Aktuelle Neurologie 2012; 39(02): 59
DOI: 10.1055/s-0031-1299020
Editorial
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Autoantikörpervermittelte neurologische Erkrankungen

Autoantibody-Mediated Neurological Disorders
M. Endres
Klinik und Hochschulambulanz für Neurologie, Charité − Universitätsmedizin Berlin
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Publication Date:
14 March 2012 (online)

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Prof. Dr. med. Matthias Endres

Zu den eindrücklichsten Erinnerungen meiner Anfangszeit als wissenschaftlicher Assistent gehören 2 Patienten mit paraneoplastischen Syndromen: Der erste Patient litt an einer schwersten, rasch fortschreitenden und äußerst ungewöhnlichen Polyradikulomyeloenzephalitis, die sich schließlich als ein Anti-Hu-Syndrom bei einem kleinzelligen Bronchialkarzinom entpuppte. Die zweite Patientin stellte sich mit einer subakuten sensorischen Neuronopathie (Denny-Brown-Syndrom) vor. Hier blieb trotz positiver onkoneuraler Antikörper eine ausführlichste Tumorsuche ergebnislos. Erst nach mehrfacher gynäkologischer Re-Evaluation ließ sich dann laparoskopisch ein Tubenkarzinom sichern und auch kurativ behandeln.

In der aktuellen Ausgabe berichten Dr. Frank Leypoldt aus Hamburg, Prof. Klaus-Peter Wandinger aus Lübeck und Prof. Rainer Voltz aus Köln in einem ausführlichen State-of-the-Art-Artikel über Neues bei paraneoplastischen Syndromen in der Neurologie (Seite 61) [1]. Zweifelsohne gehören die paraneoplastischen Syndrome nicht nur zu den interessantesten in der Neurologie, vielmehr hat sich in den letzten Jahren unser Wissen explosionsartig erweitert. So lassen sich neuerdings noch Antikörper gegen den metabotropen Glutamatrezeptor 5 (mGluR5) hinzufügen, die offenbar bei einigen Fällen des Ophelia-Syndroms pathogenetisch relevant sind [2]. Hierbei handelt es sich um eine paraneoplastische limbische Enzephalitis auf dem Boden eines Hodgkin-Lymphoms.

Da bei rechtzeitiger Diagnose und adäquater immunmodulierender Therapie in vielen Fällen der „neuen“ Syndrome mit Antikörpern gegen Oberflächenantigene eine gute Prognose besteht, ist eine ständige Aktualisierung des Wissensstandes erforderlich. Insbesondere die wichtige Abgrenzung fakultativ paraneoplastischer Syndrome erlangt eine herausgehobene Stellung, denn bei den behandelbaren Enzephalitiden findet sich – unter Berücksichtigung aller Altersklassen – in der Mehrheit kein Tumor.

In Kürze wird dieses wachsende Feld noch durch eine weitere Dimension ergänzt werden. Autoantikörper sind nämlich möglicherweise nicht nur für akute, schwere Veränderungen von Gedächtnis und Verhalten (wie z. B. bei der Anti-NMDAR-Enzephalitis) verantwortlich, sondern auch für chronische, langsam voranschreitende neurokognitive Störungen. Offensichtlich können nicht nur Antikörper vom Typ Immunglobulin G (IgG) im Rahmen antikörpervermittelter neurologischer Erkrankungen auftreten, auch andere Antikörperklassen (IgA, IgM) spielen eine pathogenetische Rolle. So konnten in einer aktuellen Arbeit Prüss u. Mitarb. eine Assoziation von hohen Serumtitern von NMDAR-Antikörpern der IgA-Klasse mit bestimmten Demenzformen nachweisen [3]. Tatsächlich sind diese IgA-Antikörper funktionell relevant: aus dem Blut der Patienten gewonnenes NMDAR-IgA führte in Zellkultur zu einer gestörten Expression von NMDA- und anderen synaptischen Rezeptoren, was eine elektrophysiologische Fehlfunktion der Hippokampusneurone zur Folge hatte. Unter immunsuppressiver Therapie besserten sich einzelne Patienten klinisch deutlich, was mit sinkenden IgA-Antikörper-Titern und einer Zunahme des Hirnstoffwechsels – insbesondere in Regionen mit hoher NMDA-Rezeptorendichte – einherging.

Auch wenn laufende prospektive Studien diese Daten an größeren Kollektiven absichern müssen, ändert sich das diagnostische Herangehen an Erkrankungen von Gedächtnis, Kognition und Affekt durch diese Befunde möglicherweise maßgeblich. Antikörper könnten nicht nur als therapeutischer Ansatzpunkt, sondern ggf. als Surrogatmarker eines neurodegenerativen Prozesses relevant werden. Außerdem rechtfertigt die Suche nach pathogenen NMDAR-IgA-Antikörpern (die in ansonsten unauffälligem Liquor auftreten können) möglicherweise die Routinedurchführung einer Lumbalpunktion in der neurokognitiven Diagnostik. In der Summe könnten sich damit völlig neue Perspektiven in der Immunbehandlung einer Subgruppe von Demenzkranken ergeben, für die bisher keine spezifische therapeutische Option bestand.

 
  • Literatur

  • 1 Leypoldt F, Wandlinger K-P, Voltz T. Neues bei paraneoplastischen Syndromen in der Neurologie. Akt Neurol 2012; 39: 60-73
  • 2 Lancaster E, Martinez-Hernandez E, Titulaer MJ et al. Antibodies to metabotropic glutamate receptor 5 in the Ophelia syndrome. Neurology 2011; 77: 1698-1701
  • 3 Prüss H, Höltje M, Maier N et al. IgA NMDA receptor antibodies are markers of synaptic immunity in slow cognitive impairment. Neurology 2012; (in press)