Z Sex Forsch 2023; 36(03): 188-189
DOI: 10.1055/a-2114-5110
Buchbesprechungen

Einführung in die Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung. Basisbuch für Studium und Weiterbildung

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Heinz-Jürgen Voß. Einführung in die Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung. Basisbuch für Studium und Weiterbildung. Stuttgart: Kohlhammer 2022. 237 Seiten, EUR 36,00

Die von Heinz-Jürgen Voß, Professor für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung am Fachbereich Soziale Arbeit.Medien.Kultur der Hochschule Merseburg, vorgelegte „Einführung in die Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung“ ist erklärtermaßen an einer zeitgemäßen Neubestimmung des Faches interessiert. Das Buch gliedert sich in acht Kapitel.

Die Einleitung (Kapitel 1) erläutert zunächst den Bedarf einer Neuorientierung: Die Sexualpädagogik habe, vielleicht stärker als andere erziehungswissenschaftliche Gebiete, seit Mitte der 1990er-Jahre deutliche Veränderungen durchgemacht, vor allem in vier Bereichen: 1. zunehmende Offenlegung von und Sensibilisierung für sexuelle Grenzverletzungen und Gewalt an pädagogischen Einrichtungen, 2. zunehmende Sichtbarkeit und Anerkennung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, 3. zunehmende gesellschaftliche Banalisierung und Pädagogisierung des Sexuellen sowie 4. zunehmende Kritik an Stereotypisierungen und Forderung nach intersektionalen Zugängen, die Mehrfachdiskriminierungen aufdecken. Diesen Bedingungen müsse eine zeitgemäße Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung Rechnung tragen.

Kapitel 2 erläutert zentrale Prämissen aktueller Sexualpädagogik und Sexueller Bildung. Dazu gehört die Prämisse, dass Sexualität ein Grundbedürfnis für viele, aber eben nicht für alle Menschen sei. Damit werden asexuelle Menschen sichtbar gemacht. Zudem wird u. a. das von der Weltgesundheitsorganisation entwickelte und an den Menschenrechten orientierte Rahmenmodell der sexuellen und reproduktiven Rechte vorgestellt. Kapitel 3 widmet sich den begrifflichen Abgrenzungen zwischen Sexualpädagogik, Sexualerziehung und Sexueller Bildung. Kapitel 4 geht kursorisch auf die Veränderungen des Sexualverständnisses von der Antike bis zum Nationalsozialismus ein. Kapitel 5 skizziert die historische Entwicklung der Sexualpädagogik in Ost- und Westdeutschland von der Nachkriegszeit bis heute. Kapitel 6 geht auf die heutige Sexualpädagogik in Deutschland ein, differenziert nach Kita und Schule und unter Rückbezug auf rechtliche und psychosexuelle Grundlagen. Kapitel 7 thematisiert Sexuelle Bildung im Erwachsenenalter als lebenslangen Prozess der Selbstaneignung. Das achte und letzte Kapitel ist ein Appell, Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung intersektional fortzuentwickeln, etwa um auf eine diskriminierungsfreie Arbeit mit jungen Menschen mit Migrationsgeschichte vorbereitet zu sein.

Als sogenanntes „Basisbuch“ ist die Einführung bewusst kurzgehalten, somit wird oft exemplarisch argumentiert. Die einzelnen Kapitel werden durch Definitionsboxen, Exkurse, Tabellen und Grafiken aufgelockert und Verweise auf Materialien ergänzt. Somit ist das Buch gut zugänglich und leicht verdaulich. Der Fokus liegt dabei weniger auf konkreten sexualpädagogischen Ansätzen, Methoden oder Fragen, sondern eher auf der Meta-Ebene der Werte, Rechte und Normen, die in der Sexuellen Bildung reflektiert, bekräftigt oder hinterfragt werden können. Als Einstiegslektüre und Arbeitsbuch ist die Monografie empfehlenswert.

Dem Autor ist völlig zuzustimmen in der Haltung, dass eine zeitgemäße Sexualpädagogik sich ihrer historischen Wurzeln bewusst sein muss. Und tatsächlich bergen die historischen Exkurse viele Anknüpfungspunkte an aktuelle Debatten, auch wenn diese im Buch nur selten genauer ausgeführt werden können. Aber vielleicht können sie zum Weiterlesen und Weiterdiskutieren anregen. So etwa das Beispiel der beiden Schülerinnen Christa Appel und Zlila Drory, Redakteurinnen der Schülerzeitschrift „Bienenkorb-Gazette“, die im Februar 1967 an einem Mädchen- und einem Jungengymnasium in Frankfurt am Main eine Fragebogenerhebung zum Thema Sexualität und Sexualaufklärung starteten (S. 103 ff.). Ihr im Buch abgedruckter Fragebogen ist mehr als ein halbes Jahrhundert später verblüffend aktuell …

Etwas unterbeleuchtet erscheint leider die Digitalisierung des Sexuellen, die in der Einleitung gar nicht als zentraler Veränderungsfaktor der letzten Jahrzehnte vorkommt. Dabei gehört zur Neubestimmung der Sexualpädagogik sicher auch eine digitale Wende dazu. Denn wenn es um Lust und Frust im sexuellen Erleben von Jugendlichen und Erwachsenen geht, sind digitale Medien schließlich oft mitbeteiligt. Und gerade wenn es um lebenslanges sexuelles Lernen und soziale Unterstützung bei sexuellen Themen jenseits des Mainstreams geht, sind hochwertige digitale Materialien und Vermittlungsformate unverzichtbar.

Heinz-Jürgen Voß würde seinen eigenen Ansatz sicher als vielfaltsbewusste, Selbstbestimmung fördernde und Sexualität bejahende Sexualpädagogik einordnen (S. 41 f.). Dennoch vermittelt die Lektüre insgesamt ein problemzentriertes Bild: Gewalt, Herrschaft und Diskriminierung nehmen gefühlt deutlich mehr Raum ein als Lust, Lebendigkeit und Liebe. Ist womöglich genau dieser ernüchterte und ernüchternde Blick auf Sexualität zeitgemäß für die heutige Sexualpädagogik?

Nicola Döring (Ilmenau)



Publication History

Article published online:
12 September 2023

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