Erfahrungsheilkunde 2024; 73(02): 110-112
DOI: 10.1055/a-2264-4092
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Bücher

Vom Planet Placebo in die Valebo-Galaxie – Gedanken und Kritik

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Schröder, Prof. Dr. Hartmut; Grunwald, Elisabeth. Der Placebo- und Nocebo-Effekt: Illusion, Fakten und die Realität – Wie positive oder negative Gedanken die Gesundheit und unser Leben beeinflussen. Amerang: Rotona; 2022. 170 S., 17,95 €
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Schröder H, Grunwald E, Schröder M. Der Valebo-Effekt. Warum wir Kranke als Experten in eigener Sache behandeln sollten. Amerang: Rotona; 2023. 180 S., 18,00 €

Placebo war und ist ein Reizwort, das viel und zugleich wenig aussagen kann. Doch was im Arzneimittelversuch herausgefunden wird, muss noch keine Praxisrelevanz entfalten. Hierzu ist mehr denn je die Kooperation des Patienten erforderlich, sein Leben langfristig sinnvoll gestalten zu wollen. Der Kombination beider Problematiken widmen sich zwei zusammenhängende Bücher, die unter Federführung von Hartmut Schröder entstanden sind.

Gesundheit und Wohlbefinden sind so wenig festgelegte Werte wie die Gesellschaft, in der sie definiert werden. Auch, was ein Placebo ist und wie es wirken könnte, kann nur aus der Zeit heraus erklärt werden.

In den Jahrzehnten vor Einführung der Antibiotika konnte ein Placebo bei einem Testverfahren für ein neues Medikament gegen die Syphilis allein schon wegen der Hoffnungen der Patienten wundersgleiche Sofortwirkung entfalten, während in heutiger Zeit antibiotische Arzneien ihre Einzigartigkeit längst eingebüßt haben, wodurch die Hoffnungen der Patienten wiederum geringer werden und somit auch das Potenzial entsprechender Placebos. Auch hat es Auswirkungen auf die Psyche des Kranken und sein Gesundheitsvertrauen, ob ein Patient im Rahmen seiner Behandlung auf die Unterstützung einer Krankenversicherung vertrauen kann oder aber fürchten muss, dass ihn die Therapie in die Privatinsolvenz treibt. Ein gefüllter Geldbeutel ist eben „nur“ ein Placebo, kann aber nicht nur in materieller Hinsicht gewaltige Unterschiede im Heilungsprozess markieren.

Überhaupt … Placebo. Ein unterschätztes Wort. Denn es ist weit mehr als ein Zuckerkügelchen, das auf der Zunge zerdrückt und als mögliche Arznei angeboten wird. Es ist ein Impuls, den der Arzt an den Patienten aussendet. Denn häufig ist der Arzt selbst die erste wirksame Arznei, wie die Kulturwissenschaftler Elisabeth Grunwald und Hartmut Schröder in ihrem Buch über Placebo- und Nocebo-Effekte betonen [1]. Dadurch wird deutlich, dass Placebos eigentlich Impulse für Selbstheilung aussenden. Das funktioniert aber nur im Kontext: Wer keinen Zugang zum Geheimnis des Arzt-Patienten-Verhältnisses findet, dem kann die schönste, an die christliche Liturgie erinnernde Überreichungsgeste der (Placebo-)Arznei nicht helfen. Es bedarf also einer Kommunikation zwischen Arzt, Patient und Arznei.

Der Begriff an sich hatte schon verschiedene Bedeutungen: Wer im 18. Jahrhundert von „Placebo“ sprach, meinte damit Schönfärberei. Wer es hingegen im Kontext der katholischen Kirche gebrauchte, sprach über einen Teil der Liturgie während der Totenmesse [2]. Doch spätestens seit den 1960er-Jahren hat sich die Vorstellung eingebürgert, Placebo sei eine Art „Als-ob“-Medizin. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits eine breite medizinische Forschung zum Thema, wobei die ersten Entdecker eines „Placebo-Effekts“ diesen gar nicht intendiert hatten und eher zufällig im Zusammenhang mit Studien zu weiblicher Hysterie (oder was die männlichen Ärzte dafür hielten) auf die Bedeutung der Psyche für die somatische Gesundheit gestoßen waren [3].

Als dann die Placebo-Forschung im 21. Jahrhundert so richtig Fahrt aufnahm, kamen experimentierfreudige Kliniker rasch an den Punkt, dass ihr konventionelles Forschungsdesign versagte. Es kam, so zeigte sich bei den German Acupuncture Trials (GERAC), weniger auf die Maßnahme an sich als auf ihre Durchführung an [4]. Akupunktur kann funktionieren, wenn sich ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt/Methode und Patient entfaltet. Es kann helfen, wenn der behandelnde Arzt sich dezidiert nach dem emotionalen Befinden des Patienten oder des Mitglieds einer Versuchsgruppe erkundigt [5].

Spätestens an diesem Punkt dürften manche Fachärzte an ihre Grenzen kommen oder sich fragen, warum sie die Arbeit von Psychotherapeuten miterledigen sollen. Oder anders formuliert: Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Placebo berührt Fragen des Selbstverständnisses von Ärzten im 21. Jahrhundert. Es werden unangenehme Fragen aufgeworfen, wobei die Relevanz von immer neuen Arzneidrogen noch die harmloseste sein dürfte. Der Sinn von Facharztrichtungen und Facharztausbildungen sowie die Inhalte von Weiterbildungen können nicht unberührt bleiben.

Und schon ist man bei den Kosten für die ganze Sache angekommen. Denn das Mitdenken von Placebos verlangt – von Ärzten mehr als von Patienten – Geduld und Zeit. Arbeitszeit, um präzise zu sein. Placebos in der invasiven Medizin werfen schnell ethische Fragestellungen auf: Wie steht es beispielsweise mit der Scheinoperation [6]? Und wenn es auf das soziale Umfeld ankommt, was sagt der Erfolg oder das Versagen von Placebos dann über unsere Gesellschaft aus?

Schröder und Grunwald bohren noch tiefer, wenn sie die Erfolge von Placebos bei Kindern oder Haustieren thematisieren. Soll der Schäferhund sich in Abwesenheit des Herrchens mal schnell mit der auf der Kommode abgelegten Placebo-Literatur vertraut gemacht haben oder steckt mehr dahinter? Oder aber übertragen wir unsere Vorstellungen hinsichtlich Sozial- und Gesundheitsverhaltens zu naiv auf? Tiere Sozusagen – bildlich gesprochen – doppelt (v)erblindet?

Aber wenn ein Placebo nicht funktioniert, verändert es dann nicht seine Gestalt? Es wird, um mit den Autoren zu sprechen, zum „Nocebo“, das sich aber schwerlich reproduzieren lässt. Man kann, zumindest in ethisch vertretbaren Studien, Patienten zu keinen negativen Reaktionen mithilfe eines Suggestivheilmittels veranlassen. Andersherum gedacht, könnte ein Nocebo als Beweis für Selbstheilungskräfte fungieren [7]. Doch so ein Nocebo in der doppelt verblindeten Studie ist vor allem eins: ein störendes Element. Denn es verlangt, dass man das eigene Forschungsdesign anzweifelt oder zumindest anerkennt, dass es nicht alles beinhaltet. Weiter gedacht könnte man so viele Studien, die zur Zulassung von Arzneien führten, noch einmal kritisch betrachten. Oder sich fragen, ob (Fehl-)Informationen schon zu gesundheitlichem Schaden führen, beispielsweise wenn Politiker im Angesicht einer möglichen Pandemie in Panik geraten. Wer will das schon?

Der Schlüssel liegt also eher in der Selbstregulation der Patienten, was Schröder und Grunwald als „Valebo-Effekt“ bezeichnen [8]. Die Debatte rund um diesen Begriff veranlassten Schröder, seine Ehefrau Marlen und Elisabeth Grunwald, hierüber ein eigenes Buch zu verfassen [9]. Sie spannen einen großen Bogen von der Medizingeschichte bis in die Gegenwart und schildern, wie der Drang, alle Patienten in Kohorten zu pressen, um sie besser vermessen und begutachten zu können, letztendlich nicht zu einer Optimierung von Diagnostik und Therapie, sondern in einen Strudel der Entfernung von Arzt und Patient bei gleichzeitiger Überhöhung von Pharmabranche, Krankenversicherungs- und Medizinalbürokratie führten. Denn reduktionistischer ärztlicher Blick und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens sind natürliche Verbündete. Letztendlich führt dies zur Entmündigung von Ärzten und Patienten gleichermaßen, wie sich vor kurzem anschaulich in der Covid-19-Pandemie offenbarte [10]. Es fand eine „Enthumanisierung“ der Medizin statt, und viele Leser dieses Aufsatzes dürfen sich fragen, ob sie Teil der Lösung oder Teil des Problems gewesen waren – denn Valebo-Effekte entfalten sich nur nach Selbstreflexion.

Dann kann man darüber nachdenken, ob und inwieweit das Gesundheitssystem noch zu retten ist, oder ob es Zeit wäre, über einen Schlussstrich nachzudenken. In diesem Kontext aber müsste man auch überlegen, wie man Krankheit oder Gesundheit im 21. Jahrhundert definieren möchte. Den Autoren schwebt das biopsychosoziale Modell von George L. Engel (1913–1999) vor [11]. Engel hatte dies infolge seiner Forschung zu chronischen Erschöpfungssymptomen in den 1970er-Jahren erarbeitet. Der Mensch sollte in seiner Umwelt gesehen und analysiert werden. Es geht hier nicht um eine bürgerliche Fluchtbewegung wie die von Laien geprägte Naturheilkunde am Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern um die Neustrukturierung der ärztlichen Medizin. Die Stärkung von Selbstheilungskräften spielt eine zentrale Rolle und verlangt einiges von den potenziellen Patienten. Denn wer zum Hüter des Selbst aufsteigt, kann nicht einfach zur nächsten Pille greifen, sondern muss langfristig denken lernen [12].

In einer Kurzzusammenfassung des ersten Buches fügen die Autoren gekonnt den Wert der Placebo-Forschung für diese Neuorientierung ein. Die „Cura“, die Sorge um sich, könnte Abhängigkeiten beseitigen, doch setzt dies alles voraus, dass sich überhaupt jemand aus dieser im Grunde höchst bequemen Selbstentmündigung im bestehenden mitteleuropäischen Gesundheitssystem befreien will. Für wen soll sich „Cura“ denn lohnen? Für den jungen Facharzt, der nach entbehrungsreichen Jahren endlich sein Ziel erreicht hat, nur um dann festzustellen, dass er sich in keiner anderen Situation befindet als ein Bergsteiger, der oben angekommen bemerkt, dass er den falschen Gipfel erstürmt hat? Soll das motivierend wirken? Oder lohnt es sich für das Dienstleistungsproletariat? Es kann so länger am Laufen gehalten werden und sich ein paar Jahre im Glück des eigenen Wissens sonnen, um anschließend in die Altersarmut abzustürzen. Oder für die überarbeitete Krankenschwester oder Pflegekraft, die zwar theoretisch weiß, wie es sich am besten für die Gesunderhaltung zu leben hätte, aber das in der Praxis niemals umsetzen kann oder in der Frührente beim Pfandflaschensammeln darüber räsoniert? Oder für den überforderten Familienvater, der sich in der Rolle des Hausmanns nicht zurechtfindet, aber auch nicht ausbrechen kann, ohne vor der gesamten Welt als Versager dazustehen?

Es bedarf, und das formulieren die Autoren leider nur höchst vage, eines Neustarts, der weit über das Gesundheitssystem hinausgeht. Die Frage ist nicht, ob man das benötigt, sondern wie der Weg dorthin zu gestalten ist. Durch Reformen oder durch Revolutionen? Letztere enden immer im Desaster, wie man im 20. Jahrhundert erleben durfte. Und hinterher will keiner etwas gewusst haben und alle trauern dem „Vorher“ hinterher. Wie schlimm muss es dieses Mal werden, damit die Gegenwart von 2024 einem wie eine Verheißung an eine bessere Zeit erscheinen kann? Vielleicht dann doch lieber Reformen im Hier und Jetzt?

Dr. phil. habil. Florian G. Mildenberger



Publication History

Article published online:
09 April 2024

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  • Literatur

  • 1 Schröder H, Grunwald E.. Der Placebo- und Nocebo-Effekt. Illusion, Fakten und Realität – Wie positive oder negative Gedanken die Gesundheit und unser Leben beeinflussen. Amerang: Rotona; 2022: 13
  • 2 Schröder H, Grunwald E. Der Placebo- und Nocebo-Effekt. Illusion, Fakten und Realität – Wie positive oder negative Gedanken die Gesundheit und unser Leben beeinflussen. Amerang: Rotona; 2022: 34
  • 3 Schröder H, Grunwald E. Der Placebo- und Nocebo-Effekt. Illusion, Fakten und Realität – Wie positive oder negative Gedanken die Gesundheit und unser Leben beeinflussen. Amerang: Rotona; 2022: 56
  • 4 Schröder H, Grunwald E. Der Placebo- und Nocebo-Effekt. Illusion, Fakten und Realität – Wie positive oder negative Gedanken die Gesundheit und unser Leben beeinflussen. Amerang: Rotona; 2022: 63
  • 5 Schröder H, Grunwald E. Der Placebo- und Nocebo-Effekt. Illusion, Fakten und Realität – Wie positive oder negative Gedanken die Gesundheit und unser Leben beeinflussen. Amerang: Rotona; 2022: 74
  • 6 Schröder H, Grunwald E. Der Placebo- und Nocebo-Effekt. Illusion, Fakten und Realität – Wie positive oder negative Gedanken die Gesundheit und unser Leben beeinflussen. Amerang: Rotona; 2022: 80
  • 7 Schröder H, Grunwald E. Der Placebo- und Nocebo-Effekt. Illusion, Fakten und Realität – Wie positive oder negative Gedanken die Gesundheit und unser Leben beeinflussen. Amerang: Rotona; 2022: 123
  • 8 Schröder H, Grunwald E. Der Placebo- und Nocebo-Effekt. Illusion, Fakten und Realität – Wie positive oder negative Gedanken die Gesundheit und unser Leben beeinflussen. Amerang: Rotona; 2022: 166
  • 9 Schröder H, Grunwald E, Schröder M. Der Valebo-Effekt. Warum wir zu Experten unserer eigenen Gesundheit werden sollten. Amerang: Rotona; 2023
  • 10 Schröder H, Grunwald E, Schröder M. Der Valebo-Effekt. Warum wir zu Experten unserer eigenen Gesundheit werden sollten. Amerang: Rotona; 2023: 95f
  • 11 Schröder H, Grunwald E, Schröder M. Der Valebo-Effekt. Warum wir zu Experten unserer eigenen Gesundheit werden sollten. Amerang: Rotona; 2023: 125
  • 12 Schröder H, Grunwald E, Schröder M. Der Valebo-Effekt. Warum wir zu Experten unserer eigenen Gesundheit werden sollten. Amerang: Rotona; 2023: 140