Z Geburtshilfe Neonatol 2022; 226(02): 81
DOI: 10.1055/a-1768-6133
Editorial

Wenn Hilflosigkeit in Wut und Wut in Gewalt umschlägt

Dominique Singer
1   Sektion Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Zentrum für Geburtshilfe, Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), Hamburg
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Liebe Leserinnen und Leser,

wohl allen im Kreißsaal Tätigen ist der Effekt bekannt: Aus neonatologischer Erfahrung ist es vor allem die Nachricht, dass ein Neugeborenes wegen einer Anpassungsstörung „mitgenommen“ werden muss, die mitunter wütende Reaktionen hervorruft. Ursache hierfür ist – einigermaßen offensichtlich – ein Aversions-Aversions-Konflikt: Auf der einen Seite wollen sich die jungen Eltern das ersehnte Geburtserlebnis nicht nehmen lassen. Auf der anderen Seite möchten sie ihrem neugeborenen Kind keine notwendige Behandlung vorenthalten. Wird die so empfundene Ausweglosigkeit als Quelle der Wut erkannt, lassen sich die Emotionen mit etwas Feingefühl meist rasch wieder „einfangen“. Neu, und neuerdings auch in den Medien präsent, ist der Umstand, dass derlei Emotionen immer öfter in veritable Gewalt gegen Klinikpersonal umschlagen. Das Phänomen ist vor allem im Rettungsdienst und in Notaufnahmen virulent, also überall dort, wo – ähnlich wie beim elementaren Geburtserlebnis – die Gefühle der Hilflosigkeit besonders ausgeprägt sind. Es scheint aber, wie eine in dieser Ausgabe unserer Zeitschrift nachzulesende Studie zu Gewalterfahrungen in Berliner Kreißsälen aufzeigt, weitere Faktoren sowohl auf Seiten der „Täter“ (Ungeduld, überzogene Erwartungshaltung, sprachliche und kulturelle Verständigungsschwierigkeiten) als auch der „Opfer“ (Organisationsmängel, Erschöpfung, Unerfahrenheit) zu geben, die sich gewaltbegünstigend auswirken – neben einer hochgradig irritierenden Absenkung der Aggressionsschwelle gegenüber helfenden Berufen allgemein. Es ist wichtig, die Grenzüberschreitung von der individualpsychologisch verständlichen Reaktion zu der sozialpsychologisch bedenklichen Entwicklung zu benennen, um das Phänomen aus der Tabuzone zu holen und die potenziell Betroffenen mit präventiven Fertigkeiten auszustatten.



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Article published online:
12 April 2022

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