Der Klinikarzt 2011; 40(12): 539
DOI: 10.1055/s-0031-1301057
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Vom Mitleid und der Sprachlosigkeit

Winfried Hardinghaus
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Publication Date:
27 December 2011 (online)

Verehrte Leserinnen und Leser, die informativen Schwerpunktbeiträge zum Bronchialkarzinom in dieser Ausgabe des klinikarzt führen uns am Ende unmittelbar zum Patienten und somit zur Beziehung des Leidenden mit seinem Behandler. Doch wie eng dürfen wir mit unseren Schwerkranken und Sterbenden mit-leiden? Wie weit darf oder wie weit muss einerseits die nötige Distanz gehen und wie nahe muss anderseits die mitfühlende Empathie kommen?

Slevin fragte in seiner bekannten Studie nach der Zustimmung zur Chemotherapie im Kontext von Heilungschance und therapiebedingter Minderung der Lebensqualität. Reichte bei den Betroffenen selbst schon eine 1%ige Genesungsaussicht für die Zustimmung zur chemotherapeutischen Behandlung, waren bei ärztlichen onkologischen Fachkollegen erst Heilungschancen von 10 % Basis einer Empfehlung zum Therapieeinverständnis. Pflegende scheinen zeitlich und emotional oft noch dichter am Patienten zu sein. Sie entwickeln aufgrund der zu erwartenden Nebenwirkungen der Chemotherapie Mitleid und würden ihren Patienten deshalb ein das Einverständnis zur Behandlung erst bei einer mindestens 50%igen Chance auf Kuration empfehlen.

Mitleid mithin kann aber auch sprachlos machen. Der abstrakte Begriff selbst kann Phasen der Euthanasie in sich verstecken, wobei hier die Euthanasie wie im internationalen Sprachgebrauch üblich als aktive Sterbehilfe gemeint ist. Ein berüchtigtes Zitat des Kollegen Julius Hackethal in diesem Zusammenhang ist: ”Ich konnte nicht mehr hinsehen“ – wobei die Betonung hier durchaus auf dem ”ich“ lag. Ekel und Abscheu sind nur zu oft Probleme der Umgebung, wie viele Beispiele zeigen.

Psychologische Gutachter eines Prozesses gegen eine sogenannte Mercy-Killerin stellten, wie man in den Prozessakten lesen kann, einen ”symbiotischen Grenzverlust“ fest. Die Pflegekraft war also unfähig, das Leid ihrer Patienten vom eigenen Leid zu unterscheiden. Im Stationsübergabebuch der Nachtschwester fand man dazu bezüglich einer 82-jährigen Patientin den folgenden Eintrag: ”Kreislauf mäßig bis saumäßig, Diurese mies bis ganz mies, Allgemeinzustand nicht unbedingt der beste, führt nicht mehr flüssig ab. Bitte öfter in Leichenhalle nachsehen, ob die Patientin dort ruhig liegt, war unruhig, Patientin wurde auf eigenen Wunsch dorthin verlegt. Ansonsten ruhigen Dienst, schönes Wochenende, wenig Maloche!“

Aus diesen sprachlichen Formulierungen spricht vermutlich eine tiefe Abneigung gegenüber einem anvertrauten Menschen, der durch sein schreckliches Leid vorausahnen lässt, wie es einem möglicherweise einmal selbst ergehen könnte. In dieser Situation stellt sich das Problem des Gnadentodes irreal dar, also die Idee der Erlösung des Patienten von seinem Leiden und die Rolle des Helfers in einem Gefüge bewusster und unbewusster Anteile von Mitleid. Die Pflegende konnte und/oder wollte sich gegenüber der Patientin, den Angehörigen und auch gegenüber den Mitarbeitern offensichtlich nicht aussprechen. Eine gefährliche Sprachlosigkeit also.

Für mich bleibt ein entscheidendes Argument auch gegen diese Form der Euthanasie die Tatsache, dass leidvolles Leben eben nicht zwangsläufig menschenunwürdig ist, sondern eher ein Verhalten, das den Sterbenden als Person nicht wirklich ernst nimmt und diesen infantilisiert oder depersonalisiert. So bleibt das hörende Sprechen fundamentaler Bestandteil unserer Kommunikation.

Wie Berührung stellt auch Sprache Beziehung, Vertrauen und Nähe her. Diese Nähe kann den todgeweihten Körper zwar nicht mehr heilen, aber dem Inneren und der Seele des Menschen durch die offene und zugewandte Kommunikation Geborgenheit, Trost und Wärme geben. Und das darf der Leidende schließlich auch von uns Medizinern, besser Ärzten, verlangen. Genauso hilfreich sein kann das Sprechen ohne Worte, also die Kommunikation durch Augen- und Körperkontakt. Jedenfalls scheitern Gespräche mit Sterbenden im Allgemeinen weniger am Unvermögen des Sprechenden, sondern eher am Nichterkennen des Gesprächsgegenstandes, nicht zuletzt einem Ausweichen vor dem Tod als Teil des Lebens.

”Dieses brüchige Leben zwischen Geburt und Tod kann doch eine Erfüllung sein, wenn es eine Zwiesprache ist.“ (Martin Buber)