Psychiatr Prax 2008; 35(5): 261-262
DOI: 10.1055/s-2008-1081448
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Thesen des Arbeitkreises Prävention von Gewalt und Zwang zu aktuellen Entwicklungen in psychiatrischen Kliniken

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Publication Date:
14 July 2008 (online)

 

Der Arbeitskreis zur Prävention von Gewalt in der Psychiatrie (www.arbeitskreis-gewaltpraevention.de ), ein informelles Forum mit Mitgliedern aus verschiedenen Berufsgruppen aus ca. 20 Kliniken in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und der Schweiz (mit einem Pendant mit vergleichbarer Aufgabenstellung in Norddeutschland), befasst sich wissenschaftlich und praktisch mit Fragen der Prävention von Gewalt und Zwang in psychiatrischen Kliniken. Auf der Frühjahrstagung 2008 wurden einige aktuelle Trends der psychiatrischen Krankenhausbehandlung diskutiert, woraus folgende Thesen hervorgingen:

Eine an der Normalisierung des Alltags und vertrauensvollen Beziehungen orientierte Milieugestaltung ist weiterhin eine Schlüsselstrategie zur Vermeidung von Gewalt und Zwang. Ob dies für alle Formen und Stadien psychischer Erkrankungen gültig ist, ist umstritten. Alternativ wird für Zustände mit erheblichen Beeinträchtigungen der kognitiven Funktionen und des Sozialverhaltens eine "Intensivbehandlungsphase" postuliert, die besonderer Strukturen (Räumlichkeiten, Überwachungsmöglichkeiten etc.) bedürfe. Die Aufrechterhaltung von alltagsnahen Stationsmilieus in der Akutpsychiatrie wird durch mehrere Entwicklungen erschwert: - zunehmend kürzere Verweildauern und damit einhergehend steigende Anzahl von Neuaufnahmen, - die immer weitergehende Ausdünnung der Personaldecke durch die zunehmenden Budget-Restriktionen, - die Konzentration schwieriger Patienten auf einzelnen Stationen, weil eine ausreichende Personalbesetzung für den Umgang auch mit schwierigen Patienten aus Budget-Gründen nicht mehr auf allen Stationen vorgehalten werden kann. Stetig zunehmende Anforderungen an das Qualitätsmanagement führen zur Durchregulierung und klaren Definition aller klinischen Prozesse. Dies kann in Bezug auf die Vermeidung von Gewalt und Zwang Verbesserungen wie systematische Risikobeurteilung, Transparenz und Einhaltung von Qualitätsstandards bringen, kann aber auch unbürokratische Konfliktlösungen, Intuition und Mut zu unkonventionellen Lösungen einschränken und damit wieder restriktiven Tendenzen Vorschub leisten. Als Lösungsweg kristallisiert sich an einigen Kliniken heraus, sog. "Intensivstationen" oder separate Subeinheiten von Stationen für die Betreuung schwieriger Patienten zu schaffen. Dies umfasst ein weites Spektrum von ganzen Stationen, die derartige Aufgaben übernehmen, über partiell schließbare Teile einer Station mit erhöhter Personalpräsenz, kleine separierte Intensivbetreuungseinheiten mit Wohncharakter innerhalb einer Station als moderne Alternative zu einer Isolierung bis hin zu "Intensivzimmern", wo Zwangsmaßnahmen durchgeführt und überwacht werden, ggf. auch unter Einsatz somatischer Überwachungsmaßnahmen wie Monitor. Andere Kliniken dagegen lehnen genau diese organisatorische Konzentration auf schwierige Patienten ab und setzen auf das Konzept von Durchmischung und Normalisierung. Eine Intensivbetreuung für Patienten in krisenhaften Zuständen mit möglicher Selbst- oder Fremdgefährdung, deren Anteil angesichts von Bettenabbau und Verkürzung der Verweildauern steigt, benötigt einen hohen Personalaufwand, geeignete räumliche Bedingungen und teilweise auch technische Ausrüstung und im Umgang damit kompetentes Personal (z.B. Monitorüberwachung). Eine Intensivbehandlung entsprechend den Intensivstationen in somatischen Krankenhäusern wird für psychiatrische Kliniken jedoch bisher nicht finanziert und ist deshalb bisher nicht oder nur mit schwierigen Kompromissen, z.B. der Umverteilung von Ressourcen zulasten der übrigen Patienten, leistbar. Es besteht Übereinkunft, dass derzeit keine generalisierbaren Lösungsvorschläge für die aufgezeigten Probleme bestehen. Je nach Charakter der Versorgungsregion, Aufgabenstellung und Größe einer Klinik können sehr unterschiedliche Konzepte angemessen sein, der geschilderten Entwicklung zu begegnen. Trotzdem sind mittelfristig Vergleiche und empirische Fundierungen der jeweils gefundenen und argumentativ gestützten Organisationsformen wünschenswert. Als Datenbasis dazu kann ein System multipler Qualitätsindikatoren für Zwangsmaßnahmen und fremdaggressive Handlungen dienen, das aber obligatorisch auch andere Outcome-Aspekte berücksichtigen und die Charakteristika der jeweiligen Klinik im Hinblick auf Bettenausstattung, Finanzierung und Klientel sowie die besonderen Merkmale der Versorgungsregion (städtisch vs. ländlich, konkurrierende Kliniken im Einzugsgebiet usw.) einbeziehen muss.

Tilman Steinert, Weissenau

(Sprecher des Arbeitskreises)

Email: tilman.steinert@zfp-weissenau.de