PiD - Psychotherapie im Dialog 2010; 11(1): 3-14
DOI: 10.1055/s-0029-1223532
Standpunkte

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zum Stand der Integration in der Psychotherapie

Maria  Borcsa, Annette  Kämmerer, Volker  Köllner, Hans  Lieb, Henning  Schauenburg, Arist von  Schlippe, Wolfgang  Senf, Bettina  Wilms im Gespräch mit Jochen  Schweitzer und Michael  Broda
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Publication Date:
08 March 2010 (online)

PiD: Wie hat sich die Therapielandschaft in den letzten zehn Jahren mit oder auch durch PiD entwickelt?

Maria Borcsa: Meines Erachtens gibt es zeitgleich mehrere Strömungen, ich will die 2 wichtigsten mal benennen: eine nach wie vor offizielle Oberflächenströmung mit Schulenreinheit(en) – befördert durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen – und eine Unterströmung, die pragmatisch und in gewisser Weise postmodern per Methodenmix vorgeht. Das hat zum Beispiel eine Untersuchung von Hans Schindler (mit Arist von Schlippe 2006) gezeigt: Die wenigsten niedergelassenen PsychotherapeutInnen arbeiten „schulenrein”, sondern verknüpfen je nach Sachlage verschiedene methodische Zugänge. Hierzu hat PiD ohne Zweifel beigetragen, nicht nur durch die Zeitschrift, sondern auch durch die Tagungen.

Annette Kämmerer: Ich finde, dass der Anstoß, der von den PiD-Heften ausgegangen ist, wichtig war. Für viele Forschende und Praktizierende waren die verschiedenen Standpunkte, die darin zu jeweils einem Thema zum Ausdruck gebracht wurden, eine wichtige und anregende Lektüre. Es war bereichernd, in den Themenheften schnell einen Überblick über verschiedene Perspektiven zu erhalten. Aus meiner Sicht käme es jetzt darauf an, wirklich eine integrative Perspektive zu eröffnen, die weniger zu einem Thema additiv verschiedene Standpunkte erörtert, sondern in der konzeptuell integrative Perspektiven versucht würden.

Wolfgang Senf: Ich gebe Annette völlig recht. Auch wenn konzeptuell noch viel zu tun ist, hat sich die Therapielandschaft m. E. aber doch dahingehend verändert, dass die Vertreter der verschiedenen „Schulen” inzwischen miteinander sprechen und sich nicht mehr nur mehr oder weniger aggressiv voneinander abgrenzen und gegenseitig entwerten, sondern nach Gemeinsamkeiten oder nach Ergänzungsverhältnissen suchen. Das ist ja schon eine Art integratives Bewusstsein. Zudem wird mehr gegenseitige Fortbildung zugelassen unter der Frage: Was kann ich als Profi meiner Orientierung von den Profis der anderen Orientierungen lernen, wenn ich auch mal über den eigenen Zaun schaue. Diese Entwicklung hat PiD mit Erscheinen 2000 auf der Psychotherapiebühne (mit-)initiiert und doch sehr gefördert. Das war ja auch unsere Absicht.

Arist von Schlippe: Wir wissen natürlich nicht, wie es „ohne PiD” gewesen wäre, doch erlebe ich in vielen Gesprächen, wie bedeutsam die PiD dafür ist, Ideen aus den jeweils anderen Therapierichtungen weiterzutragen. Gerade das Konzept, dass man von konkreten Kasuistiken ausgehend die Möglichkeit hat, den Kollegen aus einer anderen Orientierung sozusagen „über die Schulter zu schauen”, hat viel dazu beigetragen, Zerrbilder „vom anderen” zurechtzurücken. So hat die PiD durchaus ihren erkennbaren Anteil daran, dass der Dialog zwischen den Therapieschulen wieder in Gang gekommen ist.

Ich kann dazu noch etwas aus meiner ganz persönlichen Erfahrung heraus sagen, denn gerade für mich als systemischen Therapeuten war meine Tätigkeit in den ersten sechs Jahren als Mitherausgeber der PID eine wichtige Erfahrung. Ich erinnere mich gut daran, wie bei uns nach der Ablehnung des Antrags auf wissenschaftliche Anerkennung durch den Beirat im Jahr 1999 die Stimmung auf einem Tiefpunkt und das Gefühl von Kränkung auf einem Höhepunkt waren. Da war es gut, in das Herausgebergremium der PiD eingeladen zu werden und von Anfang an auf Augenhöhe mit den anderen Richtungen zu sein. Besonders die gemeinsam gestalteten Hefte waren so etwas wie „gelebte Integration”: Wie soll die Grundlinie des jeweiligen Heftes aussehen, wen laden wir ein, wer hat dazu Interessantes zu sagen, das die Diskussion belebt usw. So waren die Vorgänge in der Gründungsphase und die Jahre des Aufbaus der Zeitschrift paradigmatisch für das, was sich in den letzten zehn Jahren in vielen Bereichen vollzogen hat: Die Vertreter unterschiedlicher Schulen gingen wieder aufeinander zu. Das griffige Wort von Orlinsky: „Learning from many masters” weist darauf hin, dass die Praktiker ohnehin weniger in Schulenkategorien denken als vielmehr methodische Zugänge, die sie kennenlernen, jeweils direkt in Bezug zu ihrer persönlichen und praktischen Weiterentwicklung stellen.

Henning Schauenburg: Meiner Ansicht nach hat sich die Integrationsidee innerhalb der Psychotherapie erheblich weiterentwickelt, allerdings wahrscheinlich in manchem anders, als wir das vor zehn Jahren erwartet haben. Der Gleichberechtigung z. B. in der PiD stehen in der realen Therapielandschaft völlig andere Verhältnisse gegenüber. In der öffentlichen Wahrnehmung gibt es praktisch fast nur noch Verhaltenstherapie und psychodynamische Therapien. Humanistische Verfahren haben sich in Felder außerhalb des medizinischen Versorgungssystems zurückgezogen (abgesehen von den Kämpfen um Anerkennung, die die Gesprächstherapie führt), die systemische Therapie ist eine Domäne der Beratungsstellen, der Sozialarbeit und der Kinder- und Jugendarbeit geworden, wobei auch hier die Anerkennung zunächst als wissenschaftliches Verfahren eine neue Entwicklung einleiten kann.

Daneben sieht es so aus, als suchten neue therapeutische Methoden „Schutz” unter dem Namen von gesetzlich anerkannten Verfahren, auch das eine Form von „Integration”. So sind in der Verhaltenstherapie eine Anzahl von neuen Ansätzen entstanden ist, die sich bei genauem Hinsehen als Aneignung und Assimilation schon bekannter Methoden, sei es aus der humanistischen Psychologie, sei es aus psychodynamischer Tradition, erweisen. Auf der anderen Seite hat insbesondere die Psychoanalyse große Mühe. Verschiedene Gründe haben den Nachwuchs teilweise zum Versiegen gebracht. Psychoanalytisches Denken droht, und dies wäre ein immenser Verlust, im klinischen Alltag zu verschwinden. Und ohne eigene Erfahrung und eigenes Erleben ist es nun einmal besonders schwer zu vermitteln.

Bettina Wilms: Die Unterteilung in Richtlinienverfahren und „andere” (wie nennt man die eigentlich „richtig?) suggeriert dem nicht in der Diskussion stehenden Betrachter, dass es zwei bis drei „ordentliche” Therapieverfahren gibt und dann noch „den Wildwuchs”. Andererseits hat sich insbesondere in den letzten Jahren in der Praxis nahezu gegenläufig zur administrativen Ebene sehr viel Integration von Verfahren entwickelt, was z. B. auch daran abzulesen ist, dass viele junge Kollegen, die sich auf eine berufliche Perspektive in der Psychotherapie einstellen, mindestens zwei Verfahren anstreben und sich für andere Konzepte sehr offen zeigen. PiD sehe ich hier als eine Art vorgeschobenen Teil dieser Entwicklung: Als Metapher könnte das Bild einer im Tunnelbau benutzten Maschine dienen, die sich sozusagen erst mal durch die Erdmassen durchgraben muss, bevor der geplante Tunnelbau dann so erfolgen kann, das andere sich darin bequem von A nach B bewegen können.

Hans Lieb: Ich selbst sehe zwei Entwicklungslinien: Positiv: Die das therapeutische Denken lange Zeit beflügelnden und in den letzten zwei Jahrzehnten hemmenden Bemühungen um Therapieschulenabgrenzungen gehören der Vergangenheit an. Dazu hat die PiD ganz besonders beigetragen durch die Möglichkeit und durch den sich aus ihrer Struktur ergebenden Zwang zur Versachlichung des Austausches, indem der Blick aller Schulen auf spezifische Themen und Störungen gerichtet wurde anstelle des Blickes aufeinander. Negativ: Das hat auch seinen Preis: Die Schulenauseinandersetzungen verlieren an Schärfe und damit an Prägnanz. Integrationisten haben Hochkonjunktur, Isolationisten geraten ins Abseits mit allem, was sie an Positivem repräsentieren (z. B. eine oft klarere Sprache).

Volker Köllner: Als ich vor 20 Jahren anfing, Psychotherapie zu lernen, hatte die Auseinandersetzung zwischen den Therapieschulen noch etwas von einem Glaubenskrieg. Für mich als Verhaltenstherapeuten war es sehr schwer, in der damals noch psychoanalytisch geprägten Landschaft der universitären Psychosomatik Fuß zu fassen. Es fielen Sätze wie: „Einen Verhaltenstherapeuten habilitiere ich nicht.” Ein Meilenstein hin zu mehr Rationalität in der Auseinandersetzung war m. E. das Buch von Klaus Grawe „Psychotherapie im Wandel”. Viele haben sich darüber aufgeregt, aber letztlich hat er uns den Weg in die Zukunft gewiesen: mit gut gemachter Psychotherapieforschung Wirkweise und Wirksamkeit unserer Verfahren zu belegen und weiter zu verbessern. Der nächste Meilenstein war dann das Lehrbuch von Senf und Broda „Praxis der Psychotherapie”, das zu unterschiedlichen Sachthemen Autoren wenigstens zwischen zwei Buchdeckeln zusammenbrachte; die integrativen, gemeinsam diskutierten und geschriebenen Kapitel kamen erst später. Aus diesem Ansatz heraus ist dann ja auch die PiD entstanden. Ich denke, dass die Idee, ein Störungsbild (z. B. somatoforme Störung), eine Problemkonstellation (z. B. Trauma, Burn-out) oder eine therapeutische Fragestellung (z. B. wann ist zu Ende therapiert?) zum Ausgangspunkt eines Heftes zu machen, Ansatzpunkte der unterschiedlichen therapeutischen Orientierung darzustellen und diese auch durch das gemischt besetzte Herausgeberteam zu diskutieren, der richtige Weg ist, die Ressourcen verschiedener therapeutischer Orientierungen in Klinik und Praxis zu bündeln.

Welche Entwicklungsperspektiven seht Ihr in den nächsten zehn Jahren in der Psychotherapie?

Annette Kämmerer: Einerseits: Wenig konzeptuelle, strategische Weiterentwicklung für die angewandte Psychotherapie erwarte ich von den biologisch-neurologischen Forschungsansätzen, die gegenwärtig populär sind. Zugespitzt gesagt ist das Bestätigungsforschung, d. h. ich vergewissere mich, dass das, was ich tue, als neuronale Aktivität zu beobachten ist.

Andererseits, und daher kann man diese Forschungsrichtung nicht ignorieren, ist diese natürlich integrativ in dem Sinne, dass je schulenspezifisches therapeutisches Handeln zu den gleichen neuronalen Reaktionen führt. Egal ob sich der Patient über den Psychoanalytiker, den Verhaltenstherapeuten oder den Familientherapeuten ärgert – seine Amygdala wird jeweils in gleicher Weise reagieren. Insofern ist diese Forschungsentwicklung, egal ob Neuropsychoanalyse, Neuroverhaltenstherapie oder „Neuro …-irgendwas” tatsächlich ein Weg, der prinzipiell zur Integration beitragen kann: Die Wirkungen therapeutischen Handelns schlagen sich im Gehirn eines Menschen an den gleichen neuronalen Rezeptoren nieder.

Aber das würde erfordern, dass dieser Vergleichbarkeit der Wirkungen die Gleichberechtigung der Wege zuerkannt würde – und da bin ich skeptisch, denn die Konkurrenzen und das Denken in Schulen sind in den Köpfen doch noch fest verankert.

Schaut man sich die „therapeutischen Wellen” an, die in den letzten zehn Jahren über uns gerollt sind, so fällt m. E. auf, dass sich in diesen immer deutlicher eine Integration niederschlägt. Ob das die „Achtsamkeitswelle” ist oder jetzt gerade die „Schemawelle” – in ihnen verbirgt sich oftmals ein integratives Ätiologiemodell und ein pragmatischer Umgang mit therapeutischen Strategien. Das finde ich im Prinzip nicht schlecht.

Maria Borcsa: Da stimme ich in dem Punkt Annette Kämmerer zu: Entwicklungslinien haben doch immer sehr viel mit Kontextbedingungen zu tun: Entsprechend dem vorher Gesagten wird es eine Fortführung der „Unterströmungen” geben, da sich auch in Zukunft die meisten Psychotherapeuten nicht davon abhalten lassen werden Neues für sich und ihre Arbeit zu entdecken, auch wenn sie damit Grenzüberschreitungen vollziehen. Zum Glück! Die anderen Linien sind eingebunden in nationale und vielleicht auch zunehmend europäische Gesetzgebungen. Auf der europäischen Ebene ist ja vieles denkbar, gleichzeitig aber auch sehr langwierig. Da braucht es wohl eher 20 als zehn Jahre … aber kleine Erneuerungen existieren, z. B. hat sich ein österreichischer Kollege über das Mobilitätsgesetz in Italien einklagen können – in Österreich sind zahlreiche Therapierichtungen zugelassen und werden von den Kassen (mit-)finanziert.

Was mir darin und vor allem aber auch in den neurologischen Ansätzen fehlt und was ich für substanziell in Bezug auf die Entwicklung halte: Die Psychotherapie übernimmt die individualistische Perspektive, in der sich unsere Gesellschaft befindet. Wir begnügen uns mit Scheinobjektivitäten (z. B. neuronale Reaktionen) und wir verlieren den sozialen Kontext aus den Augen – auch den, innerhalb dessen das System Psychotherapie angesiedelt ist. Psychotherapie sollte sich wieder stärker ihres emanzipatorischen Charakters besinnen, gesellschaftliche Prozesse reflektieren und sich diesen gegenüber in einer an ethischen Prinzipien orientierten Weise positionieren.

Bettina Wilms: Ich sehe die weitere Entwicklung eines schulenübergreifenden Arbeitens, wobei die Frage sein wird, ob dies wirklich in eine „allgemeine” Psychotherapie münden wird. Vielmehr denke ich, dass die „Community” um die Pole Integration und Abgrenzung kreisen wird, und sich mal mehr in die eine und mal mehr in die andere Richtung entwickeln wird. Erfreulich wäre, wenn dieses Kreisen nicht in dichotome Entweder-Oder-Konstrukte münden müsste, sondern das „Sowohl-als auch” zuließe. Hier könnte auch bedeutsam sein, wann in einer Berufsbiografie Schule im Sinne von Erlernen eines einzigen Konstruktes sinnvoll sein kann und wann, ausgehend von dieser therapeutischen „Heimat”, der Blick über den Tellerrand und das integrative Arbeiten mit anderen Verfahren und Methoden für den oder die einzelne TherapeutIn passt.

Hans Lieb: Mir persönlich wäre am wichtigsten: Dass durch die Anerkennung der Systemtherapie und damit auch deren dafür geeigneter systemtheoretisch-konstruktivistischer Theorie die konzeptuelle Basis wächst für eine metaperspektivische Selbstbeschreibung von Psychotherapie als eigener gesellschaftlicher Bereich neben anderen Bereichen wie Gesetzgebung, somatischer Medizin, Pädagogik usw. Psychotherapie kann sich dadurch ihrer Rolle, ihrer Potenzen und ihrer Grenzen in der Gesellschaft bewusster werden, diese eindeutiger beschreiben und aus dieser Selbstbeschreibung neue Einsichten und neue Interventionsverfahren entwickeln. Das ist nicht nur Theorie und steht nicht in Konkurrenz zu schulenspezifischen Interventionen und Konzepten. Ich habe das praktisch umgesetzt in das Konzept „Kontextsensibilisierung als Wirkvariable” und gute Erfahrungen damit in Aus- und Weiterbildung von Verhaltenstherapeuten gemacht.

Volker Köllner: Ich fürchte, dass wir durch die Auseinandersetzung miteinander zu wenig auf die Bedürfnisse des Versorgungssystems geachtet haben. In Deutschland sind mehr Psychotherapeuten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung tätig als in allen anderen Ländern. Trotzdem haben wir zu lange Wartezeiten auf ambulante und teilweise auch stationäre Behandlungsplätze. Dies ist aus der Sicht der Kostenträger und der Solidargemeinschaft nur schwer erträglich. Wir müssen uns der Herausforderung stellen, kürzere, effizientere und den Bedürfnissen bestimmter Patientengruppen (z. B. Patienten mit chronischem Schmerz, Tumorpatienten) angepasste Behandlungskonzepte zu entwickeln. Ein Rückgang der Schulorientierung ist hier allemal hilfreich: Ausgangspunkt der Konzeptentwicklung ist dann nämlich nicht mehr „wie kann ich die reine Lehre umsetzen?!”, sondern „welches Problem gilt es hier zu lösen?”.

Arist von Schlippe: Optimistisch gesehen, denke ich auch, dass wir immer weiter vom Denken in Schulenkategorien wegkommen, ohne zugleich die Unterschiede zwischen Ansätzen, Theorien und praktischen Zugängen zu verwischen. Ich halte das Denken in „Schulen” für gefährlich, weil es in „Glaubenskriege” führen kann. Wir wissen ja aus der Sozialpsychologie, dass ein Denken in „Wir” gegen „Die” beinahe unvermeidlich ist, wenn man nicht aktiv um Dialog bemüht bleibt. Es sind klassische und gut bekannte Intergruppenphänomene, die dazu führen, dass man versucht, die eigene „Gruppe” auf Kosten der anderen besser zu stellen.

Der Dialog sollte also eher intensiver geführt werden. Praktiker integrieren ohnehin ständig die verschiedenen Konzepte in ihrer konkreten Alltagspraxis – das zeigt auch die Studie, die Maria anfangs erwähnte (Schindler u. von Schlippe 2006). Hier sehe ich nach wie vor großen Bedarf für eine Zeitschrift wie die PiD!

Wolfgang Senf: Ich erwarte und erhoffe, dass sich doch integrierte Konzepte entwickeln werden, wozu Klaus Grawe uns alle aufgefordert und ermutigt hat, ohne dass man sofort den Vorwurf eines „wilden Eklektizismus” bekommt. Die Integrierte Psychotherapie ist ein sehr anspruchsvoller Ansatz, der sehr viel Wissen und Kompetenz voraussetzt, er ist m. E. damit „höherwertig” als ein allein schulenorientierter Ansatz – wenn es gekonnt und professionell gemacht ist.

Ich hoffe weiter, dass die Sektoren ambulant – stationär / teilstationär – Reha nicht mehr allzu lange so getrennt bleiben wie bisher, und hier eine „Integration” im Sinne von Gesamtbehandlungsplänen, auch finanziell, erfolgt. Sorge bereitet mir, dass in der Konkurrenz der Berufsgruppen Mediziner versus Psychologen die ärztlich getragene Psychotherapie auf dem „Gesundheitsmarkt” auf der Strecke bleiben könnte.

Annette Kämmerer hat etwas ganz Wichtiges angesprochen: Entgegen dem Mainstream-Haschen nach neurobiologischen Scheinobjektivitäten muss sich die Psychotherapie wieder ihres emanzipatorischen Charakters besinnen. Hier macht übrigens auch die Psychoanalyse nicht mehr ihre Schulaufgaben.

Henning Schauenburg: Die wechselseitige Aneignung als eine unvollständige Form von Integration wird meiner Ansicht nach vermutlich weitergehen. Die Vorstellung einer allgemeinen Psychotherapie, die dann wirklich eine integrative wäre, würde eine direkte Kooperation erfordern, die angesichts der Strukturen und Denkweisen und auch der strikten Trennung innerhalb der Richtlinien-Psychotherapie vermutlich im Moment schwer herzustellen sein wird. Was aber hoffentlich wachsen wird ist der wechselseitige Respekt. Die Forderung nach Störungsspezifität wird zu immer ausgefeilteren verhaltenstherapeutischen Behandlungsprogrammen führen, deren pragmatische Anteile vermutlich auch von anderen Ansätzen aufgegriffen werden. Mit dem Boom der Emotionspsychologie wird andererseits eine neue Wertschätzung von Emotionsverarbeitung und Beziehungsgestaltung einhergehen und so der Gefahr einer Monokultur in der Psychotherapie entgegenwirken.

Jemand hat gesagt, die Zukunft der Psychotherapie sei jung, weiblich und verhaltenstherapeutisch. So sieht tatsächlich die Zusammensetzung an der Mehrzahl der deutschen Ausbildungsinstitute aus. Ich bewerte diesen Trend nicht, er könnte allerdings interessante Diskussionen anregen, über gesellschaftliche „Arbeitsteilungen” und generationenbezogene Aufgabenzuweisungen: Die einfühlsamen, pragmatischen und engagierten jungen Töchter kümmern sich um den emotionalen Schlamassel, den die älteren (und jüngeren) Männer anrichten, wenn man es mal überspitzt.

Welcher theoretische Rahmen könnte eine integrative Psychotherapie zusammenhalten?

Bettina Wilms: Für diese Metaebene halte ich eine systemische Perspektive für sinnvoll: Aspekte von Kundenorientierung, Auftragsklärung, Lösungsorientierung, biografische Anschlussfähigkeit von Konzepten und ein hypothesengeleitetes Vorgehen könnten vielleicht sogar checklistenartig Ansatzpunkte für eine integrative psychotherapeutische Behandlung beim einzelnen Patienten oder hilfesuchenden System liefern.

Arist von Schlippe: Ich denke ebenfalls, dass dies am ehesten durch einen systemtheoretischen Ansatz möglich ist, weil dieser den umfassendsten Rahmen zur Erklärung der Phänomene bereitstellen kann, die für die Psychotherapie bedeutsam sind. Die naturwissenschaftlich ausgerichtete Synergetik (z. B. Haken u. Schiepek 2005) versucht zu erfassen, wie Ordnungsmuster entstehen und verändert werden können. Diese Theorie und vor allem die auf ihr aufbauende personzentrierte Systemtheorie (z. B. Kriz 2004) stellt, wie auch die sozialwissenschaftliche Theorie sozialer Systeme (z. B. Luhmann 1984), die Begriffe „Sinn” und „Selbstorganisation” in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Sinn ist die Klammer, durch die psychische und soziale Systeme miteinander verbunden werden. Alle psychischen Störungen haben mit der Frage zu tun, wie Menschen ihre Erfahrungen und ihre sozialen Beziehungen durch Sinn ordnen und gestalten – und oft genug auch daran leiden. Mit diesen Begriffen als Ausgangspunkt kann m. E. die Komplexität menschlicher Lebenswelten und deren Störung (auf Ebene des Individuums und des sozialen Systems) angemessen erfasst werden. Weiterhin beinhalten die systemtheoretischen Ansätze zugleich eine Theorie des Beobachters, also eine Erkenntnistheorie. So wird Erkenntnis immer wieder relativiert – und man läuft weniger Gefahr, sich in Diskurse der Form „richtig-oder-falsch” zu verstricken.

Neben diesen beiden würde ich noch als Drittes die „narrative Theorie” nennen. Sie betont die „Allgegenwart der Erzählungen” (Bruner 1997) und ergänzt so die eher formalen Systemtheorien. Menschen werden in ein immer bereits vor ihrer Geburt bestehendes „Gewebe aus Bedeutungen” hinein sozialisiert, nehmen dieses auf und führen es fort. Dieser Strom kontinuierlicher Erzählungen von sich selbst, von anderen und von der Welt stellt die Eckpfeiler sich selbst organisierender Bedeutungserzeugung dar. Und mit diesen „Geschichten” haben es die PsychotherapeutInnen in ihrer Praxis zu tun. Erfolgreiche Therapien verändern dann die Struktur, wie Sinn / Geschichten hervorgebracht werden, und wie Ereignissen Bedeutung beigemessen wird.

Maria Borcsa: Ich denke, wahrscheinlich nur ein gegenstandsfundierter theoretischer Rahmen (analog Glaser und Strauss). Will sagen: Wohl keine existente Top-down-Theorie bestehender psychotherapeutischer Schulen wäre dazu geeignet, mal vom Machtkampf ganz abgesehen. Diesen Weg zu beschreiten hatte ja, wie schon mehrfach erwähnt, Klaus Grawe begonnen; in Großbritannien hält derzeit die Klammer die Kategorie des „evidence-based” zusammen. Dann lässt sich aber natürlich wieder darüber streiten, welche Methoden angemessen sind, um Evidenzen hervorzubringen. Da werden wir wohl nicht drum herumkommen, auch in Deutschland diese Diskussionen zu führen, in der Wissenschaft, in der Forschungsförderung. Nicht uninteressant, wenn auch noch lange nicht ausgereift, finde ich die in Österreich und zunehmend auch in Deutschland einsetzende Diskussion um eine sog. „Psychotherapiewissenschaft”, die dabei, ähnlich wie Arist formuliert, auch ins Philosophische hinaus denkt.

Annette Kämmerer: Es würde nach meinem Dafürhalten reichen, wenn wir das, was sich in empirischen Studien als wirksam erwiesen hat, zu einem therapeutischen Rahmenmodell integrieren würden. Es scheint mir recht deutlich, welche Bestimmungsstücke eine solche integrative Theorie hätte:

Die frühe Entwicklung eines Menschen ist bedeutsam für seine Vulnerabilität bzw. Resilienz gegenüber psychischen Störungen. Das haben Hunderte von Studien zu Bindung etc. gezeigt. Es gibt eine überschaubare Zahl intrapsychischer Verarbeitungsprozesse, die als gemeinsames Merkmal die mangelnde Differenziertheit psychischer Prozesse haben und für die Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen relevant sind. Dazu gehören kognitive Einschränkungen, wie etwa das Schwarz-Weiß-Denken oder die Übergeneralisierung ebenso wie Einschränkungen im emotionalen Erleben und in der Emotionsregulation. Soziale Faktoren triggern die Entstehung von psychischen Störungen, z. B. Stress, traumatische Erfahrungen, Arbeitslosigkeit etc. Die therapeutische Beziehung ist der wichtigste Wirkfaktor für das Ge- oder Misslingen von Psychotherapie; auch dazu gibt es eine große Zahl von Ergebnissen. Letztlich ist therapeutisches Handeln „Top-down”- oder „Bottom-up”-Handeln: Top down wären alle Prozesse einer kognitiven Neu- und Umbewertung, eine andere Selbst- und Fremdsicht, Veränderungen im Selbstkonzept etc.; bottom up sind alle Strategien des Verhaltensaufbaus, des Einübens von Verhaltensmöglichkeiten anhand konkreter Situationen.

Würden diese, in unzähligen Forschungsarbeiten bestätigten Konzepte zu einem kohärenten Bild zusammengefasst, hätten wir eine umfangreiche integrative Theorie. Ich habe z. B. bei der Datenbank PsychInfo mal das Stichwort „depression” eingegeben. Da erhält man für den Zeitraum 2000 bis heute 64 718 Einträge!!!! Es sollte mich wundern, wenn sich daraus nicht eine integrative Theorie der Depression und ihrer Behandlung ableiten ließe.

Wolfgang Senf: Lasst uns doch nicht immer das Rad neu erfinden! Das Konzept von Grawe gibt doch einen super guten theoretischen Rahmen her, daran müssten wir weiterarbeiten. Alle Grundorientierungen geben eine Basis für einen neuen theoretischen Rahmen. Um ein Beispiel zu geben: Das Konstrukt therapeutische Beziehung können wir heute doch sehr gut aus den unterschiedlichen theoretischen Perspektiven definieren und auch operationalisieren. Es wäre dann im therapeutischen Prozess zu entscheiden, was ansteht, ob ich etwa regressive Prozesse, systemische Aspekte oder verhaltenstherapeutische Problemlösungsstrategien therapeutisch nutze. Das ist halt sehr anspruchsvoll, und verschreckt vielleicht auch deswegen.

Henning Schauenburg: Ein „Zusammenhalten”, wie in der Frage ausgedrückt, setzt die Integration voraus, also spreche ich lieber von Befördern. Hier fällt mir zunächst die Bindungstheorie ein, die ja auch tatsächlich von kognitiver wie psychodynamischer Seite stark beachtet wird, da sie eine Art von Beziehungsorientierung anbietet, die nicht gleichzeitig die Anerkennung allzu abstrakter metapsychologischer Grundkonzepte einfordert. Ein weiterer Punkt, zumindest der theoretischen Integration sind Dinge wie der Strukturbegriff, auf dessen Inhalt sich Psychodynamik, Verhaltenstherapeuten und auch Angehörige anderer Schulen vermutlich leichter einigen können, als auf Aspekte unbewusster Konflikte. Darüber hinaus wird die zunehmende Forschung, wie auch Annette Kämmerer schon betont hat, zu allgemeinen Wirkfaktoren in der Psychotherapie vermutlich die Bedeutung schulungsspezifischer Konzepte tendenziell weiter vermindern.

Hans Lieb: Ich sehe zwei Stränge: Den einen hat Grawe in der allgemeinen Psychotherapie ausformuliert. Der andere ist die in Punkt 2 angesprochene Perspektive einer gesellschaftlichen Selbstbeschreibung von Psychotherapie. Dafür stellt die Systemtheorie das m. E. bestentwickelte Beschreibungsinstrumentarium zur Verfügung. Andere Ansätze hierzu sind sicher auch ausformuliert worden und müssten vielleicht wiederentdeckt werden.

Volker Köllner: Ich halte den von Klaus Grawe in seinen Büchern „Psychologische Therapie” und „Neuropsychotherapie” dargestellten Ansatz ebenfalls für hervorragend geeignet, einen theoretischen Rahmen der integrativen Psychotherapie zu bieten. Er liefert eine Metatheorie, in die sich sowohl lerntheoretische als auch psychodynamische Ansätze einbinden und mit Erkenntnissen der Neurobiologie und der empirischen Psychotherapieforschung verbinden lassen. In unserer Klinik arbeitet ein gemischtes Team aus verhaltenstherapeutisch und psychodynamisch orientierten Kolleginnen und Kollegen. In den gemeinsamen Teamkonferenzen, Supervisionen und Fallbesprechungen nutzen wir Grawes Ansatz zur gemeinsamen Verständigung. Ein Beispiel, wie dies in die Selbsterfahrung übersetzt werden kann, findet sich ja auch in diesem Heft (siehe Weyrauch et al.). Die Frage ist nicht mehr: „Soll der Patient psychodynamisch oder verhaltenstherapeutisch behandelt werden?”, sondern: „In welcher Dosierung werden hier die Wirkfaktoren ,Klärung‘, ,Vermitteln von Bewältigungskompetenz‘, ,Problemaktualisierung‘ und ,Ressourcenorientierung‘ benötigt und wie lässt sich dies praktisch umsetzen?”

Wird es in der ambulanten oder in der stationären psychotherapeutischen Versorgung integrierte Ansätze geben?

Hans Lieb: Diese gibt es längst, z. B. in VT-Kliniken, wo Methoden und Techniken aus anderen Schulen fruchtbringend angewandt werden, auch wenn manchmal die Herkunft dieser Kinder aus anderen Familien im Dunkeln bleibt. Durch die Anerkennung der Gesprächstherapie und der Systemtherapie werden diese Kinder hoffähiger, ihre Integration wird fortschreiten.

Mein (frommer) Wunsch dabei: Dass die emanzipatorische Seite der Psychoanalyse in diesen Integrationen (wieder) ihren Platz findet. Ich prognostiziere jedoch das Gegenteil.

Annette Kämmerer: Ich würde auch sagen: Es gibt sie doch schon! Man zeige mir den Praktiker, der nicht bereits integrativ arbeitet und sich nicht jene Strategien zusammensucht, die für den jeweiligen Patienten und sein Anliegen nützlich sind. Nicht zuletzt der Erfolg unseres Buchs „Psychotherapeutische Schätze” (Fliegel u. Kämmerer 2009) zeigt diese Tendenz deutlich.

Maria Borcsa: Natürlich gibt es diese schon, nur nicht unter diesem Label. Es ist ja so: „Die Schule: Integrierte Psychotherapie”, wäre ja eine Paradoxie, aber es gibt integratives Arbeiten sowohl in ambulanten als auch in stationären Settings. Da wird doch mit den Füßen abgestimmt, da die TherapeutInnen oder die Leitungsebene einerseits das Wohlergehen ihrer Klienten und Klientinnen im Blick haben, andererseits aber auch ihr eigenes ökonomisches Überleben, welches wiederum in der einen oder anderen Form mit Patientenzufriedenheit und damit auch Wirksamkeit der Methoden einhergeht.

Bettina Wilms: Schon jetzt ist die Integration meiner Meinung nach in der stationären und teilstationären Versorgung weiter vorangeschritten als in der Praxis des ambulanten Einzelsettings. Wegen der Verteilung auf unterschiedlich ausgebildete Mitarbeiter kann das fruchtbare Miteinander unterschiedlicher Schulen als Vorstufe auch leichter Alltag sein. Ambulant wird dies schwieriger werden, weil das EinzelkämpferInnendasein hier unterstützt wird und der einzelne Therapeut es wirklich wollen muss. Andererseits könnte es auch im Bereich der Psychotherapie die nächsten Jahre eher zu Zentrenbildung kommen, was die Integration dann wieder erleichtern würde.

Wolfgang Senf: In der stationären psychotherapeutischen Versorgung gibt es schon lange methodenintegrierte Ansätze, theoretische „Reinheit” ist dort aus meiner Sicht auch inakzeptabel. Sollen wir denn Anorexien wieder auf die Couch legen oder mit streng kontrollierter Ernährung ins Zimmer einsperren? In der ambulanten Versorgung ist, das sehe ich genauso wie Bettina Wilms, hier großer Nachholbedarf. Aber wir haben seit dem 1.1.2009 mit dem neuen EBM Kap. 22 die Grundlagen dazu! Damit ist zumindest für ärztliche Psychotherapeuten eine große Chance zu methodenintegrierten Ansätzen gegeben. Das wird leider viel zu wenig genutzt, aus Ängsten vor Veränderung, wegen der noch zu schlechten Vergütung – was sich für Psychiater ja geändert hat – und wohl auch aus Bequemlichkeiten. Die Richtlinienpsychotherapie hat halt auch Vorteile, mit der Kostenzusage, den zeitlichen Dimensionen für die Behandlung, etc.

Henning Schauenburg: Die Integration ambulanter und stationärer Therapien ist ja ein eigenes Feld und wird sicherlich in den nächsten Jahren durch die Kostenträger weiterbefördert werden, da hier ein Zugewinn an Qualität in der Patientenversorgung erhofft wird.

Daneben ist es ja in vielen institutionell organisierten Therapieeinrichtungen inzwischen selbstverständlich, dass entsprechend dem Bedarf der Patienten unterschiedliche Ansätze multimodal und multiprofessionell eingesetzt werden (z. B. stationäre Psychotherapie). Hier bleibt zu hoffen, dass die neuen Vergütungssysteme in den Krankenhäusern eine solche Vielfalt weiter möglich machen.

Volker Köllner: Ich kann das ebenfalls nur hoffen, weil sonst eine große Chance vergeben würde, Psychotherapie noch wirkungsvoller werden zu lassen. Nicht zuletzt wird es vonseiten der Kostenträger Druck in diese Richtung geben.

Welche formalen Änderungen in PT-Richtlinien wären dafür sinnvoll?

Wolfgang Senf: Die PT-Richtlinien müssten m. E. gar nicht geändert werden, wenn mehr psychotherapeutisch tätige Ärzte auch nach dem Kap. 22 EBM abrechnen würden. Dazu müsste aber die Vergütung angehoben werden für die Fachärzte Psychosomatische Medizin und Psychotherapie zumindest auf das Niveau der Fachärzte Psychiatrie und Psychotherapie, sonst ist die Differenz zum Entgelt in der Richtlinienpsychotherapie zu groß und demotiviert, den EBM zu nutzen, was sehr flexibel und methodenintegriert erfolgen kann, da er nicht den sehr engen Regeln der Richtlinienpsychotherapie unterliegt. Das wird langsam zu einer verpassten Chance, die Versorgung zu verbessern bezüglich Wartezeiten, Anrufbeantworter-Praxis, etc. Das sage ich mit Blick auf die Kassenärztlichen Vereinigungen, die müssten sich hier bewegen. Aber auch unsere Leute! In der Richtlinienpsychotherapie sollte weniger die Langzeitperspektive gratifiziert werden. Michael Broda und ich haben dazu in der PiD ja schon Vorschläge gemacht, die auf wenig Gegenliebe gestoßen sind.

Hans Lieb: Die Psychotherapierichtlinien sind wichtige in Normen gebrachte Lösungen für fachliche, gesundheits- und verteilungspolitische Probleme und Kontroversen. Sie spiegeln andernorts gefundene Lösungen wieder. Man sollte nicht erwarten, dass von ihnen entscheidende Neuerungen ausgehen. Sie können aber Spielräume schaffen. Man kann z. B.

Berichte zu Anträgen mit integrativen Fallkonzeptionen als explizite Möglichkeit in die Regularien aufnehmen; die Textteile streichen, die ein Verfahren durch die dazugehörigen Methoden oder Techniken definieren bzw. bestimmte Methoden / Techniken als verfahrensfremd ausschließen; die Richtlinien an entsprechenden Stellen so fortschreiben, dass in sich stimmige individuelle und integrative Fall-Konzeptionen wichtiger sind als die Ausrichtung von Therapieplänen und Therapieevaluationen an Diagnosen, Methodenreinheit und von außen vorgegebenen Evaluationskriterien.

Henning Schauenburg: Die Psychotherapierichtlinien wurden 1967 erarbeitet und seitdem kaum wesentlich verändert. Es muss uns klar sein, dass diese über Jahrzehnte ein Garant für die im internationalen Maßstab ausgezeichnete Versorgungssituation im Bereich der Psychotherapie in Deutschland waren und sind. Veränderungen an den Richtlinien müssen deshalb sehr sorgfältig abgewogen werden. Ich kann mir prinzipiell vorstellen, dass beispielsweise die wechselseitige Integration von Behandlungstechniken in dem jeweils anderen Verfahren (also VT und psychoanalytisch begründete Verfahren) in den Richtlinien implementiert werden kann. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass, solange es im Bereich der Psychotherapie keine Abkehr vom medizinischen Modell gibt, aus der Sicht der Krankenkassen dann eine unübersichtliche Situation entsteht, da die Wirkungsnachweise jeweils für „lupenreine” Vorgehensweisen gefordert werden.

Ob zu den bestehenden Therapieformen weitere hinzukommen werden, entscheidet sich v. a. im Rahmen der sozialrechtlichen Prüfung der bisherigen Richtlinienverfahren im Gemeinsamen Bundesausschuss. Spätestens wenn hier Erweiterungen oder Einschränkungen erfolgen sollten, werden sich diese sowieso auf die Richtlinien auswirken müssen.

Eher unproblematisch wird m. E. die weitere Etablierung von ausgewiesenen Methoden, die in begrenzten Indikationsbereichen angewendet werden können (aktuelles Beispiel EMDR).

Volker Köllner: Momentan sind die Richtlinien noch zu sehr auf Einhaltung der „reinen Lehre” fixiert. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist meines Erachtens, wie Henning Schauenburg sagt, die Zulassung einzelner „Methoden”, die es z. B. gestattet, in der psychodynamischen Psychotherapie ein pragmatisches, eigentlich aus der Konfrontation abgeleitetes Verfahren wie EMDR einzusetzen. Ich glaube, die psychodynamische Traumatherapie ist hierdurch wesentlich effizienter gewonnen. Hilfreich wären weitere Verknüpfungsmöglichkeiten, z. B. zwischen psychodynamischer Einzel- und verhaltenstherapeutischer Gruppentherapie. Dies kann aber nur auf Grundlage eines theoretischen Bezugsrahmens und einer wissenschaftlichen Fundierung geschehen, sonst wäre Polypragmasie die Folge. Einen solchen Bezugsrahmen könnte, wie schon gesagt, das Wirkfaktormodell von Grawe bieten.

Annette Kämmerer: Auf diese Frage weiß ich keine wirklichen Antworten. Da verweise ich auf das Gutachten zum Psychotherapeutengesetz und auf die Diskussion darüber in diesem Heft. Natürlich hätte eine integrative Psychotherapie Auswirkungen auf die Aus- und Weiterbildung, das liegt doch auf der Hand; wir könnten einfach nicht so weitermachen wie bisher. Aber für die Etablierung einer integrativen Psychotherapie nutzt es nichts, wenn noch weitere Verfahren anerkannt werden. Das würde den Prozess eher noch erschweren.

Zunächst wäre wohl eine Veränderung monokausaler Gedankenstränge nötig, um nicht in die Rede von „VT ist bei Angst besser” und „Analyse bei Persönlichkeitsstörungen” zu verfallen. Vielmehr sollten aus der Biografie des Patienten abgeleitete Hypothesen zu einem schlüssigen Therapiekonzept kondensiert werden, das dann sehr wohl Ansatzpunkte aus unterschiedlichen Therapieschulen enthalten kann oder sollte. Die Allgemeine Psychotherapie im Sinne Klaus Grawes bietet dazu viele Vorlagen.

Für eine ambulante Integration wäre darüber hinaus ein schulenübergreifendes Antrags- und Abrechnungssystem notwendig, was auch bezüglich des Kontextes (Einzel-, Gruppe-, Paar- oder Arbeit mit erweiterten Systemen) Veränderungen zuließe und vergüten würde.

Maria Borcsa: Ich will mal noch auf einen anderen Aspekt eingehen, der mir in meiner täglichen Arbeit näher liegt: Ich denke, es beginnt bereits in der grundständigen Ausbildung an den Hochschulen: Offenheit in den Köpfen der Studierenden zu erzeugen und keine Rigidität. Das bedeutet natürlich nicht, dass undurchsichtiger Brei gelehrt werden soll, dazu verpflichtet schon die Tradition, die Wissenschaftsgeschichte. Aber die Art und Weise, wie mir bereits früh unterschiedliche theoretische Ansätze und ihre Methoden nahegebracht werden, beeinflusst mich doch sehr darin, ob ich – um mal bildhaft zu sprechen – ein „Nationalist” oder ein „Kosmopolit” werde.

Welche Konsequenzen hätte dies für die Aus- und Weiterbildung?

Maria Borcsa: Es existieren ja alternative Modelle für die Aus- und Weiterbildung zum Psychotherapeuten – in Österreich beispielsweise bietet eine private Universität seit geraumer Zeit einen staatlich anerkannten grundständigen Studiengang der „Psychotherapie(-wissenschaft)” mit Modulen aus verschiedenen therapeutischen Richtungen an. Ich bin auf die ersten Erfahrungen sehr gespannt! Für Großbritannien wäre der Psychologische Psychotherapeut mit dem „Clinical Psychologist” vergleichbar, einem postgradualen akademischen Studiengang, der ebenfalls schulenübergreifend konzipiert ist. In Deutschland existiert ja eine gewisse Angst der privaten Ausbildungsinstitute (der „reinen Lehre”), dass sich Integration in diese Richtung entwickeln könnte: nur noch an Hochschulen angeboten und auf eine andere Weise „verschult”.

Hans Lieb: Ganz kurz und prägnant: Separation und Integration von Therapieschulen voneinander trennen. Kein voreiliges Integrationsgemenge. Am Anfang Unterschiede in Menschenbild und Theorie der verschiedenen Schulen klar markieren. Dann die schulenübergreifenden Basisvariablen trainieren. Dann im Prozess der Ausbildung auf emotionaler, methodischer und theoretischer Ebene den jungen Therapeuten helfen, ihre bevorzugten Therapieansätze zu finden, zu beschreiben, theoretisch zu vertreten. Bei alledem: Unterschiede aushalten und stehen lassen.

Henning Schauenburg: Meinem Eindruck nach wird aber in den jeweiligen Ausbildungsinstitutionen doch in einem sinnvollen Maß auch gelehrt, welche Vorgehensweisen die jeweils „anderen” Therapieschulen wählen. Allerdings liegt es in der Natur der menschlichen Identitätsbildung, dass es für die meisten leichter ist, sich zunächst ein Verfahren anzueignen, um dies dann später durch andere Methoden zu erweitern. Dass Psychotherapeuten ihre Sozialisation meist auf diese Weise gestalten, ist ja empirisch nachgewiesen.

Bettina Wilms: Hier wird oft die Nähe zum Erlernen von Sprachen herangezogen: Mir ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass wir meist auch erst eine Muttersprache erlernen und bei multilingual aufwachsenden Kindern feststellen können, dass der jeweilige aktive Wortschatz im Vergleich zu Kindern, die in den ersten Lebensjahren mit einer Sprache aufwachsen, geringer ist.

Daher denke ich, dass es in der Weiterbildung zwar größeren Raum für integrative Konzepte geben wird. Deren Akzeptanz sollte in der Ausbildung gebahnt werden. Was die Integration unterschiedlicher Schulen in der Ausbildung angeht, so bin ich eher skeptisch: Meiner Erfahrung nach ist die Auftragslage von jungen Kollegen eher die, sich zunächst in einem Verfahren ausbilden zu lassen; allerdings schon mit Blicken hin zu den Chancen, die andere Herangehensweisen bieten. Versuche, von Anfang an zu integrieren, sind jedenfalls in Leipzig nicht so erfolgreich verlaufen. Allerdings bleibt da auch die Frage, ob wir als Lehrtherapeuten das wirklich wollten.

Wolfgang Senf: Im ärztlichen Bereich sehe ich, dass die Möglichkeiten außerhalb der Richtlinienpsychotherapie schon Auswirkungen für die ärztliche Weiterbildung in Psychotherapie zeitigen. Die ärztliche Weiterbildung ist aber auch durch die Unabhängigkeit von einer marktorientierten Ausbildung deutlich integrativer geworden. Da kann man nichts mehr verdienen. Die Ausbildungen psychologischer Psychotherapeuten und der fachgebundenen ärztlichen Psychotherapeuten erfolgt ja noch auf einem Ausbildungsmarkt. Dort sollten sich vor allem die Lehrer, die Ausbilder den Aufgaben stellen, sich intensiv mit den anderen theoretischen und klinischen Perspektiven auseinanderzusetzen und diese in die Lehre einzubeziehen. PiD hatte doch einmal das Kongressprogramm „Profis lernen von Profis”, daran mangelt es.

Volker Köllner: Das Curriculum zum Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie geht in die richtige Richtung: Es wird zwar noch die Festlegung auf ein Schwerpunktverfahren gefordert, aber auch im anderen Verfahren müssen theoretisches Wissen und praktische Fertigkeiten erworben werden. Darüber hinaus wird eine Qualifikation in Gruppen-, Paar- und Familientherapie sowie im Konsil- und Liaisondienst gefordert. Diese breite Ausbildung entspricht den Erfordernissen der Versorgungslandschaft.

Ich fürchte, jetzt mache ich mich unbeliebt: Die privat organisierten Ausbildungsinstitute zementieren m. E. eine strikte Trennung der Schulen. Möglicherweise könnte eine Ausbildung, die von den Universitäten (Aufbaustudiengänge) oder den Kammern der ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten in Form von Akademien organisiert wird, eher dazu beitragen, Schulengrenzen zu überwinden und die Ausbildung den Anforderungen der Versorgungslandschaft anzupassen. Problematisch finde ich z. B., dass die Ausbildung in Gruppentherapie bei den Psychologischen Psychotherapeuten nicht in das normale Curriculum integriert ist. Da hierfür ein teures Zusatzcurriculum notwendig ist, wird diese effektive und kostengünstige Behandlungsform in viel zu geringem Umfang angeboten. Eine psychotherapeutische Ausbildung, die von Akademien oder Universitätsinstituten organisiert wird, könnte schließlich zu einem einheitlichen Ausbildungsgang in empirisch fundierter Psychotherapie (vielleicht mit unterschiedlichen Schwerpunkten) führen.

Wird es für eine integrative Psychotherapie notwendig sein, dass weitere Verfahren (GT, Systemische usw.) sozialrechtlich anerkannt werden?

Maria Borcsa: Zunächst ja, ansonsten bedürfte es einer grundsätzlichen Überarbeitung oder einer Neufassung des deutschen Psychotherapeutengesetzes – was wahrscheinlich die klügere Variante wäre, aber das ist natürlich eine ganz andere Geschichte! Denn wenn ich historisch und strukturell denke, dann kann es m. E. nicht angehen, dass eine im westlichen Nachkriegsdeutschland – aus sehr unterschiedlichen Gründen – potent ausgestattete psychologische Schulenrichtung (Besetzung wichtiger Schlüsselpositionen in Forschung / Lehre, politischen Funktionen und auch ökonomischem Potenzial) sich die anderen en passant einverleibt, womöglich unter dem eigenen Etikett, und die eigene Position ja damit stärkt … Ein aktuelles Beispiel: Die 8. DGVT-Praxistage der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie im November 2009 (sic: in Magdeburg) unter dem Titel: „Vater, Mutter, Kind – ein Kinderspiel? Bezugspersonen in der Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen” hatten unter anderem in ihrem Programm einen Langworkshop „Kleiner Bruder, große Schwester? – Systemische Teile-Arbeit mit Geschwistern in der Familientherapie”. Der Einführungstext: „Die Bedeutung der Eltern für das Gelingen der Psychotherapie ihrer Kinder ist groß. Probleme, Konflikte und psychische Belastungen der Familien spiegeln sich häufig im Verhalten der Kinder wider. In vielen Fällen sind Eltern der Schlüssel zu einer nachhaltigen Symptomverbesserung” liest sich ab dem zweiten Satz wie aus einem Lehrbuch der Familientherapie / systemischen Therapie – wobei ich nicht ein Setting meine, sondern ein theoretisch und methodisch fundiertes Behandlungsparadigma. Echte und aufgeklärte Integration – das wissen wir aus vielen anderen Phänomenbereichen – geht nicht ohne das Teilen von Ermächtigung und Macht.

Bettina Wilms: Da ich, was den Wunsch nach einer sozialrechtlichen Anerkennung der systemischen Therapie angeht, ambivalent bin, setzt sich diese Haltung auch bezüglich der anderen Verfahren fort: Ich denke ein vernünftiger Weg der Psychotherapie in den nächsten Jahren wäre, dass Psychotherapie als Kassenleistung anerkannt werden sollte, ohne diese Anerkennung auf ein Verfahren zu beziehen. (Dies würde nebenbei das schwer zu verstehende PT-System für Klienten auch transparenter machen.) Der antragstellende Kollege sollte im Antrag basierend auf der Kranken- und Entwicklungsgeschichte des Patienten / Patientin ein plausibles Vorgehen skizzieren und eine bestimmte Anzahl von Stunden (mit oder ohne Bezugspersonen) in einem Zeitraum genehmigt bekommen, der auch ein flexibel frequentes Vorgehen möglich macht. Sieht er oder sie sich nicht in der Lage, dieser Patientin zu helfen, könnte diese weitervermittelt werden (es muss ja nicht jede / r alles können).

Dann wäre es gleichgültig, welcher Schule wer angehört, sondern das hypothesengeleitete Vorgehen am Einzelfall wäre der Schlüssel zur Vergütung. Dies hätte zugegebenermaßen Effekte auf die Arbeit der Antragsteller und Gutachter: Weder könnten so weiterhin nichtssagende Standardanträge eingereicht werden, noch könnten Gutachter ebenso standardisierte Stellungnahmen versenden. Voraussetzung wäre außerdem eine schulenübergreifende Weiterbildung der Gutachter.

Arist von Schlippe: Das ist m. E. keine einfache Frage, denn sie vermischt ein strukturelles Moment (die Anerkennung) mit einer inhaltlichen Überlegung (der Integration). Natürlich wird es nicht „notwendig” sein, dass GT und ST sozialrechtlich anerkannt werden, aber leichter würde es schon. Denn notwendig wird es sein, dass Fachleute in der Lage sind, legal mit den unterschiedlichsten Instrumentarien Erfahrungen zu sammeln und sich über ihre Erfahrungen auszutauschen. Notwendig wird es sein, sich vom Schulendenken zu verabschieden, ohne in einem eklektischen Einheitsbrei zu versinken. Ich halte viel davon, dass TherapeutInnen sich vor allem zu Beginn ihrer Ausbildung auf ein Modell konzentrieren, es gut kennenlernen und den Methodenkanon dieses Modells beherrschen, wie auch Bettina Wilms in ihrer Analogie vom Sprechenlernen ausdrückt.

Doch zugleich muss in der Ausbildung das Wissen um andere Zugänge, andere Theorien und andere Praxeologien gelehrt werden. Ich denke, dass Dialogfähigkeit die wichtigste Qualität ist, die gelehrt werden sollte. Es ist interessant, wenn man verschiedene Universitäten und ihre Art der Ausbildung von TherapeutInnen vergleicht, zumindest im deutschsprachigen Raum kenne ich einige: Es gibt Institute, da lernen die Studierenden ausschließlich eine Methode, bekommen zur Belustigung ein altes Psychoanalyseband gezeigt: „So war früher, da könnt ihr alle mal drüber lachen!” – und dann ist Schluss. Doch durch Abwertung anderer Ansätze entsteht keine Dialogfähigkeit! Andere Institute vermitteln explizit einen tieferen Einblick in die Bandbreite der Möglichkeiten, auf Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen einzugehen. Auf der Metaebene wird so vermittelt, dass keine Konzeption für sich allein genommen beanspruchen kann, die Komplexität menschlicher Erfahrung angemessen abzubilden. Auch dort wird dann ein Zugang intensiv vertieft, das ist auch richtig, wenn zugleich frühzeitig vermittelt wird, dass es auch andere Zugänge gibt. Denn diese gut zu kennen, ist eine Voraussetzung für Dialogfähigkeit. Und so kann ich die Frage doch schlussendlich klar beantworten: Ja, ich denke, die sozialrechtliche Anerkennung wird notwendig sein. Denn aus Vielfalt kann etwas Neues entstehen, während Einseitigkeit droht, zu Einfalt zu werden.

Wolfgang Senf: Das ist ein schwieriges Problem, weil die große Gefahr besteht, dass weitere sozialrechtliche Anerkennungen zu weiteren „Wagenburgen” führen, so nach dem Motto, jetzt sind wir dran. Das wird die Konkurrenz untereinander stärken und befördern, wie Annette Kämmerer vorhin auch gesagt hat. Jeder möchte dann für seine Gruppe an die „Geldtöpfe”. Wir verleugnen gerne das Geschäft mit der Ausbildung, und das boomt doch. Es leben viele Leute sehr gut von dem Ausbildungsmarkt, übrigens nicht ganz so gut von dem integrierenden Ausbildungsmarkt, aber das kann ja noch kommen. Das klingt etwas sarkastisch, aber wir sollten das doch auch ehrlich diskutieren.

Henning Schauenburg: Ich stimme Wolfgang Senf im Grunde zu: Wie ich schon gesagt habe, gehe ich davon aus, dass Inhalte dieser Therapieverfahren in anderen Ausbildungsrichtungen gelehrt werden sollten. Die sozialrechtliche Anerkennung weiterer Therapieverfahren hätte vermutlich eine Verbreiterung der Methodendiskussion im psychotherapeutischen Feld zur Folge. Ob sie nach meinen o. g. Bedenken die Integration tatsächlich befördern würde, kann ich im Moment nicht vorhersagen. Mir ist es zum Schluss auch wichtig, dass über die Frage der Integration, die mindestens genauso entscheidende und klinisch häufig unmittelbar relevante Frage der Differenzierung von therapeutischen Vorgehensweisen, also was hilft wem zu welchem Zeitpunkt, nicht vernachlässigt werden darf.

Hans Lieb: Auf lange Frist ist eine solche Zulassung notwendig: Das Sein bestimmt das Bewusstsein, auch im Psychobereich. Das würde natürlich neue Ressourcenverteilungskämpfe zur Folge haben. Dass neue Produkte Märkte verändern, gilt aber für alle Märkte, warum nicht auch für den Psychomarkt?!

Volker Köllner: Ich glaube nicht, dass man die Schulenorientierung überwinden kann, indem man noch weitere Schulen hinzufügt. Ich hielte dies für kontraproduktiv, es würde die „Psychoszene” noch unübersichtlicher machen. Ich bin selbst auch systemischer Familientherapeut und ich habe von dieser Ausbildung sowohl für meine therapeutische Praxis als auch meine Tätigkeit als Chefarzt und in der Berufspolitik sehr profitiert. Die Möglichkeit zusätzlicher Abrechnungsziffern hierfür im KV-System habe ich aber nie vermisst. Und mit der systemischen Ausbildung alleine könnte ich mir nicht vorstellen, die Mehrzahl der Patienten angemessen zu versorgen. Besser fände ich es, eine einheitliche Ausbildung mit Schwerpunkten anzustreben, sodass es irgendwann vielleicht keine zwei Verfahren mehr geben muss. Die wertvollen Impulse, die systemische Therapie und GT geben können, ließen sich so wahrscheinlich besser nutzbar machen als über zusätzliche sozialrechtlich anerkannte Verfahren, zwischen denen die Patienten sich entscheiden müssten.

Wir danken Euch allen herzlich für dieses engagierte Gespräch!

Literatur

  • 1 Bruner J. Sinn, Kultur und Ich-Identität. Heidelberg; Carl Auer 1997
  • 2 Fliegel S, Kämmerer A. Psychotherapeutische Schätze. 6. ergänzte Aufl. Tübingen; DGVT-Verlag 2009
  • 3 Haken H, Schiepek G. Synergetik in der Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten. Göttingen; Hogrefe 2005
  • 4 Kriz J. Personzentrierte Systemtheorie. Grundfragen und Kernaspekte. In: Schlippe A von, Kriz WC, Hrsg Personzentrierung und Systemtheorie. Perspektiven für psychotherapeutisches Handeln. Göttingen; Vandenhoeck & Ruprecht 2004: 13-67
  • 5 Luhmann N. Soziale Systeme. Frankfurt; Suhrkamp 1984
  • 6 Schindler H, Schlippe A von. Psychotherapeutische Ausbildungen und psychotherapeutische Praxis kassenzugelassener Psychologischer Psychotherapeutlnnen und Kinder- und Jugendlichentherapeutlnnen.  Psychotherapie im Dialog. 2006;  7 (3) 334-337

Kritische Aspekte der Therapieintegration aus Sicht eines Verhaltenstherapeuten

Jochen Sturm

Dr. med. Jochen Sturm, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Nervenarzt, ist Supervisor, Gutachter und Obergutachter für Verhaltenstherapie und Geschäftsführer der Nexusklinik in Baden-Baden.

Psychotherapie als Krankenbehandlung sollte immer mit dem selbstverständlichen Anspruch des Patienten verknüpft sein, dass nur Verfahren, Methoden und Techniken eingesetzt werden, deren Wirksamkeit in wissenschaftlich kontrollierten Studien nachgewiesen wurde. Deshalb stehe ich dazu, dass sich die Selbstverwaltungsgremien der Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten darauf verständigt haben, nur die Behandlung mit wissenschaftlich hinreichend fundierten Verfahren zu finanzieren und dafür entsprechende Kriterien aufstellen. Da bislang die überzeugendsten Wirksamkeitsstudien über Behandlungen vorgelegt wurden, die sich entweder am psychodynamischen oder verhaltenstherapeutischen Theoriemodell orientieren, fordern die Psychotherapierichtlinien folgerichtig auch eine Festlegung des Therapeuten auf eines dieser Verfahren, wenn die Kosten für die Behandlung übernommen werden sollen.

Als ich Mitte der 70er-Jahre mit Verhaltenstherapie in Berührung kam, überzeugte mich als Arzt der Pragmatismus dieser Behandlungsform, deren Zweckmäßigkeit Patienten leicht zu vermitteln war, die unschwer mit medizinischen Interventionen verknüpft werden konnte und sehr offen für Effizienzforschung war, da sie sich gegenüber den herkömmlichen „Therapieschulen”, insbesondere der tiefenpsychologisch fundierten Therapie, emanzipieren musste. Durch diese Entwicklung angeregt mussten sich zum Wohle der Patienten auch andere Verfahren und Methoden intensiver der Frage der Effizienz stellen, wodurch der vorwiegend auf Überzeugungen aufbauende Schulenstreit entschärft und der Blick auf Wirksamkeit fokussiert wurde. Dabei wurden aus meiner Sicht in den letzten zwei Jahrzehnten eher Gemeinsamkeiten entdeckt als Trennendes vertieft.

Für die Wirksamkeit „schulenübergreifender” oder „integrativer” Behandlungskonzepte im Sinne einer „allgemeinen Psychotherapielehre” fehlen jedoch nach wie vor wissenschaftliche Daten, die es mir erlauben, derartige Behandlungskonzepte meinen Patienten als „Therapie der Wahl” zu empfehlen. Grawe hat mit seinem Lehrbuch der Neuropsychotherapie aufgezeigt, wohin die Entwicklung gehen sollte, indem er aus Grundlagenpsychologie, Neurowissenschaft und Psychotherapieforschung einen methodenübergreifenden Therapieansatz formulierte. Doch nicht zuletzt zum Schutz der Patienten ist es noch ein langer Weg, bis Grawes Vorstellungen auch in der klinischen Praxis umgesetzt werden können. Dass Grawe als Therapieforscher das Denken in konventionellen Psychotherapieschulen hinter sich gelassen hat, kann jedoch nicht hoch genug veranschlagt werden und lässt den Streit zwischen „Therapieschulen” anachronistisch erscheinen.

Auch früher hat es wissenschaftlich seriöse Versuche gegeben, die Gemeinsamkeiten der „Therapieschulen” i. S. einer schulenübergreifenden Psychotherapie herauszuarbeiten, eine gemeinsame Psychotherapiesprache zu finden (z. B. Queckelberghe auf der Basis der Kognitiven Psychologie) oder integrative Konzepte zu beschreiben (z. B. Lazarus mit seinem „technischen Eklektizismus”). Diesen Bemühungen liegt zum einen das wohlverstandene Interesse von Therapeuten zugrunde, für den jeweiligen Patienten in der jeweiligen Therapiesituation optimal zu reagieren und zum anderen seine Kompetenzen nicht nur auf ein Verfahren zu beschränken, sondern auch über den Zaun zu schauen und an den neuen Entwicklungen der Psychotherapie teilzunehmen. Ohne diese Kreativität und Neugierde ist keine Weiterentwicklung der Psychotherapie denkbar.

Dem haben die Psychotherapierichtlinien in der neuen Fassung Rechnung getragen, indem sie die Begriffe Verfahren, Methode und Technik klar definieren und die Möglichkeit eröffnen, Methoden und Techniken, die sich wissenschaftlich als wirksam erwiesen haben, in das eigene Behandlungsverfahren zu integrieren, ohne das jeweils zugrunde gelegte Theoriemodell zu übernehmen. So hat z. B. in der Verhaltenstherapie in den letzten Jahren die Reflexion der Beziehungsebene an Bedeutung gewonnen, sodass in der Konzeption der Therapie oft auf Erfahrungen aus der Psychodynamik zurückgegriffen wird. Die zunehmende Arbeit mit Patienten mit komplexen chronischen Störungen macht auch für Verhaltenstherapeuten häufig eine vertiefte Auseinandersetzung mit biografischen Prägungen der Patienten notwendig, wofür evaluierte Methoden und Techniken aus der psychodynamischen Therapie zur Verfügung stehen. Voraussetzung ist jedoch eine differenzierte Problemanalyse, aus der sich die Zweckmäßigkeit des Einsatzes der verfahrensfremden Methode oder Technik nachvollziehbar ableiten lässt.

Derartige punktuelle evidenzbasierte methodische und technische Anleihen im Rahmen einer Verhaltenstherapie sollten jedoch nicht die Einfallstür für „eminenzbasierte” Behandlungsansätze werden, denen ein lerntheoretisch verbrämtes Mäntelchen umgehängt wird. Darunter verstehe ich Therapieansätze, die gerade en vogue sind, weil begnadete Referenten attraktive Fortbildungen anbieten und ihr methodisches Vorgehen als „neu” verkaufen, obgleich es sich meist nur um alten Wein in neuen Schläuchen handelt. Verhaltenstherapie konnte sich in den 80er-Jahren als Richtlinien-Psychotherapieverfahren in der Krankenbehandlung etablieren, weil gute Daten über die Wirksamkeit vorgelegt wurden. Wir sollten zum Wohl der Kranken diese Tugend weiter pflegen und darauf achten, dass auch künftig nur wissenschaftlich fundierte Interventionen im Rahmen einer Verhaltenstherapie zum Zuge kommen und uns gemeinsam darauf freuen, dass eine „Allgemeine Psychotherapie” oder Neuropsychotherapie im Sinne von Grawe im Werden ist, in der zu gegebener Zeit die Verhaltenstherapie und andere wissenschaftlich fundierte Verfahren aufgehen werden. Dem steht nicht entgegen, einen konstruktiven Dialog mit Therapeuten anderer Therapieverfahren zu führen.

Kritische Aspekte der Therapieintegration aus Sicht eines Psychoanalytikers

Alf Gerlach

Dr. med. Dipl.-Soz. Alf Gerlach ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Lehranalytiker. Er arbeitet in eigener Praxis in Saarbrücken.

Als die Herausgeber der PiD mich angeschrieben haben, zur Debatte über schulenübergreifende Psychotherapie aus psychoanalytischer Sicht Stellung zu nehmen, wussten sie selbstverständlich, dass sie von mir diesem Projekt gegenüber eine große Skepsis zu erwarten haben. Diese Skepsis ist auch in den letzten Jahren nicht geschwunden. Meiner Auffassung nach gilt nicht nur für die klassische Psychoanalyse, sondern auch für alle Anwendungen der psychoanalytischen Methode im psychotherapeutischen Feld, dass sie an eine innere Haltung gebunden sind, die als ständige Selbstreflexion der innerpsychischen Vorgänge im Analytiker und des Beziehungsgeschehens zwischen ihm und seinem Patienten verstanden wird und mit der Identität des Psychoanalytikers verknüpft ist. Sie lässt sich nicht beliebig aufgeben oder verändern oder mit anderen methodischen Zugängen mischen, ohne den gesamten möglichen Verstehens- und Verständigungsprozess zu gefährden. Dies gilt meiner Auffassung nach auch für andere therapeutische Methoden, die sich in einer inneren Haltung des Psychotherapeuten, auch in einer spezifischen Konzeptualisierung des von ihm mitgestalteten therapeutischen Prozesses niederschlagen. Die verschiedenen Methoden und ihnen zugrunde liegende Theorien sind zu heterogen, als dass sie von einem einzelnen Therapeuten sinnvoll miteinander integriert werden könnten.

Diese Position schließt allerdings nicht aus, dass auch andere methodische Orientierungen als wertvoll und wissenschaftlich anerkannt werden können. In der psychotherapeutischen Praxis wird es darauf ankommen, dass sich der einzelne Psychotherapeut in seiner Methode wiederfindet und mit ihr den psychotherapeutischen Behandlungsraum erfassen kann. Auch der Psychoanalytiker sollte sich Neugier und Interesse an anderen Therapierichtungen erhalten. Diese Neugier und Akzeptanz anderen Therapieschulen gegenüber entspricht einem modernen und zukunftsweisenden wissenschaftstheoretischen wie empirisch-praktischen Modell von Psychotherapie sowie der Forderung nach Methodentransparenz, wie sie z. B. Senf und Broda in der Einleitung zur dritten Auflage ihres Lehrbuches „Praxis der Psychotherapie” vertreten. So wie wir uns wissenschaftstheoretisch in einem Zustand der „Pluralität” der Wissenschaften befinden, in dem die verschiedenen Disziplinen ihre Methoden, Erfahrungen, Theorien, Erkenntniswerte und Qualitätskriterien der Spezifität ihres jeweiligen Gegenstandes anpassen müssen, gilt dies als Forderung auch für die „Pluralität der Psychotherapien”, die wissenschaftlich unterschiedlich begründet sind und unterschiedliche Aspekte des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns in ihr je eigenes Zentrum stellen. Gerade die Artikel der PiD tragen erheblich zu dieser Methodentransparenz bei. Allerdings bleibt festzuhalten, dass Beiträge, die sich einer Methodenkombination oder gar Methodenintegration verpflichtet sehen, weiterhin selten sind. Das finde ich nicht bedauerlich; eher sehe ich darin einen Hinweis, dass auch Psychotherapeuten anderer Orientierungen sich nur selten in dieser Zielrichtung der PiD wiederfinden können.