarettenrauchexposition verhinderte die gleichzeitige Gabe der Antioxidantienkombination die negativen Effekte des Zigarettenrauchs [15]. Beta-Carotin in physiologischer Dosierung (entsprechend 6 mg Beta-Carotin bei einem 70 kg schweren Erwachsenen) konnte den negativen Effekten der Zigarettenrauchexposition sogar entgegenwirken [17].

Auf Basis dieser Ergebnisse gehen die Autoren soweit, die kombinierte Gabe von Beta-Carotin, Vitamin E und C als „chemopreventive strategy against lung carcinogenesis” vorzuschlagen. Dies ist aus der Sicht der GVF sicherlich verfrüht, zeigt aber eine neue wissenschaftliche Herausforderung für die Risikobewertung und verwandte Disziplinen auf: Die Wirkung einer Substanzkombination kann der Wirkung ihrer Einzelkomponenten entgegengesetzt sein. Gleichzeitig unterstreichen sie die Bedeutung des ernährungsphysiologischen Ansatzes (physiologische Dosierungen von [Mikro-]Nährstoffkombinationen) gegenüber einem pharmakologischen Ansatz (hohe Dosierung von Einzelsubstanzen) auch bei Nahrungsergänzungsmitteln und angereicherten Lebensmitteln, wie er gerade bei Beta-Carotin ja üblicherweise gewählt wird: Angereicherte Lebensmittel enthalten Beta-Carotin typischerweise in Kombination mit den Vitaminen E und C („ACE”), gleiches gilt für Nahrungsergänzungsmittel (Multivitaminprodukte bzw. „Antioxidantien”). Auch vor diesem Hintergrund hält die GVF die vorgeschlagenen Maßnahmen für wissenschaftlich unbegründet.

Insgesamt erscheinen der GVF die vorgeschlagenen Maßnahmen unverhältnismäßig restriktiv und wissenschaftlich nicht zu begründen, zumal die in der Begründung angenommene Mehrfachexposition nicht durch Daten belegt ist und nur dann eine Rolle spielen könnte, wenn eine solche Mehrfachexposition täglich über lange Zeiträume (Jahre) stattfinden würde.

Bei Beta-Carotin handelt es sich um einen wichtigen Nährstoff, der in der Versorgung mit Vitamin A eine bedeutende Rolle spielt. Vitamin A ist für das normale Wachstum und die Entwicklung von Zellen und Geweben, das Immunsystem, Haut, Knochen und Sehkraft wichtig. Um eine ausreichende, bedarfsgerechte Zufuhr an (Pro-)Vitamin A zu ermöglichen, sollten in Nahrungsergänzungsmitteln Dosierungen von Beta-Carotin entsprechend 1 RDA (4,8 mg unter Berücksichtigung der gängigen, rechtlich verankerten Umrechnungsfaktoren) angeboten werden. Angereicherte Lebensmittel können Beta-Carotin in Mengen ≤ 1 RDA je empfohlener Tageszufuhr enthalten, sollten aber einen wesentlichen Beitrag zur Vitamin-A-Versorgung gewährleisten. Je breiter das Spektrum an zur Verfügung stehenden Beta-Carotin-Quellen, desto geringer ist das Risiko einer Unterversorgung an diesem wichtigen Provitamin A insbesondere bei Risikogruppen (z. B. Senioren, Schwangere, Stillende).

Ein Warnhinweis bei Beta-Carotin-haltigen Lebensmitteln, wie im Entwurf der Verordnung geplant, kann zu einer Verunsicherung der Verbraucher führen, sodass gerade sensible Verbrauchergruppen davon abgehalten werden können, ausreichende Mengen an Beta-Carotin zu sich zu nehmen. Verschiedene Expertengruppen bestätigen die Sicherheit von Tagesmengen weit über 2 mg Beta-Carotin zusätzlich zur Aufnahme über die Ernährung bzw. als Farbstoff. So hat das Britische Expertenkomitee zu Vitaminen und Mineralstoffen (EVM) der Food Standards Agency den „Safe Upper Intake Level” für die Supplementierung auf 7 mg/Tag festgelegt [8].

Nach Kenntnis der GVF gibt es keine wissenschaftlichen Hinweise dafür, dass eine zusätzliche Zufuhr von Beta-Carotin zur normalen Ernährung in Höhe einer einfachen empfohlenen Tagesdosis an Vitamin A von 800 µg, entsprechend 4,8 mg Beta-Carotin (bei einem Umrechnungsfaktor 1 mg RE = 6 mg Beta-Carotin) für Raucher nicht sicher ist. Auch das US-amerikanische Antioxidant Panel des Food & Nutrition Board beim Institute of Medicine befürwortet zwar allgemein die Verwendung von Beta-Carotin in Nahrungsergänzungsmitteln nicht, nimmt aber von dieser Einschätzung ausdrücklich die Verwendung als Provitamin A - d. h. die Menge Beta-Carotin, die der Tagedosis an Vitamin A entspricht - aus [13].

Literatur

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