Aktuelle Neurologie 2012; 39(03): 115
DOI: 10.1055/s-0032-1304912
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neurologische Therapie in Zeiten des AMNOG

Neurological Innovative Therapies under Regulatory Control of AMNOG
R. Gold
Klinik für Neurologie am St. Josefs-Hospital, Klinikum der Ruhr-Universität Bochum
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Publication Date:
12 April 2012 (online)

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Prof. Dr. med. Ralf Gold

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir alle wissen, dass die Neurologie in den letzten Jahrzehnten einen rasanten Strukturwandel durchgemacht hat. Dies spiegelt sich in der Verkürzung stationärer Liegedauern wider, die nun auf etwa die Hälfte dessen abgesunken sind, was viele von uns bei ihrem Eintritt ins Berufsleben vor mehr als 2 Jahrzehnten gewohnt waren. Parallel dazu ist die ursprünglich als kontemplativ-diagnostisch eingestufte Neurologie immer mehr zu einem Therapiefach geworden. In vielen unserer großen Krankheiten wie Schlaganfall, Parkinson und Multiple Sklerose müssen wir uns nun nicht mehr auf prognostische Aussagen verlassen, sondern können aktiv in den Krankheitsverlauf mit eingreifen. Nicht ohne Grund erscheinen die von Christoph Diener lange Jahre sorgsam gehegten Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie im Herbst nun in ihrer 5. Auflage, und reflektieren damit den Therapiefortschritt unseres Fachs.

Wir alle wissen in der heutigen Zeit, dass neue Therapieverfahren in der Medizin leider auch immer Kostendiskussionen hervorrufen. Die geforderten, möglichst randomisierten, kontrollierten Klasse-I-Evidenz-Studien laufen international mit aufwendigen Monitorierungsverfahren, und kosten typischerweise hoch 2-stellige Millionenbeträge. Demgegenüber stehen die Forderungen der pharmazeutischen Industrie, die für innovative Arzneimittel dann Preise generieren, die viele von uns rational nicht nachvollziehen können. Um diese Spirale einzudämmen, hat der Gesetzgeber ein sog. Arzneimittel-Nutzen-Optimierungsgesetz (AMNOG) geschaffen, wo innovative Arzneimittel formal bewertet werden. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) fordert von der jeweils zulassenden Firma eine Nutzenbewertung an, die im Rahmen der Zulassung oft weitere Untergruppen der Therapie untersucht und noch stärker als die europäischen und amerikanischen Genehmigungsbehörden darauf abzielt, den Mehrnutzen einer neuen Therapie zu belegen.

Die ersten neurologischen Medikamente stehen nun in diesem Verfahren: Im Multiple Sklerose-Segment sind dies das Fingolimod sowie in Kürze das Fampridin. Am Beispiel des Fingolimods können wir sehen wie verschlungen oft die Wege sind. Die Therapie mit Fingolimod, die ursprünglich vonseiten ihrer mehr als 3000 Patienten umfassenden Zulassungsstudien als Basistherapie der Multiplen Sklerose geplant und designed war, ist nun eine sog. Eskalationstherapie per Dekret der EMA (European Medicines Agency) geworden. Nun fordert das IQWIG, grundsätzlich verständlich, dass die Firma genau für dieses Segment der eskalierenden Immuntherapie einen Nutzenvergleich vorlegt, wie weit sich Fingolimod von den Basistherapeutika Interferon-Beta sowie Glatiramer unterscheidet. Wenn man sich daran erinnert, dass die Zulassungsstudien eben nicht darauf ausgerichtet waren eine Überlegenheit gegenüber der Basistherapie zu erbringen, kann man sich vorstellen wie artifiziell die so konstruierte Nutzen-Beweiskette wird: Es mündet in fast 1000 Seiten Ausführungen, wo der Hersteller in Gruppengrößen von wenigen Dutzend Patienten künstlich einen Mehrwert belegen soll.

Für uns alle ist klar, dass die Preisspirale im realistischen Bereich bleiben muss, damit Gesundheit und Fortschritt für unsere neurologischen Patienten bezahlbar bleiben. Es sollte aber unbedingt ein wissenschaftlich faires Verfahren angewendet werden, nicht dass man hier den Eindruck erhält, dass quasi nach pseudowissenschaftlichen Argumenten gesucht wird, um primär marktwirtschaftliche Entscheidungen zu fällen. Dies könnte dazu führen, dass Deutschland auch als Preis-Richtland für ca. 50 andere Länder neue Medikamente ganz spät oder gar nicht für seine Patienten erhält, weil die Hersteller einen Preisverfall befürchten.

Deshalb abschließend an dieser Stelle eine provokatorische Idee: Sollten die Hersteller mit den staatlichen Behörden nicht zuerst über einen realistischen Preis verhandeln?? Dann könnte man sich vielleicht viele andere Diskussionen ersparen und das IQWIG hätte weniger zu tun.

Für unsere Patienten bleiben ein guter Ausgang und zukünftig weitere, bezahlbare Verbesserungen der Therapie zu erhoffen.