Zeitschrift für Palliativmedizin 2024; 25(04): 186
DOI: 10.1055/a-2326-6262
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Palliativ und Todeswunsch

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Wohl kaum ein Thema berührt derzeit Menschen, die sich mit lebensbedrohlichen Erkrankungen beschäftigen müssen oder wollen – sei es als betroffene Patient*innen, als deren Angehörige bzw. Zugehörige, als Helfende in medizinischen, pflegerischen, sozialen, kirchlichen, spirituellen und anderen Berufen oder als ehrenamtlich Engagierte in mannigfaltigen Feldern – mehr als die Diskussionen um Todeswünsche. Und wohl kaum ein Thema wird kontroverser diskutiert in Fragen des gesellschaftlichen, institutionellen oder individuellen Umgangs mit diesen Wünschen.

Umfangreiche Literatur thematisiert diesbezügliche juristische, ethische, medizinische, philosophische, weltanschauliche und auch sozialpolitische Fragen. Eine Art Brennglaseffekt auf diese Themenvielfalt bildet der unter palliativmedizinischen Aspekten geführte Diskurs, der im hier vorgestellten Werk in brillanter Weise von Kerstin Kremeike, Klaus Maria Perrar und Raymond Voltz zusammengefasst wird. Gleichsam als Kölner Dreigestirn sind sie Garanten für die für das komplexe Thema erforderliche Multidisziplinarität.

Der dramaturgische Aufbau ist geschickt und überzeugend. Die Grobgliederung umfasst 4 Abschnitte: Unter der Überschrift „Klinische Perspektiven“ wird einführend das Phänomen des Todeswunsches in der Palliativversorgung thematisiert und unter neurologischen, geriatrischen und Aspekten bei Organersatzverfahren präzisiert. Der zweite Abschnitt beleuchtet historische und normative (rechtliche, ethische) Perspektiven. Zugänge zu Todeswünschen werden im dritten Abschnitt dargestellt, untergliedert in die Psychologie von Todeswünschen und die Sichtweisen der Versorgenden. Den Abschluss bilden Überlegungen zum Umgang mit Todeswünschen. Sie umfassen die Darstellung von Messinstrumenten zur Erfassung von Todeswünschen, von leitfadengestützter Gesprächsführung, von Schulungen zum Umgang mit Todeswünschen und von Klinischer Prävention und Intervention. Insgesamt gliedern sich die 4 Abschnitte somit in 11 Kapitel, von denen 8 mit einem zumeist sehr prägnanten Fazit beendet werden. Als kleiner Wermutstropfen, wenn nicht gar als Beckmesserei mag das Bedauern gelten, dass die Fazits nicht durchgängig die Kapitel beenden.

Die Feingliederung des Inhaltsverzeichnisses hat 61 Themen und bildet damit ein Füllhorn praxisrelevanter Kenntnisse und Erkenntnisse, die das Buch nicht nur als Lehrbuch, sondern auch als punktuelles Nachschlagewerk auszeichnet. Zudem bilden mehr als 420 Literaturstellen ein stabiles Fundament aus bereits publizierten Quellen.

16 hochkarätige Mitautor*innen konnten Kremeike, Perrar und Voltz gewinnen, teilweise zu Themen, die häufig vergleichsweise kursorisch behandelt werden. Pars pro toto sei Daniel Schäfer genannt, Professor am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität zu Köln. Seine geschichtliche Darstellung des Todeswunsches geht mit philosophischen und moraltheologischen Stellungnahmen sowie literarischen und ikonografischen Reflektionen deutlich über gängige medizinhistorische Betrachtungen hinaus. In seinem Fazit mahnt er, überkommene Deutungspraktiken von Todeswünschen zu ändern und … „die Äußerungen der Patientinnen und Patienten möglichst ohne Bewertung zu hören und mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen“.

Eine kleine Besonderheit stellt das Kapitel Psychologie von Todeswünschen dar. Hierbei handelt es sich um eine von Kathleen Boström, Palliativzentrum Köln, verfasste Übersetzung eines Beitrags von Gilla K. Shapiro und Gary Rodin aus dem UHN – Princess Margaret Cancer Centre in Toronto. Gemeinsam haben sie ein biopsychosoziales Modell mit den Outcomes Depression, Hoffnungslosigkeit und Wunsch nach vorzeitigem Versterben auf einer Datenbasis von Patient*innen mit metastasierten Krebserkrankungen angewandt. Das Fazit ihres Beitrags lautet: „Die psychologische Forschung hat verschiedene Faktoren identifizieren können, die Todeswünsche beeinflussen, darunter soziale Isolation, körperliches Leid, fehlende Bindungssicherheit, das Bedürfnis, die Umstände des eigenen Todes zu kontrollieren, Zukunftsängste, Depressionen und Hoffnungslosigkeit. Offen bleibt auch, ob palliative Versorgung, darunter auch psychologische Interventionen wie CALM [Cancer and Living Meaningfully], Todeswünsche lindern und ihr Entstehen verhindern können …“.

Reizvoll ist zudem, über einen angegebenen Link, die Originalversion des Artikels lesen zu können.

Das letzte Kapitel wurde – der klugen Dramaturgie entsprechend – von der Herausgeberin und den Herausgebern verfasst. Den thematischen Mittelpunkt bilden – mit hoher Informationsdichte – Klinische Präventions- und Interventionsaspekte.

Am Ende ihres Fazits heißt es: „Wesentlich ist, … eine tragfähige und offene therapeutische Beziehung zu den Patientinnen und Patienten herzustellen und ihnen zu vermitteln, dass sie mit ihrem Todeswunsch nicht alleine gelassen werden – egal welchen Weg sie letztlich beschreiten. Und hierfür bedarf es bei den Versorgenden der Expertise, der Kompetenz und des Wissens im Umgang mit Todeswünschen. Wir hoffen, dass dieses Buch einen wesentlichen Beitrag dazu leisten kann.“

Dass diese Hoffnung sich erfüllen wird, kann als sicher gelten!

Manfred Gaspar, Kiel



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Article published online:
28 June 2024

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