Zahnmedizin up2date 2008; 2(5): 395-396
DOI: 10.1055/s-2008-1039030
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Angebot und Nachfrage

Hans Jörg Staehle
Further Information

Publication History

Publication Date:
09 October 2008 (online)

O hochverehrtes Publikum,
sag mal: Bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: „Das Publikum will es so!“

Aus: Kurt Tucholsky: An das Publikum, 1931

In Zeiten zunehmender Kommerzialisierung wird Zahnärzten empfohlen, sich zur Ankurbelung des Zahnmedizinmarkts konsequent an der Nachfrage zu orientieren. Die Umwandlung des Patienten zum Kunden bringe es mit sich, dessen Vorlieben systematisch zu beleuchten und das Angebot danach auszurichten.

Wenn man Ratschläge von Marketing-Zeitschriften beherzigt, die uns regelmäßig unaufgefordert ins Haus flattern, ist es am besten, Zahnarztpraxen als „Wohlfühloasen“, „Wellnesstempel“ oder „Kosmetikstudios“ zu positionieren. In Wartezimmern sollen Espresso-Maschinen eine Kaffeehausstimmung erzeugen, in den übrigen Räumen Duftöle und ‐kerzen für eine besondere Atmosphäre sorgen. Zur Befriedigung der Kundennachfrage raten Marketing-Experten vor allem zu einer Betonung von „Ästhetik“ (oft reduziert auf Bleichbehandlungen, Zahnschmuck und Verblendschalen), Alternativmedizin (Homöopathie, „bioenergetische“ Verfahren u. ä.) sowie „High-Tech“ (dafür stehen in der Zahnmedizin derzeit offenbar vor allem Implantate und Laser). Wie man Praxisschildern, Zeitungsanzeigen und Internet-Auftritten entnehmen kann, greifen viele Zahnärzte diese Empfehlungen auf. Bemerkenswert erscheint dabei, dass lieber einzelne Methoden und Hilfsmittel angepriesen, als Konzepte angeboten werden.

Dies kann besonders deutlich an Implantaten und Lasern beobachtet werden. Zweifellos gibt es sinnvolle Anwendungsgebiete für Laser und auf den bedarfsgerechten Einsatz von Implantaten wird niemand verzichten wollen. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob es darum geht, für einen bestimmten, medizinisch begründeten Zweck geeignete Mittel einzusetzen oder ob umgekehrt die Mittel im Vordergrund stehen, für die dann sekundär ein Zweck bzw. ein Einsatzgebiet gesucht wird.

So ist z. B. ein Lasergerät ein Hilfsmittel für bestimmte Eingriffe. Eine Fachdisziplin „Laserzahnheilkunde“ lässt sich daraus kaum begründen. Dieser Begriff ist eher als Marketing-Slogan zu verstehen, der offenbar zur Abgrenzung gegen Konkurrenz dient. Wer anstelle eines Lasers ein Skalpell zum Schneiden von Weichteilen oder ein rotierendes Instrument zur Bearbeitung von Hartsubstanzen einsetzt, soll vom „Publikum“ offenbar als rückständig identifiziert werden. Deshalb werden Kollegen ohne Lasergerät ihre Tätigkeit kaum als „Skalpell-Zahnheilkunde“ oder „Rosenbohrer-Zahnheilkunde“ präsentieren wollen.

Wenn man die von Marketing-Experten forcierten Behandlungen näher unter die Lupe nimmt, so ergeben sich nicht selten Hinweise auf Eingriffe mit fraglichem medizinischen Nutzen und teilweise sogar Schädigungspotenzial. Etliche Beispiele dazu wurden bereits vor einigen Jahren in einem Gutachten des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen aufgeführt.

Was ist davon zu halten, wenn ein Zahnarzt selbst bei geringen Veränderungen im Frontzahnbereich umfangreiche Präparationen zur Aufnahme von Veneers vornimmt und diese invasiven Prozeduren mit dem „Wunsch des Patienten“ rechtfertigt?

Wie ist der Austausch intakter zahnärztlicher Restaurationen wegen „Unverträglichkeiten“, die mit umstrittenen alternativmedizinischen Testmethoden ermittelt wurden, einzuordnen?

Wie ist es einzuschätzen, wenn strategisch wichtige Zähne, die mit kompetent vorgenommenen parodontologischen, endodontologischen oder restaurativen Maßnahmen gut zu erhalten wären, zur Extraktion kommen, um später Implantate inserieren zu können?

Bevorzugen die meisten Patienten solche Eingriffe? Vermittelt man den „mündigen Kunden“ Therapiealternativen so objektiv, dass sie tatsächlich und nicht nur scheinbar wählen können?

Würde man anstelle einer Werbung mit Methoden und Geräten auf fachlich begründete Konzepte verweisen, könnte man z. B. für eine Vorgehensweise plädieren, die unter Nutzen-Risiko-Abwägung auf eine Schadensgerechtigkeit von Eingriffen abzielt. Eine angebotsorientierte Devise könnte lauten: Prävention möglichst offensiv, Restauration hingegen möglichst defensiv gestalten!

Die Optionen der Erhaltung oraler Strukturen sind größer denn je, trotzdem gibt es nur wenige Zahnarztpraxen, die als ihren Schwerpunkt „Zahnerhaltung“ in Form eines Konzepts nennen.

Gib es dazu wirklich eine nur geringe Nachfrage? Ist das „Publikum“ wirklich so bescheiden? Oder werden ihm die heute möglichen Maßnahmen, die nicht auf eine Förderung, sondern – im Gegenteil – auf eine Vermeidung hoch-invasiver und dazu noch sehr kostspieliger Eingriffe abzielen, manchmal vorenthalten?

Wenn es das Ziel der Zahnmedizin ist, die Mundgesundheit der Bevölkerung breitenwirksam zu verbessern, so muss eine Induzierung von Nachfrage nach Eingriffen mit fraglichem medizinischen Nutzen vermieden und demgegenüber ein Angebot zur Erhaltung funktionsfähiger oraler Strukturen nach dem Prinzip des primum nil nocere favorisiert werden. Dies ist auch deshalb zu fordern, um das Selbstverständnis unseres Berufsstandes als Teil des medizinischen Fächerkanons zu wahren.

Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Hans Jörg Staehle
Ärztlicher Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde des Universitätsklinikums Heidelberg
Mitherausgeber der Zahnmedizin up2date

    >