Zeitschrift für Palliativmedizin 2024; 25(02): 72-75
DOI: 10.1055/a-2257-8002
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Doppelkopf: Katja Fischer und Gaby Heinrichs

Katja Fischer

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Wie kamen Sie in Ihr jetziges Tätigkeitsfeld?

1979 starb meine Oma im Krankenhaus an Krebs. Ich war sieben. Palliativmedizin gab es noch nicht. Ihr Leiden war groß: Schmerzen, Atemnot, Unruhe, Angst, Wunden … Arztvisiten gab es keine mehr, Linderung einzig durch Morphin. Jede einzelne Spritze musste hart erkämpft werden. Dabei wirkte es offensichtlich gut. Trotzdem sprach man schlecht davon und gab es zögerlich. „Kinder sind im Krankenhaus verboten“. Ich konnte mich durchsetzen und durfte kurz ans Sterbebett. Warum sollte Morphin schlecht sein? Oma entspannte sich und wurde damit ganz ruhig und friedlich.1987 war ich 15 und hörte erstmals von Elisabeth Kübler-Ross. Die Sterbeforscherin aus den US hatte in Zürich Medizin studiert. Zürich war nah! Die „Interviews mit Sterbenden“ ergriffen mich. Damals entstand mein Wunsch, Sterbenden zuzuhören, ihnen beizustehen und sie zu begleiten auf ihrem letzten Weg. Leider gab es ohne Internet nicht viel zu lesen zum Thema Sterben. Ich hörte von einem Sterbehaus in London (damals bestand es schon seit 20 Jahren).Ein Besuch im Hospiz war mir nicht möglich, aber Ferienjobs als Schwesternhelferin im lokalen Pflegeheim. Da erlebten die Schwerkranken Lebensqualität – an jedem einzelnen Tag. Man nannte die Kompetenzen und Haltung dort „gute Pflege“. Ärzte kamen nie. Dass es damals in Kanada schon 13 Jahre eine Palliativstation gab, wusste ich nicht. Auch nicht, dass diese ebenfalls von Kübler-Ross und Cicely Saunders inspiriert worden war. Es gab kein Internet. Was ich erst heute realisiere: Bei meiner Begegnung mit Kübler-Ross waren die ersten Hospize in Deutschland und der Schweiz gerade in Entstehung.1992 machte ich Abi mit der Sehnsucht, später einmal Sterbende begleiten zu dürfen. Ich bekam einen Studienplatz im nahen Zürich. Dort wollte ich lernen, was es braucht, um Sterbenden beizustehen. Ich wurde enttäuscht. Es gab dazu keine Vorlesung, kein Kurs. Sterben kam nicht vor, 12 Semester lang. Zu Morphin lernte ich die Rezeptoren und bekam Angst vor Atemdepression. In welcher Dosis es bei Sterbenden eingesetzt werden kann, stand in keinem Lehrbuch und davon sprach kein Professor, nur von „palliativer Situation“. Damit meinten sie: „Hier gibt es für uns Ärzte nichts mehr zu tun!“. Aber wer kümmert sich dann?Die Abschiedsvorlesung unseres AIDS-Spezialisten Prof. Ruedi Lüthy irritierte mich zutiefst. Er war der erste Palliativmediziner, den ich persönlich kennenlernte, auch wenn es diesen Begriff noch nicht gab. Er sprach von Hospizversorgung und erklärte, dass er nun seinem Herzen folgen würde. Er würde die Uni verlassen, um sich ab heute ausschließlich um „seine“ Hospizpatienten im Hospiz „Zürcher Lighthouse“ zu kümmern! Seine Leidenschaft war beeindruckend. Aber wofür würde dort ein Arzt gebraucht? Ich hatte keine Ahnung.1999 traf ich nach dem Studium als Assistenzärztin in St. Gallen erstmals auf Sterbende. Es gab auf Station noch keine Palliative Care und in meinen Büchern gab es keine Kapitel zu Symptomkontrolle oder Sterbephase! Das Wort Palliativmedizin hatte ich mit meinen 27 Jahren noch nie gehört! Wer Glück hatte, bekam beim Sterben von einer erfahrenen Nachtschwester subkutanes Morphin. Der Stationsarzt wurde um eine entsprechende Verordnung gebeten. Bei einem „nein“ fragte sie einfach den nächsten, bis sie eine „gute Verordnung“ erhielt. Die Ärzte schrieben auf „Morphin ad. lib. – ad libitum – nach Belieben“. Wir wussten nicht, wie Morphin beim Sterben dosiert werden soll und was es für ein gutes Sterben braucht. Wir waren auch nicht geschult in Kommunikation zu Therapiezielanpassung oder End-of-Life. Meine Lehrbücher schwiegen und noch immer gab es kein Internet! Die Ärzte schwiegen und besuchten die Sterbenden nicht mehr. Die Pflege kümmerte sich. Der Sterbende wurde aus dem Mehrbettzimmer ins Bad oder nachts ins Stationsärztebüro geschoben. Dort gab es Sauerstoffanschluss und Privatsphäre.Nach einem Jahr Viszeralchirurgie kam ich überraschend auf die Sterbestation, weil man die Anfänger dorthin schickte. Kein anderer würde freiwillig dorthin gehen! Ich war hocherfreut. Für mich zuständig war „der Oberarzt aus Deutschland, der grad aus Australien zurückgekehrt ist“. – Dr. Steffen Eychmüller ist heute Professor für Palliativmedizin in Bern. – Ich blieb sieben Monate, dann musste ich weiterziehen, Internistin werden. Mein Ziel war klar: Ich will Palliativmedizinerin werden! Dabei gab es diese Bezeichnung noch gar nicht.Ich folgte meiner Leidenschaft und arbeitete palliativmedizinisch. Dafür musste ich pendeln – jahrelang und weit. Als Oberärztin am Universitätsspital Zürich beschäftigte ich mich mit dem Aufbau von Palliativstation, Konsiliardienst und Palliativambulanz. Neben der Klinik entdeckte ich meine Leidenschaft für Qualitätsarbeit/Zertifizierung und wurde Auditorin. Mit großem Wissensdurst absolvierte ich mein Masterstudium Palliative Care – auf eigene Kosten. – Dank Internet und Blended-Learning war ein berufsbegleitendes Studium nun trotz Baby möglich und endlich gab es ausreichend zu lesen!Nebenbei konnte ich „zu Hause“ einen multiprofessionellen Fachverband gründen und das Palliative-Care-Konzept im Kanton Schaffhausen schreiben. Als Fachexpertin des Gesundheitsamtes habe ich die Palliativstrukturen in meiner Wohnregion maßgeblich gestaltet. Gerade jetzt wurden die Strukturen dort in den Regelbetrieb überführt. Die positiven Erfahrungen in Netzwerkarbeit, in Zusammenarbeit mit den Behörden und im Strukturaufbau machten mir „Lust auf mehr“. Ich suchte nach neuen Herausforderungen. Die fand ich in meiner jetzigen Chefarztstelle. Die bereits etablierte Klinik für Palliativmedizin in Bremen vergab einen Auftrag zur Zentrumsbildung!Seit 2021 wurde ich von den Norddeutschen wohlwollend aufgenommen. Sie sind freundlich und sehr direkt. Das ist gut so.50 Jahre in der Schweiz und nun in Bremen! Wie geht denn das? Indem ich täglich viel dazu lerne! Dank meiner Familie, dank der vielfältigen Herausforderungen, dank der netten Menschen und dank der hervorragenden Bremer Palliativmedizin vermisse ich die Schweiz aktuell überraschend wenig. Als Deutsche genieße ich es, mich in Deutschland zu Hause zu fühlen, auch wenn ich in Bremen natürlich immer auch „Schweizerin“ bleiben werde. Heimatfragen hin oder her: Ich genieße meine Arbeit und das Leben im schönen Bremen und fühle mich wohl.

Was wäre für Sie die berufliche Alternative?

Palliativpflege oder ein Beruf mit Kindern.

Wie beginnen Sie Ihren Tag?

Mit Politik in der Tageszeitung, beim gemeinsamen Frühstück mit der Familie und beim Sport.

Leben bedeutet für mich …

Lesen, Lernen, Lachen, Zusammensein mit meiner Familie, interessante Begegnungen und Reisen.

Sterben bedeutet für mich …

Ein elementares, emotionales und natürliches Erlebnis. Abschied von allem, was mir lieb ist, alles hinter mir zu lassen und hoffentlich mutig ins Unbekannte voranzugehen.

Welches Ziel möchten Sie unbedingt noch erreichen?

Ich möchte Wohlbefinden, jeden Tag. Meine großen Ziele sind die Integration von Palliative Care in die Gesundheitsversorgung und die Transformation des Gesundheitssystems ins digitale Zeitalter zu unterstützen und zu erleben.

Meine bisher wichtigste Lernerfahrung im Leben ist …

Der Weg muss Freude machen, dann fühlt man sich wohl und erreicht seine Ziele fast von allein.

Was würden Sie gerne noch lernen?

Alles was ich noch nicht weiß …

Woraus schöpfen Sie Kraft für Ihre Arbeit?

Die Arbeit selbst gibt mir Kraft, die Überzeugung und das Gefühl, etwas zu tun, was andere brauchen! Die große Kraft, die in mir steckt, spüre ich im hier und jetzt und nutze sie gezielt für die Themen, die mir wichtig sind. Vermehren kann ich meine Kraft durch strikte Trennung von Beruf und Privatleben sowie durch Sport.

Mit wem aus der Welt- oder Medizingeschichte würden Sie gern einmal einen Abend verbringen?

Mit anderen leidenschaftlichen Palliativmedizinern und mit dem Gesundheitsausschuss des Bundestags.

Wenn ich einen Tag unsichtbar wäre, würde ich …

Darauf verzichte ich gerne, denn ich mag es transparent.

Wie können Sie Frau Heinrichs beschreiben?

Die Stelle der Stationsleitung unserer Palliativstation ist für Frau Heinrichs wie gemacht.Sie ist die Zuverlässigkeit in Person, ist ideale Führungsperson und hochgeschätzter Teamplayer. Sie ist seit Jahren hochmotiviert und beseelt vom Wunsch, Palliative Care für Schwerkranke verfügbar zu machen. Das lebt sie – natürlich und unpathetisch. Sie ist stets Vorbild, setzt Maßstäbe. Probleme löst sie blitzschnell und schiebt nichts auf. Bewundernswert fleißig packt sie überall mit an. Sie fordert viel von sich – und motiviert das Team. Frau Heinrichs hat auf unserer Palliativstation ihre berufliche Heimat gefunden und strahlt das aus. Sie beruhigt allein durch ihre Anwesenheit. Ihre große fachliche Erfahrung als Palliative-Care-Pflegefachfrau scheint immer durch. Sie lebt Empathie auf eine unaufdringlich wohltuende Art. Als Patientin würde ich gern von Frau Heinrichs gepflegt und begleitet werden!In der Zusammenarbeit schätze ich besonders die gemeinsame Haltung und gemeinsame Vision. Wir verstehen uns ohne Worte und ich kann mich blind verlassen. Frau Heinrichs ist eine Macherin. Mit ihr macht Problemelösen Spaß!

Wie beenden Sie Ihren Tag?

Am Tisch beim gemeinsamen Essen, mit Gesprächen und Lachen mit meinem Mann und meinen Kindern. Und natürlich mit Lesen und Lernen.

Gibt es etwas, das Sie gerne gefragt worden wären, aber noch nie gefragt worden sind?

Ich würde mir wünschen, dass die verantwortlichen Politiker danach fragen würden, was es braucht, damit Schwerstkranke und Sterbende endlich überall anständig versorgt werden. Aus meiner Erfahrung kommt diese Frage nur durch persönliche Betroffenheit auf und bleibt dann leider meist ganz im Privaten.

Zur Person

Fachärztin für Innere Medizin mit Zusatzbezeichnung Palliativmedizin; Master of Science Palliative Care (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg); 51 Jahre; verheiratet; vier Kinder

2021: Chefärztin Klinik für Palliativmedizin Gesundheit Nord Bremen, Weiterbildungsbefugte ZB Palliativmedizin (Ärztekammer Bremen), beauftragt mit der Lehre (Palliativmedizin Universität Hamburg) und Vorsitzende des Klinischen Ethikkomitees Klinikum Links der Weser

2018: Leitende Ärztin Klinik Schloss Mammern, Führende Rehabilitation am See Mammern

2016: Ärztliche Leitung Kompetenzzentrum Palliative Care der Diakonie Bethanien Zürich und Fachexpertin Kantonales Palliative Care Konzept Schaffhausen

2010: Oberärztin Kompetenzzentrum Palliative Care UniversitätsSpital Zürich und Auditorin Schweizerisches Label für Qualität in Palliative Care

2008: Oberärztin Palliativzentrum Kantonsspital St. Gallen

2006: Oberärztin Geriatrie, Rehabilitation und Langzeitpflege Kantonsspital Schaffhausen

2003: Oberärztin Innere Medizin Spital Wil St. Gallen und Kantonsspital Winterthur

1992/1998: Matura Kantonsschule Kreuzlingen/Staatsexamen Universität Zürich/Promotion Universität Bern

1972: geboren in der Schweiz am Bodensee



Publication History

Article published online:
01 March 2024

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