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DOI: 10.1055/a-1955-1313
Henriette Kaiser: Goethe in Buenos Aires
„Goethe in Buenos Aires“ von Henriette Kaiser enthält Lebensgeschichten jüdischer Menschen, deren Leben in Deutschland unter der Herrschaft der Nazis zunehmend bedroht war und die eine Möglichkeit zur Flucht suchten. Argentinien nahm zu dieser Zeit diese Menschen auf, was zweifelsohne weit weniger bekannt ist als die Aufnahme zahlreicher Nazi-Größen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dies rückt die Autorin und Filmregisseurin Henriette Kaiser in den Blick, indem sie einige Menschen in Buenos Aires und dessen Umland aufsucht und, nach bald 80 Jahren, ihre Lebensgeschichten einfängt. Alle Gespräche werden offenbar – für einen ursprünglich geplanten Dokumentarfilm – vor laufender Kamera geführt, und die ausführlichen Wortprotokolle geben den betagten Personen Raum. Thematisch geht es um das Verlassen der Heimat, die Ankunft in diesem fremden Land, in dem so vieles anders ist: die Jahreszeiten, die klimatischen Verhältnisse, die Sprache und die Landschaft. Es geht um erste Eindrücke, wie man aufgenommen wurde und wie schwer es für die Eltern war, eine Bleibe zu finden, sich verständlich zu machen, beruflich Fuß zu fassen. Einige Sätze seien zitiert, denn sie veranschaulichen die unterschiedlichen Erlebnisse und Perspektiven: „In mir ging nichts vor. Ich habe nichts verstanden und man hat mir nichts erklärt. Eines Tages hieß es, wir fahren nach Argentinien.“ (Marion Kaufmann, S. 115) Eine andere Dame erinnert sich: „Meinen Eltern hat Deutschland sehr gefehlt, vor allem die Landschaft.“ (Liesel Bein, S. 19)
Die damals sehr jungen Menschen lernen überwiegend rasch die Sprache, besuchen die Schule oder müssen früh anfangen zu arbeiten. Sie berichten vom Erwachsenwerden in diesem neuen Land, von Arbeitssituationen und ihrer Familiengründung. Die frühere Heimat blieb ein ferner Ort. Zwar bleiben Sprache, Erinnerungen und einige kulturelle Gepflogenheiten erhalten, aber offenbar gibt es keine Sehnsucht, nach Deutschland zurückzukehren. Zwischen die einzelnen Lebensgeschichten werden informative Texte zu Argentinien eingestreut, von denen vermutlich diejenigen profitieren, die das Land kaum kennen. Die Autorin bereist bei ihren Aufenthalten in Argentinien einige zentrale Orte der Geschichte. Unter anderem wird die Pestalozzischule vorgestellt, die in fast allen Interviews eine Rolle spielt. Ein Besuch im Goethe-Institut wirft die Frage auf, wen noch interessiert, was so lange zurückliegt. Schließlich wird die Perspektive noch einmal geweitet, durch Gespräche mit Personen aus der zweiten Generation und einer anderen Autorin, die zuvor ein Buch über die deutschen Juden in Argentinien verfasst hat. Fünf unterschiedliche Biografien werden lebendige Zeugnisse einer durch die Autorin zutage geförderten Geschichte.
Abschließend präsentiert Henriette Kaiser im Kapitel „Die Anderen“ noch ein paar Streiflichter. Am Ende steht die Geschichte über die Liebe zwischen der Tochter eines Nazis und einem Überlebenden von Auschwitz. Eine Liebe, die für viele unvorstellbar ist.
Ein wissenschaftlich geprägter Blick auf dieses Buch ist sicher fehl am Platz – man gewinnt Eindrücke, kann die Schilderungen der Protagonisten sofort auf aktuelle Fluchtbewegungen transferieren und blickt mit anderen Augen auf Argentinien, weil man dieses Land bisher nicht mit der Rettung deutscher Jüdinnen und Juden in Verbindung gebracht hat. Dies ist das Verdienst der Autorin und derjenigen, die ihr als letzte Zeitzeugen ihre Geschichten anvertraut haben.
Nicola Bargfrede, Nordhausen
Publication History
Article published online:
31 May 2023
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