PiD - Psychotherapie im Dialog 2021; 22(03): 111
DOI: 10.1055/a-1491-5877
Backflash

„Meeting“ – die echte Alternative zur Arbeit

Zoom Image
(Quelle: ST.art/stock.adobe.com)

Mitten im zweiten Jahr mit diesem kleinen, aber maximal erfolgreichen Ärgernis namens COVID mag diese Kolumne etwas museal-romantisch beginnen – aber stellen Sie sich einmal vor, es wäre das Ende des Jahres 2019, Sie hätten Ihre Terminplanung für das kommende Jahr vor sich und …

Ein Stöhnen ist zu hören: Schon wieder ein „Meeting“ nach dem anderen! Zu Deutsch auch immer noch gern Konferenz, Arbeitsgruppentreffen o. ä. genannt. Sofort stellen sich typische Szenen vor dem inneren Auge ein: Eine Kollegin, die nur sporadisch zu einer regelmäßigen AG erscheint, begrüßt einen sich akribisch an- und-abmeldenden Kollegen mit den Worten „Ach, Sie auch mal wieder hier?“ Der ausgesprochen adipöse Teilnehmer, der als nächstes eintrifft, befüllt als erste Amtshandlung einen deutlich zu kleinen Teller mit drei Brötchenhälften. In der Zwischenzeit fragt der Vorsitzende eines Verbandes, jeden Smalltalk übertönend, nach dem Passwort für das WLAN, um seine eigene Bedeutung zu betonen. Besonders geschäftige Kollegen beantworten durchgängig E-Mails – allerdings verlieren sie zwischendurch auch gern mal den Faden der Diskussion …

Das alles ist nun ja anders: Für die Verköstigung muss mensch in aller Regel selbst sorgen, und wenn alle brav das Mikro stumm stellen, ist auch der Hund nicht zu hören oder das nervöse Herumspielen am Kugelschreiber. Wie die Person, die auf dem Bildschirm zu sehen ist, „untenrum“ gekleidet ist, sieht im besten Falle niemand, und die Frage, welche Kolleg*innen im Lagerfeld’schen Sinne die Kontrolle über ihr Leben verloren haben, bleibt daher ebenfalls unbeantwortet. Nun können wir – je nach genutzter Software – neben einer Besprechung oder Tagung im Chat über Privates tratschen, ohne dass wir mit Nebengesprächen negativ auffallen, und wenn der Bildschirm ausgestellt ist, ist grundsätzlich alles möglich: Mittagsschlaf, Fußnägel schneiden, Katze füttern oder, oder …

So manches hat sich geändert: Wir verbringen längst nicht mehr so viel Zeit auf dem Weg von A nach B (auch Dienstreise genannt), lassen uns leichter zum Multitasking verführen (z. B. Teilnahme an zwei Konferenzen gleichzeitig) – und es könnte den Anschein erwecken, als seien wir am Arbeitsplatz präsenter. Oder?

Seit ich neulich das Schild: „Bitte nicht stören – Videokonferenz“ an einer Tür prangen sah, war ich da nicht mehr so sicher. Vielleicht hat sich ja schon längst ein neues ehrenwertes Argument für Abwesenheit in der Anwesenheit entwickelt? Chirurg*innen können immer sagen, sie befänden sich im OP. Von Ehrfurcht geschüttelt, fragt dann niemand weiter nach. Wir sind jetzt in der „VK“. An der Ehrfurcht müssen wir noch arbeiten, aber sonst …

Bettina Wilms, Querfurt



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Article published online:
27 August 2021

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