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DOI: 10.1055/a-2413-4843
Soziale Arbeit in der Rehabilitation
Das System der sozialen Sicherung in Deutschland ist gut ausgebaut und bietet ein breites Spektrum an Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen relevante Einschränkungen in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erfahren und deshalb nicht oder nur eingeschränkt abgesichert sind. Dies gilt auch für die Möglichkeiten der Rehabilitation. Jedoch geht dies mit einer im selben Maße zunehmenden Komplexität der unterschiedlichen Versorgungssysteme einher. Eine optimale Inanspruchnahme des Systems im Einzelfall ist an ausreichendes Wissen um die Möglichkeiten, Pflichten und Rechte und entsprechende Kompetenzen, diese für sich zu organisieren, gebunden. Wissenschaftliche Untersuchungen konstatieren immer wieder, dass gerade Menschen, die besonders ausgeprägte Versorgungsbedarfe aufweisen, ein solches Wissen und auch die Kompetenzen hierfür häufig nur eingeschränkt aufweisen. Betroffene sind deshalb bei der Erarbeitung und auch Durchsetzung ihrer Möglichkeiten immer wieder auf Unterstützung und Beratung durch Expert*innen angewiesen.
Dies untermauert die Notwendigkeit und Bedeutung entsprechend qualifizierter Expert*innen und effektiver Prozesse und Praktiken der Beratung und Begleitung. Daher wird in Reha-Prozessen neben den bekannten therapeutisch-medizinischen Professionen immer wieder die Soziale Arbeit angeführt. In der wissenschaftlichen Rezeption zeigt sich allerdings: Während es umfangreiche Arbeiten und Studien um effektive Vorgehensweisen in der reha-medizinischen, der psychologischen oder auch therapeutischen Versorgung gibt, finden sich überraschend wenige Befunde zu Qualität und Wirksamkeit Sozialer Arbeit in der verfügbaren Literatur.
Mit dem oben genannten Werk hat die Arbeitsgruppe um Tobias Knoop und Nadja Scheiblich diesem Diskurs einen sehr wertvollen Beitrag hinzugefügt. Auf der Basis eines komplexen empirischen Zugangs ist es den Autor*innen „…ein Anliegen […], die Evidenzbasierung der Sozialen Arbeit in der medizinischen Rehabilitation zu stärken.“ (ebd. S. 11). Es sei vorweggenommen, dass sie dieses Anliegen auf hervorragende Weise umgesetzt haben. Basis des Buches sind die Ergebnisse aus dem Projekt SWIMMER, in welchem die Praxis der Sozialen Arbeit in medizinischen Rehabilitationseinrichtungen analysiert wurde, um daraus potenzielle Wirkmechanismen zu erarbeiten. Hierbei nähert sich die Arbeitsgruppe dem Feld mit einem konsequent qualitativen Erhebungs- und Auswertungsansatz. Im Rahmen dieses Ansatzes steht die Identifizierung von so genannten Varianzen, also Unterschieden in der Praxis Sozialer Arbeit und ihre Rückführung auf mögliche Erklärungsmuster im Mittelpunkt. Aus solchen erklärbaren Varianzen möchte die Arbeitsgruppe interpersonell gültige Praktiken ableiten.
Der Zugang zum Feld erfolgte auf der Basis einer umfangreichen theoretischen Auseinandersetzung mit bestehenden Modellen und Theorien. Hervorgehoben sei die ausführliche und selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Ansatz der evidenzbasierten Praxis (evidence-based practise, EbP). Das Autor*innenteam schafft es sehr gut, die eigene Arbeit und ihren qualitativen Zugang einzuordnen und zu vermitteln, in welchem Verhältnis zur EbP die Reichweite der erzielbaren Erkenntnisse stehen. Es wird schnell deutlich: Im Gegensatz zur traditionellen Wirksamkeitsforschung, die auf Basis eines hochwertigen kontrollierten Studiendesigns und unter Nutzung quantitativer Daten das „ob“ der Wirksamkeit einer Intervention oder Strategie im Auge hat, steht im vorliegenden Buch ganz eindeutig das „wie“ einer potenziellen Wirkung Sozialer Arbeit im Mittelpunkt.
Diesen Anspruch verwirklicht die Arbeitsgruppe in mehreren Schritten. Der sehr anschaulich mit Ankerzitaten unterlegte Ergebnisteil schafft für den Laien eine wunderbare Strukturierung Sozialer Arbeit in der medizinischen Rehabilitation durch die Identifikation von Arbeitsformen, einer Analyse der Stellung Sozialarbeitender im interprofessionellen Reha-Team, aber auch im Kontext der Beratung Betroffener und externer Akteure sowie in der Identifikation zentraler Aufgaben in der Beratung. All dies fließt in ein „Wirkmodell der Sozialen Arbeit in der medizinischen Rehabilitation“ ein, welches – auch wenn es auf den ersten Blick sehr komplex wirkt – in seiner Klarheit bestechend ist und eine gute Grundlage für die weitere forschungstheoretische Auseinandersetzung mit dem Feld bietet.
Das vorliegende Buch schafft es auf diese Weise, das Dilemma herauszuarbeiten: Die Soziale Arbeit zeichnet im Kern eine extreme Offenheit und Betroffenen- oder Klient*innenorientierung aus, die in der interprofessionellen Betrachtung fast schon als Alleinstellungsmerkmal in der Rehabilitation angesehen werden kann. Gleichzeitig muss sie sich zunehmend dem Gedanken evidenzbasierter Praxis und damit zwangsläufig einer Strukturierung ihrer Arbeit öffnen, will sie die gesellschaftliche Bedeutung bekommen, die ihrer Funktion im Rehabilitationsprozess innewohnt. Dass sich dies nicht unbedingt ausschließen muss, hat die Arbeitsgruppe um Tobias Knoop und Nadja Scheiblich sehr eindrücklich gezeigt. Seien wir gespannt auf die weitere Entwicklung!
Dr. Marco Streibelt, Berlin
E-Mail: marco.streibelt@drv-bund.de
Publication History
Article published online:
22 October 2024
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