Allgemeine Homöopathische Zeitung 2010; 255(5): 20
DOI: 10.1055/s-0030-1257722
Spektrum
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Interview mit Klaus-Henning Gypser

Das Interview führte Matthias Wischner
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Publication Date:
19 October 2010 (online)

Wann haben Sie das Organon kennengelernt?

1974/1975 lag mir die Organon-Ausgabe in der stilistischen Überarbeitung von Kurt Hochstetter vor, mit der sich allerdings wenig anfangen ließ. Die später erworbene Edition von Richard Haehl nennt 1976 als Anschaffungsjahr. Damals begann mein Homöopathiestudium bei Jost Künzli von Fimmelsberg, Will Klunker und bald danach auch bei Georg von Keller.

Wie war die erste Lektüre für Sie?

Der Text war zunächst nicht so gut verständlich, denn die langen Sätze bedurften der Gewöhnung. Hinzu kam, dass der Inhalt auch von der Sache her nicht immer eingängig war, wenn man ihn durch die Kent'sche Brille betrachtete, denn der Einfluss von Kent via Austin und Gladwin auf Pierre Schmidt und weiter auf Künzli und Klunker war bekanntlich groß. Erst später wurde mir der Inhalt immer klarer.

Hat sich Ihr Verhältnis zum Organon im Laufe der Jahre verändert?

Es wurde immer deutlicher, dass sehr viel von dem, was die Homöopathie ausmacht, bereits bei Hahnemann anzutreffen ist. Manches findet sich vielleicht noch nicht in aller Klarkeit ausformuliert, wie es sich die Spätgeborenen wünschen würden. Etwa über die Reaktionen auf die Mittelgabe und die unterschiedlichen Verlaufsformen konnte erst die Homöopathie nach Hahnemann Genaueres eruieren. Aber alles Wesentliche und Tragende der Homöopathie ist im Organon enthalten.

Heutzutage ist es unvorstellbar, dass ein Mensch dergleichen zustande bringt. Der Überblick über einen Lebensbereich geht der Menschheit heute ab, stattdessen herrscht ein Glaube an das Spezialistentum vor – mit allen Konsequenzen.

Welche Rolle spielt das Organon in der heutigen Homöopathie?

Dazu lässt sich nur sagen, welche Rolle das Organon in unserer Akademie spielt. In der Lehre wird es unablässig herangezogen. Wenn ein Bezug zum Lehrstoff herstellbar ist, d. h., wenn sich etwas bereits bei Hahnemann nachweisen lässt, wird die betreffende Passage vorgelesen. Es gibt keine Veranstaltung, in der das Organon nicht auf dem Tisch liegt. Zu vielen Hausaufgaben gehört es, einzelne Paragrafen durchzuarbeiten.

Haben Sie eine Lieblingsstelle?

§ 3, weil er die Homöopathie konstituiert. Hahnemann spricht in diesem Paragrafen nicht von der Ähnlichkeitsbeziehung, sondern davon, dass der Heilkünstler „das Heilende der Arzneien dem, was er an dem Kranken unbezweifelt Krankhaftes erkannt hat, so anzupassen [hat] […], daß Genesung erfolgen muss”. Erst in § 24 kommt er auf die Ähnlichkeitsbeziehung zu sprechen. Der § 3 begründet damit die Homöopathie als apriorische Heilkunst. Dieser Sachverhalt wird nicht gern zur Kenntnis genommen, weil man bei missratener Arzneiwahl die Schuld nicht länger einer etwaigen Insuffizienz der Homöopathie anlasten kann, sondern die Fehler bei sich beziehungsweise einem unzureichenden Instrumentarium zu suchen hat, insofern die Krankheit in den Indikationsbereich der Homöopathie fällt.

Auch die §§ 155 und 156 enthalten Bedeutsames. Hier erwähnt Hahnemann ein Phänomen, für das vorläufig der Begriff „intrakurative Nebensymptome” stehen kann. In der Regel erzeugt nämlich die in kurativer Absicht verabreichte und entsprechend dosierte Arznei keine Symptome, sondern nur bei sehr empfindlichen Kranken.

Schließlich noch der § 210. Hahnemann schreibt hier deutlich, dass es ihm um die Abänderungen des vormals gesunden Geistes- und Gemütszustands geht, die es für die Mittelwahl zu beachten gilt.

Mit welchen Aspekten des Organons haben Sie Schwierigkeiten?

Mit der ausgefeilten Diätetik, besonders mit der in Hahnemanns Frühwerk. Hahnemann war gezwungen, die Diätetik so zu entwickeln, da er nicht wissen konnte, wie die homöopathischen Arzneien wirken, sodass er die Richtlinien aus den Arzneimittelprüfungen in seine Praxis übernommen hat. Das ist für Hahnemann durchaus nachvollziehbar.

In meiner Praxis setze ich die Diätetik jedoch gemäßigt ein und nur dann, wenn es das Kranksein des Patienten erforderlich macht. Ansonsten halte ich es mit Bönninghausen (bestätigt durch Künzli), der sinngemäß gesagt hat, dass das Mittel durch vieles hindurchwirke, wenn es richtig gewählt wurde – sofern der Patient sich nicht grober Vergehen schuldig macht, wozu besonders die Einnahme herkömmlicher Medikamente zu zählen ist.

Auch die therapeutischen Adjuvanzien scheinen heutzutage nicht mehr sonderlich wichtig, also Mesmerismus (§§ 288–290) und Wasserbäder (§ 291).

Bitte vollenden Sie den Satz: Ohne Hahnemanns Organon …

… würde es seine „Heilkunde der Erfahrung” (1805) geben, die spätere Generationen genötigt hätte, manches zu erarbeiten.

Dr. med. Klaus-Henning Gypser

Gleeser Akademie homöopathischer Ärzte

Wassenacher Str. 3

56653 Glees

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