Aktuelle Urol 2021; 52(06): 537-538
DOI: 10.1055/a-1544-9921
Editorial

Interstitielle Zystitis

Interstitial Cystitis
Klinik für Urologie, Andrologie und Kinderurologie, Interdisziplinäres Kontinenz- und Beckenbodenzentrum, Zentrum für Interstitielle Zystitis (IC) und Beckenschmerz, Klinikum Weiden/Klinken Nordoberpfalz AG, Weiden Deutschland
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Liebe Leserinnen und Leser,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

die interstitielle Zystitis (IC/BPS) verliert mehr und mehr ihr Schattendasein. Nicht zuletzt durch die Erstellung der ersten deutschen S2k Leitlinie Diagnostik und Therapie der Interstitiellen Zystitis (IC/BPS) [AWMF-Register-Nr.: 043/050] rückte dieses Krankheitsbild zunehmend in das Bewusstsein von Behandlern aber auch Patientinnen und Patienten. Durch die Etablierung der IC-Zentren und -Beratungsstellen wird aktuell an unterschiedlichsten Kliniken und in verschiedensten Praxen Expertise gebündelt. Ziel war es, die Odyssee der Patientinnen und Patienten bis zur Diagnosestellung von einst durchschnittlich ca. neun Jahren auf ein Minimum zu reduzieren. Und ich kann sagen, wir sind auf einem guten Weg.

Dieses Themenheft soll nun einen umfassenden, im Wesentlichen praxisbezogenen Überblick rund um die IC/BPS liefern. Zunächst beleuchten Jochen Neuhaus und Andreas Gonsior aktuelle Aspekte in der Entstehung der interstitiellen Zystitis. Die Autoren beschreiben ein komplexes Netzwerk von Pathomechanismen einschließlich neuester Erkenntnissen rund um genetische und epigenetische Faktoren. Daniela Schultz-Lampel und Antje Foresti stellen das praktische Vorgehen zur Diagnostik der interstitiellen Zystitis vor. Ziel der Autorinnen war es, ein strukturiertes Vorgehen an die Hand zu geben, um Patientinnen und Patienten möglichst schnell einer Therapie zuführen zu können. Der Artikel enthält immer wieder praktische Tipps zur Umsetzung der unterschiedlichen Schritte einer Stufendiagnostik, sodass dem Leser wertvolle Informationen für die Umsetzung im eigenen Klinik- und/oder Praxisalltag gegeben werden. Des Weiteren finden Sie als Leser einen zusammenfassenden Algorithmus, einen Workflow, der Ihre diagnostische Arbeit bei IC/BPS-Patientinnen und -Patienten erleichtern soll. Die orale Therapie mit Pentosanpolysulfat, als einzig zugelassene und kausal wirkende orale Therapieform der interstitiellen Zystitis, wird im Artikel von Andreas Wiedemann beleuchtet. Hierbei wird nicht nur deren Wirksamkeit und die doch sehr fragliche Assoziation zur pigmentären Makulopathie diskutiert, sondern auch die aktuelle Problematik der Verordnung und Patientenversorgung, ausgelöst durch den Rechtsstreit zwischen Kostenträgern und Hersteller. In einem weiteren Artikel beschäftigen sich Thomas Bschleipfer und Björn Theodor Kaftan mit den interventionellen Therapieformen. Der Beitrag soll kritisch darlegen, dass unterschiedliche Verfahren im Rahmen eines interventionellen bis operativen Vorgehen keinesfalls nur eine Ultima Ratio in der Therapiekaskade der interstitiellen Zystitis darstellen. Ihr auch frühzeitiger Einsatz im Rahmen eines multimodalen Vorgehens kann hocheffektiv zur Linderung der Symptomatik und Verbesserung der Lebensqualität beitragen, sofern dieses Vorgehen individuell auf den Patienten abgestimmt ist. Dass die interstitielle Zystitis mit psychischen und physischen Komorbiditäten assoziiert ist, liegt mehr als nahe und ist hinlänglich bekannt. Regula Doggweiler und Thomas Bschleipfer geben einen Überblick, der nicht nur die Belastungssituation für Patientinnen und Patienten, sondern auch Wechselbeziehungen zwischen Physis und Psyche erklärt. Zum diagnostisch-therapeutischen Stufenkonzept einer IC/BPS zählen abschließend auch die rehabilitativen Maßnahmen, welche Winfried Vahlensieck und Koautoren in einem detaillierten Überblick darstellen. Diese „Komponenten einer modularen Rehabilitation“ tragen dazu bei, dass immerhin zwei Drittel der Patientinnen und Patienten am Ende einer solchen Reha-Maßnahme eine wesentliche Besserung aufweisen, welche bei ca. 50% der Patientinnen und Patienten auch langfristig anhält. Abschließend beschreibt Bärbel Münder-Hensen die Arbeit, das Engagement und die Ziele des ICA-Deutschland e. V. mit seiner hohen Wichtigkeit für die Patienten und Patienten mit IC/BPS. Die Autorin selbst und ihr Ehemann Jürgen Hensen wurden für ihr unermüdliches Streben 2013 durch den Bundespräsidenten mit dem „Verdienstorden am Bande“ der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Allein das zeigt die Wichtigkeit des ICA-Deutschland e. V. als Ansprechpartner und Informationsquelle für Patientinnen und Patienten aber auch als Knotenpunkt zwischen Therapeuten, Betroffenen und Industrie. Ohne die Arbeit des ICA-Deutschland e. V. wären wir alle sicherlich nicht derart effektiv und schnell dem Ziel nahegekommen, unseren Patientinnen und Patienten deutlich schneller als früher effektive Hilfe anbieten zu können.

Ich persönlich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine spannende Reise durch die unterschiedlichsten Aspekte der interstitiellen Zystitis mit vielen kritischen Gedanken. Wenn auch durch unsere Leitlinie, IC-Zentren und -Beratungsstellen eine Basis geschaffen wurde, die Diagnostik und Therapie unserer Patientinnen und Patienten zu strukturieren und zu beschleunigen, so sehen wir uns dennoch zahlreichen Problemen konfrontiert: der Zeitaufwand in Praxis und Klinik ist enorm, eine Vergütung des Aufwandes ist nicht abbildbar. Unsere Patientinnen und Patienten sind nicht zuletzt durch die Haltung der Kostenträger System-bedingt unterversorgt. Zudem müssen sie zahlreiche diagnostische und therapeutische Maßnahmen selbst tragen und sehen sich vor hohen, kaum leistbaren Eigenkosten. Wir selbst bräuchten deutlich mehr Studien, um ein besseres Verständnis des Krankheitsbildes zu bekommen und effektivere Therapieformen etablieren zu können. Letztlich würde ich persönlich auch ein nationales Register für unsere IC/BPS-Patienten begrüßen. Die im Wesentlichen bürokratischen und formalen Hürden sind jedoch kaum überwindbar. Dennoch soll dies unseren Einsatz und unser Engagement für oder besser gegen ein derart lebenszerstörendes Krankheitsbild nicht mindern. Wir bleiben am Ball, wie diese Artikel ausdrucksvoll zeigen.

Mit herzlichen Grüßen,
Ihr
Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Bschleipfer, F.E.B.U.



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Article published online:
30 November 2021

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