Der Klinikarzt 2010; 39(7/08): 331
DOI: 10.1055/s-0030-1265814
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Quo vadis Ärztliche Visite?

Matthias Leschke
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Publication Date:
23 August 2010 (online)

Bereits Hippokrates, der griechische Ahnherr aller Mediziner (um 460–370 v. Chr.), mahnte seine Kollegen: „zuerst das Wort, dann die Arznei, dann das Messer“. Auch heute gilt das Gespräch als ein wichtiges Handwerkszeug des Arztes, vielleicht sogar als das wichtigste: Nach verschiedenen Studien können schon während des Gespräches, also noch bevor der Arzt die eigentliche Untersuchung beginnt, bereits 60–90 % der Krankheiten diagnostiziert werden, vorausgesetzt, der Arzt führt das Gespräch richtig. Doch in Kliniken und in Sprechstunden herrscht zunehmend Sprachlosigkeit: Dem Patienten einer Allgemeinarztpraxis bleiben heute maximal 2 min, um seine Nöte vorzutragen. Nach einer Querschnittsuntersuchung aus einem großem Hamburger Krankenhaus in den 70er Jahren ergab sich eine durchschnittliche Visitendauer von 3,5 min/Patient und Tag. E. Kuntz schrieb im Internisten 2009 in seinem Rückblick 50 Jahre als Internist und Kliniker: „Die Stationsvisite dauerte 2–3 Stunden für etwa 30 Patienten. Visiten erfolgen gründlich ohne Zeitdruck. Der Stationsarzt hatte bei jedem Patienten dessen Hand in einem festen Griff, um im Gespräch, geradezu unterbewusst, die Pulsrhythmik zu prüfen.“

Offenbar sind wir Ärzte heute sprachlos geworden. So stellt Konrad Brustbauer, Leiter der Wiener Pflege-, Patientinnen- und Patientenanwaltschaft, fest „heute ist die Kommunikation zwischen Arzt und Patient der Technologie gewichen.“

Unsere Patienten sind älter geworden, dies häufig trotz schwerer chronischer Leiden, oft noch bei erstaunlicher Lebensqualität. Demnach sind die Herausforderungen an den klinisch tätigen Arzt sowohl im Krankenhaus als auch in der Praxis immens gestiegen: Es gilt dem steten Zuwachs an biomedizinischem Wissen bei gleichzeitiger psychosozialer Kompetenz und Empathie, dem Patienten gegenüber im Visitengespräch gerecht zu werden. Hinzu kommen Rahmenbedingungen, die dem Gespräch zwischen Arzt und Patient bei der täglichen Visite durch die Politik und ihre ausführenden Organe, aber auch die Kostenträger entgegen laufen, indem ständig neue bürokratische Mechanismen geschaffen werden, die nichts verbessern, sondern den Ärzten nur weiter Zeit rauben, die der Zuwendung zu dem Patienten fehlt. Heute leidet das Zeitkontingent, das für das Gespräch mit dem Patienten eigentlich essenziell ist, am meisten.

Es ist nicht nur so, dass wir Ärzte immer weniger Zeit für das Visitengespräch haben, auch die Bedeutung, die der Visite zukommen müsste, entschwindet aus unserem Bewusstsein. Jungen Ärzten wird die Kunst des ärztlichen Gespräches mit dem Patienten am Krankenbett während des Medizinstudiums häufig gar nicht mehr ernsthaft „in work“ vermittelt. Niemand hat unter den Bedingungen des klinischen Alltags dafür mehr den Nerv.

Im vorliegenden klinikarzt haben wir unterschiedliche Aspekte der ärztlichen Visite zusammengetragen, vom historischen Rückblick bis zu Forderungen, wie dieses Kommunikationsinstrument gehandhabt werden sollte. Rainer Dierkesmann und Werner Waldmann beschreiben die ersten historischen Grundzüge des klinischen Unterrichts, der klinischen Visite, aber auch persönliche Zeugnisse von Patienten, die diese klinische Visite buchstäblich am eigenen Leibe erfuhren. Thomas Heidenreich und Ingo Köckeritz analysieren aus sozialpädagogischer und psychologischer Sicht die Arzt-Patienten-Kommunikation im Klinikalltag. Sie beschreiben nicht nur Mechanismen dieser Kommunikation, sondern zeigen andererseits auch Perspektiven auf, die für den Arzt ein höheres Maß an positiver Bestätigung im zeitlichen Spannungsfeld der Visite, aber auch prinzipiell Verbesserung in der Arzt-Patienten-Kommunikation bedeuten. Bernhard Hellmich beschreibt in einer gemeinsamen Arbeit unter Einbeziehung eines erfahrenen niedergelassenen Kollegen, wie die klinische Visite und das ärztliche Gespräch unter den aktuellen Alltagsbedingungen der Arbeitszeitverdichtung und der DRGs in deutschen Krankenhäusern ablaufen.

Mario Siebler setzt die aktuellen Bedingungen der klinischen Visite in das Spannungsfeld der klinischen und akademischen Ausbildung. Vor dem Hintergrund der universitären Ausbildungsbedingungen des Arztes fordert er ein neues Nachdenken über diese Ausbildungsbedingungen. Schließlich ist die Ausbildung Schlüssel für das Rollen- und Berufsbild des Arztes und sollte trotz schwieriger Randbedingungen wieder zu einem in sich stimmigen und authentischen ärztlichen Berufsbild führen.

Wie dies umgesetzt werden könnte und welche Konzepte und Strategien die Universitäten mittlerweile entwickeln, führen Anne Werner, Friederike Baur und Stephan Zipfel aus Tübingen auf, die mit modernen Formen des Kommunikationstrainings Kompetenzen, wie Organisationsfähigkeit, Zeitmanagement, Teamarbeit und ärztliche Verantwortung im Studium lehren, um damit junge Assistenzärzte besser auf die wachsenden Anforderungen im klinischen Alltag vorzubereiten.

Ich hoffe, dass wir mit dem Spektrum dieser fünf Beiträge ein wenig zur Bewusstseinsbildung beitragen, welchen Stellenwert, aber auch Ernst der Visite und einer intensiven Kommunikation zwischen Arzt und Patient auch heute noch zukommen sollte. Vielleicht können wir damit eine Diskussion anstoßen, die letztendlich unserem Patienten dient, aber auch unser Rollenverständnis als Arzt aufwertet und nicht nur aktives Zuhören, sondern auch patientenorientierte Kommunikation fördert.

Prof. Dr. med. Matthias Leschke

Esslingen

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