Notfall & Hausarztmedizin 2008; 34(5): 275
DOI: 10.1055/s-2008-1079371
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Keine Angst vor Opioiden - Schmerztherapie maßgeschneidert

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Publication Date:
05 June 2008 (online)

 
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Bei der Behandlung von Schmerzen stehen Ärzte verschiedenen Problemen gegenüber: Zum einen müssen sie die Ursachen der Schmerzentstehung klären, zum anderen muss ein adäquates Schmerzmittel in der richtigen Dosierung ausgewählt werden, das darüber hinaus die individuellen Bedürfnisse des Patienten berücksichtigen soll. Als Instrumentarium zur Therapie chronischer Schmerzen wird laut PD Dr. Michael Überall aus Nürnberg das WHO-Stufenschema, "viel zu oft in sklavischer Anwendung" verfolgt. "Dabei wurde das Stufenschema 1986 ursprünglich entwickelt, um Tumorschmerzen in Entwicklungsländern zu lindern", argumentierte er. Jedoch sei die Schmerztherapie in Deutschland unverändert durch ein zu langes Verharren auf der Behandlung mit entzündungshemmenden Analgetika und einen zu späten Einsatz stärker wirksamer, insbesondere opioiderger Analgetika gekennzeichnet. "Das ist eine klare Fehlentwicklung", kritisierte Überall, "denn Stufe-I-Analgetika bekommt jeder Patient, ohne zu überlegen." Dagegen sei die Hemmschwelle, Stufe-II- oder Stufe-III-Opioide zu verordnen, viel zu hoch.

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Fehlentwicklung in der Schmerztherapie

Auch Prof. Dirk O. Stichtenoth aus Hannover betonte, dass viele der Nicht-Opioid-Analgetika rezeptfrei zu erwerben sind um eine niedrigschwellige Schmerz(selbst)therapie zu ermöglichen, "obwohl Paracetamol und NSAR ein erhebliches Risikopotenzial besitzen und NSAR zu den am häufigsten zu tödlichen Nebenwirkungen führenden Medikamenten zählen." Eine Opioitherapie erfolgt meist erst nach einer mehrjährigen - meist frustranen und insuffizienten, häufig nebenwirkungsträchtigen - Therapie mit anderen Analgetika.

Als wesentliche Hauptursache dieser Fehlentwicklung sieht Überall die Betäubungsmittel-(BtM)-Pflicht der stark wirksamen Opioide. Hinzu kommt die gegenwärtig in der Publikumspresse diskutierte missbräuchliche Einnahme von Tilidin - das als Monosubstanz in der medikamentösen Schmerztherapie eigentlich nicht mehr eingesetzt wird - und der anscheinend dadurch hervorgerufenen Verhaltensauffälligkeiten und Gewalttätigkeiten. "Angesichts der verfügbaren Fakten sollte die Situation jedoch nicht dramatisiert werden", betonte Überall. Auch Stichtenoth rät dazu, das Missbrauchs-Problem nicht durch eine erschwerte ärztliche Verordnung, sondern durch Unterbindung des illegalen Erwerbs zu lösen.

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Entscheidende Vorteile für Tilidin/Naloxon-Kombination

Vor diesem Hintergrund bietet das nicht BtM-pflichtige Kombinationspräparat Tilidin/Naloxon (Valoron®) entscheidende Vorteile. Das Retardpräparat erlaubt die Behandlung akuter und chronischer Schmerzzustände unterschiedlichster Ätiologie und Pathogenese. Nach oraler Einnahme wird das Prodrug in der Leber in den aktiven Metaboliten Nortilidin umgewandelt. Das Präparat entfaltet seine Wirkung über die Aktivierung endogener µ-Opioidrezeptoren. Obwohl es als Prodrug nur schwach wirksam ist, wirkt die Kombination als µ-Antagonist - wie die stark wirksamen Opioide der WHO-Stufe III auch - durch Aktivierung endogener Rezeptoren auf die prä- und postsynaptischen Membranen von Neuronen des nozizeptiven Systems. Somit ist es sowohl für die Behandlung nozizeptiver Schmerzen (z. B. akute und chronische Gelenkschmerzen), neuropathische Schmerzen (z. B. bei diabetischer Neuropathie oder postherpetischer Neuralgie) als auch in der Therapie sogenannter gemischter Schmerzen (z. B. chronische unspezifische Rückenschmerzen) geeignet. Durch die Fixkombination gelingt es, die besonders in der Langzeitbehandlung gefürchtete Obstipation durch Opioide zu vermeiden. Auch berichten Patienten unter Tilidin/Naloxon wesentlich seltener über Müdigkeit, Somnolenz oder allgemeine Schwäche als unter BtM-pflichtigen Opioidanalgetika.

Da Opioide zu der Gruppe der "emotional vorbelasteten Wirkstoffe" zählen, sind laut Überall ausführliche Gespräche mit den Patienten notwendig. Auch Fragen zum Abhängigkeitspotenzial müssen ernst genommen werden. "Diese stellen jedoch in der Regel kein nennenswertes Problem mehr dar, wenn man dem Patienten die Wirkmechanismen allgemein verständlich erläutert", betonte Überall.

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Zeitgemäße Interpretation des WHO-Stufenschemas

Bei der "klassischen" Interpretation des WHO-Stufenschemas mit der aufsteigenden Verordnung der Stufen I, II und III sieht Überall folgendes Problem: "Wenn der Patient merkt, dass das Medikament nicht wirkt, macht er nicht mehr mit." Als zeitgemäße Interpretation empfiehlt er daher, die Stufen I, II und III individuell zu verordnen, durchaus auch in absteigender Intensität. Eine moderne Schmerztherapie muss seiner Meinung nach gezielt fragen, warum der Patient Schmerzen hat. Je nachdem, ob fehlende Botenstoffe, eine Entzündung oder eine Amputation die Ursache sind, müsse eine gezielte Adressierung erfolgen. In Zukunft könnte sich Überall sogar ein Opioid-Analgetikum als Basistherapie vorstellen, die eventuell mit verschiedenen weiteren Mechanismen kombiniert wird (Abb. [1]). "Eine moderne Schmerztherapie muss maßgeschneidert sein und nicht von der Stange", fasste Überall seine Ansprüche zusammen.

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Abb. 1 Künftige Interpretation desWHO-Therapieschemas?

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Quelle: Pressegespräch "Die Schmerztherapie mit Opioiden im Schlaglicht der Öffentlichkeit", April 2008 im Rahmen des Kongresses der DGIM in Wiesbaden. Veranstalter: Pfizer Pharma GmbH, Karlsruhe.

 
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Abb. 1 Künftige Interpretation desWHO-Therapieschemas?