Notaufnahme up2date 2024; 06(01): 3-4
DOI: 10.1055/a-2204-7892
Editorial

Vertrauliche Spurensicherung nach Gewaltdelikt – Finanzierung über das Masernschutzgesetz ist bisher keine gelebte Praxis

Contributor(s):
Benjamin Ondruschka

Liebe Leserinnen und Leser,

wieder ist ein Jahr vorbei und wir starten bereits in den 6. Jahrgang von Notaufnahme up2date. Für dieses neue Kalenderjahr wünschen wir Ihnen gemeinsam 366 Tage voller Gesundheit, Freude und Erfüllung in unserem tollen Beruf sowie persönliches Glück.

In unseren Notaufnahmen steht neben nicht-traumatologischen Notfällen auch die Versorgung von Verletzungen nach Unfällen, Fremdeinwirkungen oder selbstverletzendem Verhalten auf der Tagesordnung. Während die kurative Medizin ihren Blick unter der Perspektive der Heilbehandlung nach vorn richtet und die, für die jeweilige Situation bestpassende chirurgische, interventionelle oder konservative Maßnahme festlegt, ist den Betroffenen und Opfern von Gewalteinwirkungen hinsichtlich einer potentiellen juristischen Ahndung nebst Schmerzensgeldzahlungen nur dann suffizient geholfen, wenn die Befunddokumentation Mindeststandards erfüllt und Kausalitätsprinzipien hinsichtlich der verursachenden Kräfte und resultierender Befundbilder adäquat beantworten kann. Dies kann im praktischen Alltag nicht (mehr) durch den „ärztlichen Allrounder“ alleine gelingen, sondern braucht spezielles Fachwissen. Rechtsmedizinerinnen und Rechtsmediziner sind in Deutschland mit einzelnen Ausnahmen fast nur an Universitätsstandorten beschäftigt und können konsiliarisch für entsprechende Fragestellungen vor allem in Ballungszentren beigezogen werden – nicht aber in der Fläche oder wohnortnah für alle betroffenen Patient*innen. Hier werden gegenwärtig rechtsmedizinische Kompetenz über Partnerkliniken oder digitale Kommunikationsangebote (wie „Telemedizin“) offeriert. Finanziert waren die Untersuchungen zur Befunddokumentation und Spurensicherung seit langer Zeit dabei nicht von den gesetzlichen oder privaten Krankenkassen, sondern entweder aus den zuständigen Landesministerien und -behörden i. S. einer Projektförderung (z.B. „Gewaltschutzambulanz“, „Netzwerk ProBeweis“, „Untersuchungsstelle für von Gewalt Betroffene“, „Medizinische Soforthilfe und vertrauliche Spurensicherung“, „iGOBSIS – intelligentes Gewaltopfer-Beweissicherungs- und -Informationssystem“), aus zeitlich befristeten Drittmittelprojekten oder den Institutsbudgets als Teil des fachlichen Selbstverständnisses eines essentiellen Dienstleistungsangebots.

Für die gerichtsverwertbare Dokumentation müssen die Betroffenen von Gewalt körperlich untersucht, Verletzungen fotografiert und notwendige Proben entnommen werden (z. B. Blut, Urin, Speichel). Alle Befunde müssen manipulations- und zugriffssicher aufbewahrt werden und können im Falle einer späteren Anzeige bei der Polizei mit einer Schweigepflichtentbindung abgefordert und in ein Strafverfahren eingebracht werden. Um ein möglichst niedrigschwelliges Angebot „für alle“ zu offerieren gilt bisher für die Rechtsmediziner, dass unabhängig von einer polizeilichen Anzeige, dem Versicherungsstatus und auf Wunsch auch anonym / pseudonymisiert untersucht werden kann und fallrelevante Proben asserviert werden. Dies gilt es durch Fortbildungen und Schulungen auch in die Fläche zu bekommen und interessierte Kolleg*innen an den Krankenhäusern oder in Praxen dafür zu gewinnen. Ob im Alltagsbetrieb in den Kliniken und Praxen eine fast erwartbare Abweichung von Standards bei der forensischen Dokumentation zu Defiziten und Unsicherheiten führt, auch da es bei hoher Personalfluktuation kaum möglich sein wird, jederzeit für den Ernstfall den Schulungsstandard aller beteiligter Mitarbeiter*innen in den Notaufnahmen aufrechtzuerhalten, müsste die Realität noch zeigen. Ferner ist der Bedarf einer fachkundigen Beratung zu psychosozialen Unterstützungsangeboten immanent.

Seit März 2020 ist die Abrechenbarkeit der Anonymen Spurensicherung über die Krankenkassen im Rahmen des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz vom 14.11.2019) auf den Weg gebracht [1]. Leider ist die Formulierung im Gesetzestext vage verblieben, lässt Deutungsspielräume und fordert die Landesregulation statt einer bundeseinheitlichen Lösung heraus. Für uns Ärzt*innen und Pflegekräfte ist vollkommen klar, dass eine Person nach sexuellem Missbrauch eine andere Befunddokumentation, Spurensicherung und Versorgung benötigt als die geschädigte Person nach häuslicher Gewalt oder körperlicher Auseinandersetzung (z. B. in der U-Bahn); ganz zu schweigen von den vielfältigen Formen und Erscheinungsbildern von Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen. Die kurzen Paragrafen im Masernschutzgesetz finden hierzu keine Differenzierung. Formal ist das Masernschutzgesetz im Übrigen auch eine Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, der sog. Istanbul-Konvention, sowie der Kinderrechtskonvention.

Der überfällige Schritt zur soliden und kostendeckenden (!) Finanzierung war unglücklicherweise von Beginn an aufgrund der Corona-Pandemie vollends in der praktischen Umsetzung gelähmt und entpuppt sich mehr als drei Jahre später weiter als „Risikoschwangerschaft“: Eine Abfrage zum Stand der Verhandlungen in den einzelnen Bundesländern mit den Spitzenverbänden der GKV (gesetzlichen Krankenversicherungen) aus dem Mai 2023 offenbart, dass in der Hälfte aller Bundesländer noch keine Vertragsverhandlungen begonnen haben. Zum Zeitpunkt des Verfassens unseres Editorials hat bisher nur das Bundesland Niedersachsen einen Vertrag mit den Gesetzlichen Krankenkassen geschlossen [2]. Der Fortgang in anderen Bundesländern bleibt abzuwarten.

Auch unabhängig von einer adäquaten Finanzierung ist das Thema der adäquaten Befunddokumentation und Spurensicherung essentieller Teil der Notfallversorgung unserer Patientinnen und Patienten, weswegen wir Ihnen den Beitrag „Vorstellung in der Zentralen Notaufnahme nach Gewalttat – forensische Sichtweise“ [3] in der vorliegenden neuen Ausgabe der Notaufnahme up2date ans Herz legen wollen.

Ihre Herausgeber

Benjamin Ondruschka, Michael Bernhard, Frank Eifinger, Ingo Gräff, Thomas Henke, Bernhard Kumle, Philipp Kümpers, Dominik Michalski, Martin Pin, Sylvia Schacher



Publication History

Article published online:
22 January 2024

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