Tierarztl Prax Ausg G Grosstiere Nutztiere 2022; 50(02): 140-141
DOI: 10.1055/a-1814-6426
Diskussion

Die medizinische Versorgung der Nutztiere (am Beispiel von Milchviehbetrieben), vor dem Hintergrund der heutigen Struktur in der Landwirtschaft und der personellen Leistungsfähigkeit der Tierärzteschaft

Rainer van Aerssen
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Michael Schmaußer
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Axel Wehrend
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Volker Krömker
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Alexander Starke
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Georg Eller
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Martin Gehring
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Reiner Schneichel
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Franz Zimmer

Die Zahl der kuhhaltenden Betriebe sinkt stetig, während die der Kühe in Deutschland noch annähernd konstant bleibt. Daraus resultiert, dass Betriebe, welche auch in Zukunft Milch und Rindfleisch produzieren wollen, größer werden, sich entwickeln und erneuern.

Wir halten das für Tier und Mensch, ohne Wertung der wirtschaftlichen Zwänge, die diese Entwicklung forcieren, für positiv. Neue Stallungen für Rinder bieten gute Haltungsbedingungen. Verbreitete moderne Sensortechnik ermöglicht eine sensible Überwachung, insbesondere bei der Früherkennung kranker Tiere. Auf vielen Betrieben arbeitet gut ausgebildetes Personal, z. T. mit akademischem Hintergrund. Arbeitsabläufe und Verantwortlichkeiten sind oft genau definiert. Nach wie vor ist die schnelle Erkennung und Versorgung kranker Einzeltiere ein zentrales Anliegen, was durch die Größe der Betriebe nicht an Bedeutung verliert.

Treten vermehrt gesundheitliche Probleme bei Kühen auf, z. B. Mastitiden oder Metritiden, kann das auf einem großen Betrieb bedeuten, dass zeitweise jeden Tag neue Tiere erkranken.

Nach der Interpretation vieler Veterinärbehörden bedingt die derzeitige Gesetzeslage (TAMG, TÄHAV), dadurch dass die Diagnose nur von einem Tierarzt gestellt werden kann, dass bei jedem Einzelfall, unabhängig von dessen Schweregrad oder Spezifität, die Anwesenheit eines Tierarztes Bedingung ist für die Einleitung einer Behandlung mit Tierarzneimitteln. Der Umgang mit der Gesetzesvorgabe wird in den Bundesländern zudem sehr unterschiedlich gehandhabt. Rechtsunsicherheit für uns Tierärztinnen und Tierärzte ist die Folge. Vor allem aber ergibt sich daraus, vor dem Hintergrund verfügbarer Tierärzte für Nutztiere, ein tierschutzrelevantes, logistisches Problem. Viele kranke Tiere können so nicht zeitnah behandelt werden. Notfälle wie Schwergeburten oder chirurgische Eingriffe haben Vorrang, und die schiere Anzahl einfach gelagerter Fälle verhindert deren frühzeitige Versorgung.

Dabei wäre bei einer Mastitis, welche üblicherweise beim Melken durch Landwirte oder deren Personal erkannt wird, einer je nach Schweregrad schmerzhaften Erkrankung, eine sofortige Behandlung für die Prognose unstrittig zuträglich. Schmerzausschaltung, Entzündungshemmung und eine lokale, antibiotische Versorgung der Milchdrüse könnten durch eine unmittelbare Verabreichung von eingewiesenem Personal des landwirtschaftlichen Betriebes erfolgen, welches nach einem vom Tierarzt festgelegten Behandlungsschema handelt, und nicht erst nach Stunden, wenn es der Tierarzt oder die Tierärztin in ihrem Tagesablauf schafft, den Betrieb zu besuchen.

Die strenge Auslegung der gesetzlichen Vorgaben darf nicht dem im Artikel 20a des Grundgesetzes festgelegten Tierschutz entgegenstehen. Die gültigen Gesetzesvorlagen machen einen flexiblen Umgang mit dem Begriff der klinischen Untersuchung als Vorrausetzung für die Entscheidung zur Behandlung mit bzw. Abgabe von Tierarzneimitteln bei Nutztieren möglich: § 12 der TÄHAV differenziert, dass „die Tiere oder der Tierbestand in angemessenem Umfang vom Tierarzt untersucht worden sind“. Die ab 28.01.2022 rechtsverbindliche EU VO 2019/06 spricht von „klinischer Untersuchung oder einer anderen angemessenen Prüfung“. Der Gesetzgeber gibt hier, nicht ohne Grund, mehr Spielraum. Flexibilität und Vereinheitlichung auf Behördenebene sind auch im Sinne der Verordnung (EU) 2016/429 (EU-Tiergesundheitsrechtsakt/Animal Health Law = AHL).

Diesen modernen Gesetzesvorgaben muss in Interpretation und Umsetzung durch alle Kontrollorgane, Veterinär- und Landesbehörden, für Landwirtschaft und Tierärzteschaft gleichermaßen Rechnung getragen werden: Behandlungsentscheidungen müssen auch ausschließlich aufgrund von Laborbefunden, Gesundheitsdaten oder Telemedizin, unter genauer Kenntnis der betrieblichen Gegebenheiten getroffen werden können.

Die hohe Arbeitsbelastung in der Nutztiermedizin, welche der Grund für den Arbeitskräftemangel in diesem Bereich ist, könnte durch Vermeidung von Besuchen für eindeutig erkennbare Krankheiten, hin zu mehr Zeit für Sanierungskonzepte und evaluierende Bestandsbesuche, reduziert werden.

Die Nutzung von gut ausgebildetem Personal auf den landwirtschaftlichen Betrieben, in enger inhaltlicher Zusammenarbeit mit der betreuenden Tierarztpraxis, zur primären medizinischen Versorgung von leidenden Nutztieren ist notwendig.

Die Abgabe von Arzneimitteln für Tiere, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in der Zukunft erkranken können, ist rechtlich möglich und notwendig.

Die Unterzeichnenden, eine Gruppe aus Universitätsprofessoren der veterinärmedizinischen Hochschulen und Rinderpraktikern, möchten darüber eine Diskussion zur Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen der tierärztlichen Arbeit für Nutztierbestände durch alle Beteiligten anstoßen.

Folgende Aspekte möchten wir dazu initial beitragen:

  • Die Aufgabenverteilung von Beschäftigten in landwirtschaftlichen Betrieben und Tierärzten muss betriebsindividuell festgelegt werden. Dieses hängt von den Fähigkeiten der beteiligten Personen und den Produktionsbedingungen ab.

  • Erfassung von tiergesundheitlichen Basisdaten (Erkrankungshäufigkeiten), Leistungsdaten und deren Entwicklung.

  • Schulung des Betriebspersonals (frühzeitige Erkennung und Interpretation von Befunden am Tier, Umgang, Applikation und Lagerung von Medikamenten sowie Dokumentation und Therapiekontrolle, Biosicherheit)

  • Erstellung von diagnostischen Maßnahmenkatalogen und Therapieplänen

  • Ergänzende Einbindung digitaler Tools als Komponenten moderner medizinischer Arbeit in die Herden- und Einzeltierbetreuung – z. B. Telemedizin, Laborbefunde und Gesundheitsdaten. Durch Telemedizin können Tiere zeitnah beurteilt und notwendige tiergesundheitliche Entscheidungen bei größtmöglicher Biosicherheit getroffen werden. Das ist für die Vermeidung der Verzögerung des Behandlungsbeginns und damit der Verbesserung der Tiergesundheit und des Tierwohls von Nutztieren erforderlich.

Dies soll ein Beitrag für eine zeitgemäße tiergesundheitliche Entwicklung der landwirtschaftlichen Betriebe und des One-Health Ansatzes (Tierwohl, Resistenz- und Antibiotikaminimierung, Zoonosebekämpfung, sichere Lebensmittel tierischer Herkunft) sein.

Die großen Veränderungen in Gesellschaft, Landwirtschaft und Tiermedizin brauchen neue Konzepte.

Wir würden uns freuen, wenn Sie sich an dem Diskussionsprozess beteiligen.

Senden Sie ihre Meinung an vetherdhealth@gmail.com.

Vielen Dank für Ihr Interesse!



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
06. Mai 2022

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