PiD - Psychotherapie im Dialog 2021; 22(03): 101-103
DOI: 10.1055/a-1215-1886
Resümee

Depression

Ideen für langwierige Verläufe und Interaktionen im Blick

In der PiD haben wir uns nun zum dritten Mal mit Aspekten rund um das Thema Depression beschäftigt. Das Resümee des vorangegangenen Depressionsheftes von 2013 lautete: „Es tut sich was in der Depressionsbehandlung“. Es gibt einen Unterschied zu diesem dritten Themenheft zu entdecken, das während der Pandemie und den uns alle betreffenden Lockdown-Maßnahmen zu ihrer Eindämmung entstanden ist. Bei aller Komplexitätsreduktion könnte das Fazit dieses Mal heißen: „Ideen für langwierige Verläufe und Interaktionen im Blick“.

Jetzt, wo die Infektionszahlen zwar sinken, sehen wir uns im psychosozialen Bereich wahrscheinlich mit einer anderen Welle konfrontiert: einer Vielzahl von Menschen,

  • die eine Behandlung aufgeschoben hatten,

  • die keinen Zugang zu Hilfen hatten,

  • die aufgrund einer Corona-Erkrankung erstmalig mit neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen konfrontiert wurden,

  • deren Partnerschaft ins Wanken geraten ist,

  • die aufgrund der anhaltenden Bedrohungslage und damit verbundenen Faktoren selbst in die Krise geraten,

  • Kinder und Jugendlichen, die mit einer höheren Krankheitslast zu kämpfen haben und häufiger als zuvor in suizidale Krisen geraten sind,

  • Menschen aller Altersgruppen, denen ihre Tagesstruktur verloren gegangen ist.

Für Personen mit depressiven Erkrankungen, die uns in Zukunft aufsuchen könnten, bringt uns Henning Schauenburg in einem ausführlichen Artikel auf den neuesten Stand in Forschung und Praxis mit all deren Komplexität und Vielfalt.

Fokus auf der „Persistierenden depressiven Störung“ …

Vielleicht verwundert es nicht, dass in diesen herausfordernden Zeiten in den Artikeln dieses Depressionsheftes überhäufig das Thema der langwierigen und schweren Verläufe aufgegriffen wurde. Doch möglicherweise hat dieser Fokus weniger mit der Pandemie und ihren Auswirkungen zu tun, sondern eher damit, dass die im DSM-5 erstmals aufgetauchte Kategorie der „persistierenden depressiven Störung“ auch unsere Aufmerksamkeit vermehrt auf diese Klient*innengruppe gelenkt hat. So sensibilisieren uns Tobias Krieger, Noëmi Seewer und Andrej Skoko für das Phänomen der chronischen Einsamkeit und seiner Bedeutung für therapeutische Prozesse – nicht nur in Bezug auf Depressionen. Matthias Backenstraß hat mit Blick auf die persistierende Depression Ansätze zu deren Behandlung zusammengetragen (CBASP, MCT, Schematherapie) und erwägt eine zeitliche und den Bedürfnissen der Klient*innen entsprechende Reihenfolge und Kombination dieser Ansätze. CBASP als Gruppenprogramm im stationären Kontext wird von Daniela Schultheis als konzeptionelle Weiterentwicklung empfohlen, da dieses Setting eine höhere Dosis interpersoneller Praxisarbeit ermöglicht und bei der Kombination aus stationärer und teilstationärer Behandlung einen besseren Transfer in den Alltag gewährleistet.

Lindsey Sankin und Nili Solomonov stellen verschiedene Behandlungsmodelle zur Verhaltensaktivierung vor, die gerade in der Basisversorgung gut geeignet und einfach zu implementieren sind. Auch hier findet sich, mit Blick auf die schweren Verläufe, wie Beziehungen als Verstärker nützlich gemacht werden können: Das neue Konzept „Engage & Connect“ nutzt die Interaktion mit signifikanten anderen Personen für die Belohnungspsychotherapie. Auch Bettina Wilms nimmt die schweren Verläufe in den Blick, wenn sie bei der Frage nach EKT oder Psychotherapie für das „Sowohl als Auch“ wirbt und die Einstellung der Beteiligten zu EKT oder Psychotherapie sowie die sich daraus ableitende Behandlungsstrategie hinterfragt. Lorena Brenner, Sophia Chrysanthou und Volker Köllner beleuchten die Möglichkeiten und Grenzen der Rehabilitation, wenn die Depression chronisch verläuft. Gerade für diese Patient*innengruppe wurden spezielle Rehabilitationskonzepte mit beruflicher Orientierung entwickelt (MBOR-Konzept).


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… und der sozialen Dimension von Depression

Im dritten Depressionsheft gibt es, wie in einigen der oben beschriebenen Ansätze schon erwähnt, einen weiteren Fokus zu entdecken – nämlich den der sozialen Dimension der Depression und der Bedeutung von Interaktionen. Auch das ist nicht verwunderlich in dieser Zeit, wo die Selbstverständlichkeit von Begegnung in Frage gestellt und im Erleben von so manchem sogar als bedrohlich verarbeitet wird. Das wird uns bei der Rückkehr zu Gruppenveranstaltungen und bei höheren Patient*innenzahlen in der Versorgung möglicherweise noch bewegen. Nicht wirklich neu, aber immer wieder bedeutsam und reflektierenswert sind Anregungen zu Beziehungsebenen: von Behandler*in und Patient*in, dem Kontext von Patient*innen und von uns Behandler*innen untereinander.

Betonen viele der bereits oben erwähnten Beiträge die Einschränkungen in der sozialen Interaktionsfähigkeit der Klient*innen und deren Bedeutung und Chancen für therapeutische Prozesse, so machen Corina Aguilar-Raab und Friederike Winter auf den reziproken Zusammenhang von depressiven Symptomen und Beziehungsqualität im familiären Bereich aufmerksam. Im PiD-typischen Diskurs beleuchten sie, wie verschiedene therapeutische Schulen Partner*innen in die Therapie miteinbeziehen und wie wirksam der jeweilige Ansatz ist. Sie werben dafür, dies auch im Einzelsetting häufiger zu nutzen und so explizit die verminderten Beziehungskompetenzen zu adressieren.

Birgit Watzke et al. schauen quasi aus dem Adlerhorst auf Behandlungsverläufe und kritisieren Defizite in der gängigen Versorgungspraxis: den fehlenden Zugang zu fachgerechter Behandlung, systematischer Behandlungsauswahl und Kontinuität der langen Behandlung. Sie stellen den in der Praxis noch zu wenig umgesetzten Stepped-Care-Ansatz vor, angereichert mit Denkanstößen, um Interaktionen von uns Behandlern und die aktive Gestaltung der Übergänge mehr in den Blick zu nehmen.

Andreas Czaplicki, Hanna Reich und Ulrich Hegerl nehmen in ihrem Artikel die Auswirkungen der Maßnahmen gegen Corona unter die Lupe. Als Risikofaktoren benennen sie die Zunahme der depressiven Symptome als Reaktion auf die belastenden Lebensumstände wie auch die eingeschränkte Erreichbarkeit der medizinischen Versorgung und plädieren dafür, trotz des Ziels, das Infektionsgeschehens zu dämpfen, die gesundheitlichen Schäden an anderer Stelle nicht aus dem Blick zu verlieren.

Den Nutzen – und das nicht nur in Lockdown-Zeiten – sog. „digitaler Gesundheitsanwendungen“ stellen Gwendolyn Mayer und Jobst-Hendrik Schultz vor. Sie geben einen Überblick über Stand der Entwicklung und Evidenzlage. Dabei wird deutlich, dass dieses Angebot das reguläre psychotherapeutische Angebot wirksam ergänzt und dabei helfen kann, die Wartezeit auf einen Therapieplatz gut zu überbrücken.

Zum Thema Antidepressiva sind in diesem Heft eher kritische Stimmen vertreten. So lädt der Artikel zur Wirksamkeit von Antidepressiva von Martin Plöderl und Thorsten Padberg uns alle ein, die uns vertraute Haltung, dass Antidepressiva sicher und gut verträglich seien, zu überdenken. Auch Lisa Hullmeine und Tom Bschor betonen, dass angesichts der begrenzten Wirksamkeit der Antidepressiva eine strukturierte Anwendung nach klaren Konzepten dringend erforderlich ist, um die Effekte dieser Medikamentengruppe zu optimieren. Sie empfehlen, die Behandlungsmöglichkeiten mit dem neuzugelassenen intranasalen Esketamin hinsichtlich Chancen und Risiken gut im Blick zu behalten.

Wir hoffen, dass Sie sich – ebenso wie wir – nun gut versorgt fühlen mit frischen Ideen, mit Ansätzen für langfristige Begleitung, mit Impulsen und Mut für neue Wege, z. B. der digitalen Unterstützung, und mit einem freudvollen Blick auf Chancen der Interaktionen.

Und wer selbst Lust auf Freizeitgestaltung jenseits der eigenen vier Wände verspürt, sei herzlich eingeladen zu der Ausstellung „Bilder meiner Depression“, die 2021/22 in der einen oder anderen Stadt zu sehen sein wird.

Claudia Dahm-Mory

Michael Broda

Henning Schauenburg


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Publication History

Article published online:
27 August 2021

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