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DOI: 10.1055/a-2438-4561
Trauma und Frauengesundheit: Bericht von der 53. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe
Wie attraktiv die Thematik Gewalt, Trauma und Gesundheit ist, bewies die hohe Teilnehmendenzahl: Knapp 300 Interessierte füllten die Räume des Universitätsklinikums Bonn bei der 53. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG; https://dgpfg.de/) vom 13. bis 16. März 2024 zum Thema „Trauma und Frauengesundheit“.
Kaum zu glauben, dass der große Einfluss von Gewalterleben auf die Gesundheit noch vor 25 Jahren umstritten war. Darauf wies bei der Begrüßung Anke Rohde hin, Psychiaterin und Ehrenmitglied der DGPFG, die 1997 die Abteilung für Gynäkologische Psychosomatik am Universitätsklinikum Bonn ins Leben rief. Ihre Nachfolgerin Andrea Hocke, Frauenärztin und aktuell Vizepräsidentin der DGPFG, hatte als Kongresspräsidentin das Thema vorgeschlagen. Wie Anke Rohde berichtete, habe 1997 die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als Folge einer Entbindung noch als ungewöhnlich bis nahezu unmöglich gegolten. Die von ihr behandelte Patientin zeigte aber alle typischen Symptome einer PTBS mehrere Monate nach einer als „schrecklich“ erlebten Geburt, während der sie sich über 36 Stunden mit starken Wehenschmerzen hilflos ausgeliefert gefühlt habe „wie ein Stück Fleisch“. Am Ende stand doch ein Kaiserschnitt. Damals galt als Trauma aber nur ein „Ereignis von katastrophalem Ausmaß“ – eine Geburt fiel nicht darunter. Das wird heute anders diskutiert – „und das ist gut so!“, betonte Anke Rohde.
So konkret und informativ verlief die Tagung weiter. Neben praxisnahen Vorträgen wurden aktuelle Forschungs- und Studienergebnisse vorgestellt. Aus der Fülle der Vorträge und Workshops können nur einige kurz angerissen werden.
Susanne Leutner, Psychologische Psychotherapeutin aus Bonn, stellte den von ihr mitentwickelten „Traumatherapie-Kompass“ zur Behandlung von traumatisierten Menschen vor. Dabei geht es um eine Verschränkung von Ressourcenarbeit und Traumakonfrontation. Die Klient*innen profitieren von einer ressourcenaktivierenden Beratung, sie entdecken ihre eigenen Ressourcen und gewinnen Selbstwirksamkeit. Statt – wie lange üblich – nach einem traumatischen Erlebnis erst zu stabilisieren und dann das Trauma zu bearbeiten, plädierte sie für ein „Prozessmodell“ mit Traumabearbeitung von Anfang an. Wie wichtig professionelle Traumaarbeit ist, demonstrierte sie anhand relativ aktueller epidemiologischer Zahlen für Deutschland (Maercker et al. ICD-11 Prevalence Rates of Posttraumatic Stress Disorder and Complex Posttraumatic Stress Disorder in a German Nationwide Sample. J Nerv Ment Dis 2018; 206: 270–276): 30 – 60 % der Menschen erleben eine traumatische Situation in ihrem Leben, davon erkranken ca. 30 % an einer Traumafolgestörung. Nach einer Vergewaltigung entwickeln 17 % der Betroffenen eine PTBS, 11 % bei häuslicher Gewalt, ebenso viele nach sexuellem Missbrauch im Kindesalter.
Das Thema „Kinder als Betroffene“ wurde am letzten Tag aufgenommen. Kai von Klitzing, Kinder- und Jugendpsychiater und Psychoanalytiker aus Leipzig, stellte dar, welche schwerwiegenden Folgen Vernachlässigung und emotionale Missachtung von Kindern haben können. Dabei erfahre die Vernachlässigung – von ihm definiert als „Abwesenheit einer eigentlich vom Kind zu erwartenden sensitiven, entwicklungsgerechten und responsiven Fürsorgeumwelt“ – zu wenig Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und in den Hilfesystemen, obwohl emotionale Misshandlungen laut Studien weltweit häufiger vorkommen als körperliche. Diese „pathogene Fürsorge“ gebe es in Institutionen, aber auch in Familien, wenn die Eltern in ihrer eigenen Biografie keine „intuitive Elternschaft“ entwickeln konnten. Die Folgen für Kinder und Jugendliche: ein fünf- bis zehnfach erhöhtes Risiko für PTBS, ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko für Angststörungen und Depressionen. Wichtig sei deshalb eine möglichst früh beginnende „individualisierte Kind- und Eltern-orientierte Psychotherapie“, die je nach Situation den Schwerpunkt mehr bei den Eltern oder beim Kind setzt.
Einen spannenden und hochkomplexen Einblick in die aktuelle neurobiologische Forschung der Traumafolgestörung gab Ulrike Schmidt, Stellvertretende Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Bonn. Sie erläuterte einige der derzeit bekannten „Puzzlesteine“ der Neurobiologie von Traumafolgestörungen, unter anderem aus dem Feld der Epigenetik. Was hängen blieb: „Biologische Frauen haben, unabhängig von der Prävalenz von traumatischen Erlebnissen, eine höhere Wahrscheinlichkeit, eine PTBS zu bekommen, als biologische Männer!“ (Zitat aus dem Vortrag von Ulrike Schmidt). Dazu trägt laut Studienergebnissen der Östrogenstoffwechsel bei, der regulierend in spezifische Risikogenvarianten eingreift.
Zum Thema Trauma und Sexualität referierte Melanie Büttner, Ärztin und Sexual- und Traumatherapeutin aus München. Gewalt in der Kindheit könne sehr unterschiedliche negative Folgen für die weibliche Sexualität haben. Dazu gehörten Schmerzen im urogenitalen System, sexuelle Funktionsstörungen, riskantes Sexualverhalten und auch Schwierigkeiten, den Gebrauch von Verhütung und Kondomen mit dem Partner zu verhandeln. Um die sexuelle Gesundheit wiederherstellen zu können, sollten alle Gesundheitsberufe – Ärzt*innen ebenso wie Hebammen und Beckenbodenphysiotherapeut*innen – mit ihren Patientinnen auch über Sexualität sprechen. Ins Gespräch zu kommen, gelinge mit einfachen Sätzen: „Viele Frauen haben Fragen zu ihrer Sexualität oder erleben Probleme damit … Wenn Sie wollen, können wir darüber sprechen oder ich könnte Ihnen jemanden empfehlen.“ Auch Fragebögen könnten eingesetzt werden. Da Betroffene viel Selbstbestimmung brauchten, um sich sicher zu fühlen, sollten Gesprächsangebote und Fragebögen immer als „Einladung zur Auskunft“ eingesetzt werden mit der Möglichkeit, Nein zu sagen. Sexualität sei für Menschen mit sexuellen Traumafolgen oft sehr belastend. Viele hätten Sex, obwohl sie ihn gar nicht wollen, hielten dabei Dinge aus, die ihnen nicht guttäten und erlebten so immer wieder sexuelle Gewalt. Sexuelle Auslösereize wie körperliche oder emotionale Nähe, Gerüche und Geräusche könnten zu einem Wiedererleben führen, zu psychischen und/oder körperlichen Reaktionen (z. B. Dissoziation) und entsprechenden Schutzstrategien.
Wie geht es weiter nach sexuellen Übergriffen, was passiert nach einer Anzeige? Julia Meyer, Ermittlungsrichterin aus Berlin, machte den Blick über den Tellerrand möglich. Sie räumte zunächst mit den Stereotypen von Vergewaltigung auf, die unsere Vorstellungen oft prägen: Das Opfer ist jung, es wehrt sich massiv, entsprechend sind erhebliche Verletzungen feststellbar, der Täter wendet ein hohes Maß an physischer Gewalt an, Täter und Opfer kennen sich nicht, die Tat findet in der Öffentlichkeit statt. Das treffe meist so nicht zu. Da es bei der Verhandlung oft eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation gebe mit der Zeugenaussage als vornehmlichem Beweismittel, sei die ärztliche Dokumentation besonders wichtig. Julia Meyer erläuterte die Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung als Ermittlungsrichterin, um so der Betroffenen eine Aussage vor Gericht zu ersparen, und verdeutlichte das Recht der (potenziell) Verletzten auf eine psychosoziale Prozessbegleitung zur „Stärkung und Stabilisierung“ und zur Informationsvermittlung.
Über 50 Teilnehmende der Tagung, mehr als erwartet, hatten sich für den Workshop „Betreuung und Versorgung von sexualisierter Gewalt Betroffener“ angemeldet. Nicole Balint von der Klinik für Gynäkologie an der Charité Berlin stellte das Spurensicherungskit inklusive ärztlichem Befundbericht vor, wie es an der Charité Berlin Verwendung finden. Sie demonstrierte mit selbstgedrehten Videos, worauf es bei der genitalen Untersuchung ankommt. An Beckenmodellen konnten die Teilnehmenden Inspektion und Abstrichentnahme selbst üben. Breiten Raum nahm die Diskussion über mangelhafte Versorgungsstrukturen ein. Laut Nicole Balint existieren bisher in der Bundesrepublik keine einheitlichen Konzepte zur Erstversorgung von mutmaßlichen Betroffenen sexueller Gewalt. Dabei gehe es um unterschiedliche Formen der Versorgung: polizeiliche Anzeige, vertrauliche Spurensicherung (VSS) oder alleinig medizinische Versorgung. Die vorwiegend jüngeren Gynäkologinnen im Workshop konnten das aus ihrer eigenen klinischen Erfahrung nur bestätigen. Sich bundesweit für bessere Versorgungskonzepte einzusetzen, wurde als eine berufspolitische Aufgabe auch der DGPFG angesehen.
Auch eine Krebserkrankung kann als Trauma wirken. Die Gynäkologin Friederike Siedentopf aus Berlin, spezialisiert auf Brusterkrankungen, referierte über die Auswirkungen der Krebsdiagnose. Krebs symbolisiere den „schlimmen Tod“. Fast ein Drittel der Patientinnen mit Brustkrebs leide laut einer Studie unter einer Angststörung oder einer Depression. Man wisse, dass eine stressassoziierte psychische Erkrankung die Lebensqualität reduziere und die Therapieadhärenz verschlechtere, was zu einer Verschlechterung der Prognose führen könne. Eine PTBS werde bei fünf bis zehn Prozent der Betroffenen diagnostiziert. In der Behandlung sollte der Blick von Anfang an auf die eigenen Ressourcen gelenkt werden. Siedentopf betonte, dass Patientinnen mit einer Krebserkrankung die frühzeitige Teilnahme an einer resilienzfördernden Maßnahme ermöglicht werden sollte. Auch bei der Nachsorge, nach Abschluss der Primärtherapie, gehe es immer wieder um die Stärkung des Selbstwertgefühls und um Möglichkeiten der Stressregulation.
Nachmittags wurden, wie bei DGPFG-Tagungen üblich, praxisnahe Workshops angeboten, überwiegend zum Thema Gewalt und Trauma: Sexualität nach sexueller Traumatisierung, geburtshilfliche Betreuung gewaltbetroffener Frauen, Ersthilfe bei häuslicher Gewalt, Physiotherapie mit Blick speziell auf Frauen mit Traumaerfahrung, Kunsttherapie in der Behandlung von Traumafolgen. Im Workshop „Kontrazeptionsberatung für Fortgeschrittene“ ging es um die zunehmende Ablehnung von hormoneller Kontrazeption, die ernst genommen werden sollte, und die erforderliche Kompetenzerweiterung für nicht-hormonelle Kontrazeption wie Kondom und Diaphragma. Die „Einführung in die kreative Schreibtherapie“ machte nachvollziehbar, dass „Schreiben hilft und inspiriert“.
Die DGPFG-Tagung ist immer auch eine Gelegenheit, eigene Forschungsergebnisse und Schwerpunkte vorzustellen. Dieses Jahr waren fast 40 wissenschaftliche Kurzvorträge angemeldet, so viele wie lange nicht. Bereichert wurde die DGPFG-Tagung durch Symposien der Marcé Gesellschaft für Peripartale Psychische Erkrankungen (https://marcesociety.com/regional-groups/german-marce-society/) und der International Society of Psychosomatic Obstetrics and Gynaecology (ISPOG; https://ispog.org/).
Die DGPFG hat sich mit dieser Tagung einem schwierigen Thema gestellt, das in ärztlichen Fachkreisen lange vernachlässigt wurde. Wie sich in Bonn erwies, gibt es inzwischen gerade bei jüngeren Kolleg*innen eine große Bereitschaft, sich der Problematik zu widmen. Und das ist gut so.
Publication History
Article published online:
04 December 2024
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