PiD - Psychotherapie im Dialog 2012; 13(2): 55-60
DOI: 10.1055/s-0032-1304979
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Es gibt Suizidwünsche, die sich nicht dadurch aus der Welt schaffen lassen, dass sie pathologisiert werden

Michael  de Ridder im Gespräch mit Bettina  Wilms und Maria  Borcsa
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Publication Date:
13 June 2012 (online)

PID: Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit der Frage des ärztlich assistierten Suizids zu beschäftigen?

Michael de Ridder: Ich bin seit mehr als 30 Jahren im ärztlichen Beruf tätig und befasse mich seit mehr als zehn Jahren mit den Problemen der Medizin am Lebensende. An den Anfang stellen möchte ich zweierlei. Zum einen, dass die Debatte um die ärztliche Suizidassistenz in der Diskussion um die Lebensendemedizin für mich eine nachgeordnete Rolle spielt. Wichtiger ist das Zulassen des natürlichen Sterbens, darüber später mehr. Zum anderen, dass ich sozusagen mit Haut und Haaren Palliativmediziner bin. Das heißt, ich würde alles dafür tun, jeden einzelnen Patienten, mit dem ich es zu tun habe, den Wert und die Reichweite der klassischen palliativmedizinischen Möglichkeiten zu eröffnen und sie ihm nahezulegen, weil ich glaube, dass es der Palliativmedizin und ihren Angeboten in nahezu allen Fällen gelingt, einem aussichtslos leidenden Patienten gerecht zu werden bzw. ihn umfassend und weitestgehend von seinen Qualen zu befreien, bis hin zur legalen palliativen Sedierung, das heiß unter Umgehung ärztlicher Hilfeleistung zum Sterben. Und wenn man die etwa 400 terminal kranken Menschen betrachtet, die jährlich von der Bundesrepublik in die Schweiz fahren, um sich dort zu suizidieren, nach Beratung bei Exit oder bei Dignitas, dann würde ich sagen, von diesen 400 könnten wenigstens zwei Drittel auf die Reise in die Schweiz verzichten, weil es hier in Deutschland die legalen und natürlich auch ethisch korrekten Möglichkeiten gibt, friedlich zu sterben und nicht aussichtslos leiden zu müssen.

Aber, und jetzt kommt das „Aber“: Erstens gibt es Menschen, die palliativmedizinische Möglichkeiten aus plausiblen Gründen ablehnen, und zweitens kann, und das ist unbestritten, auch die Palliativmedizin nicht jedes Leiden erträglich gestalten. Und damit müssen wir als Mediziner umgehen, zumal wir ja heute in einer Zeit leben, in der wir feststellen müssen, dass, neben all ihren Errungenschaften, die Medizin im Laufe der letzten Jahrzehnte beängstigende und grausame Existenzweisen hervorgebracht hat, z. B. Patienten mit ALS oder hohem Querschnitt, in die Menschen ohne sie nie geraten wären, weil sie zuvor eines natürlichen Todes gestorben wären.

So auch eine Patientin, die ich ausführlich in meinem Buch beschrieben habe: Es handelt sich um eine junge Wissenschaftlerin, die einen hohen Querschnitt erleidet, beatmungspflichtig ist. Nachdem nach einem Dreivierteljahr alles an Rehabilitation und an Möglichkeiten, ein Leben neu zu entwerfen auf der Grundlage eines hohen Querschnittes, vollkommen erschöpft ist, äußert sie freiverantwortlich und nachhaltig, sterben zu wollen. Nach monatelangen häufigen und intensiven Gesprächen mit ihr habe ich mich entschlossen, ihr vorzuschlagen, alles was ich von ihr erfahren habe und dazu einbringen konnte, noch mal prüfen zu lassen, und ich habe gesagt: Frau F., wäre es nicht eine Möglichkeit, dass jemand anderes käme und mit Ihnen Ihren Sterbewunsch noch einmal besprechen würde? Sie hat erst gezögert, sich schließlich aber darauf eingelassen und dieser Prozess ist jetzt eigentlich gerade abgeschlossen; er ging über mehrere Monate und was dabei herauskommt, ist noch offen.

Ich habe immer versucht, mit ihr im Gespräch, in einem Prozess zu bleiben, indem ich weder die Suizidassistenz oder ihren Suizidwunsch verstärkt habe, noch sozusagen den gegenteiligen Wunsch, nämlich im Leben zu bleiben, verstärkt habe, sondern wir haben immer in beide Richtungen gedacht, immerzu, wobei sie immer den Ton angab, möchte ich sagen, sie die Führende war und auch blieb. Im Übrigen hat man relativ am Anfang dieser Entwicklung – sie war über Monate beatmungspflichtig – ihrem Wunsch nach Beendigung der medizinischen Maßnahmen nicht entsprochen. Das war rechtswidriges Verhalten, eindeutig. Wir standen mit ihrem Anwalt und ihrer Schwester am Bett, mit dem leitenden Intensivmediziner und dem leitenden Neurochirurgen, und der Behandlungsabbruch wurde ihr verweigert, obwohl sie ihn gefordert hat. Dazu sagt sie heute: „Warum hat man mich damals nicht sterben lassen? Warum nicht, warum muss ich mir jetzt hier diese Gedanken machen, wie ich aus dem Leben gehen kann, das Leben ist so unendlich qualvoll geworden für mich, und es hätte damals so rasch und friedlich zu Ende gehen können.“

Ihr Anwalt hatte damals die leitenden Ärzte sehr zu Recht in ihre Schranken gewiesen und sagte: Sie haben Rechtsbruch begangen an dieser Patientin. Und der ganze Verlauf zeigt aus meiner Sicht, dass das nicht nur Rechtsbruch war, sondern dass es auch ethisch verwerflich war: dass man ihr diesen Wunsch, diesen nachhaltig geäußerten, bei klarem Verstand geäußerten Wunsch, ihr Leiden zu beenden, nicht erfüllt hat. Sie war natürlich zuvor mehrfach psychiatrisch untersucht worden, das war selbstverständlich erfolgt. Und ihr ist immer wieder das, was wir unter freiverantwortlicher Willensbildung verstehen, bescheinigt worden. Sie ist nicht lebensmüde, sie ist leidensmüde.

Ich bin mit dieser Frau bekannt geworden, weil sie jemanden suchte, der irgendwie in dieser verzweifelten Situation ein ernst zu nehmender ärztlicher Gesprächspartner sein könnte, der wirklich mit offenem Ergebnis berät und anders agiert, als man das üblicherweise kennt. Unsere gemeinsame Geschichte hat mich natürlich sehr berührt.

Wie haben Sie die Patientin kennengelernt?

Über einen Anruf ihres Betreuers. Die Patientin war in Afrika verunglückt, als Wissenschaftlerin; sie ist Biochemikerin, eine hoch qualifizierte Frau, die schon eine ungewöhnliche Karriere hinter sich und noch vieles vor sich hatte. Und ich habe sie kennengelernt, weil der frühere Lebenspartner, der nun Betreuer war, sich um den Kontakt zu mir bemüht hatte. Diese Verbindung war schon weit vor dem Unfall beendet worden. Wobei das so ein interessanter Aspekt ist, bei der ganzen Geschichte: Diese Frau hat niemanden, der sie liebt, sie ist zwar umgeben von hoch qualifizierten Pflegekräften, und da sind auch noch immer Freunde und Bekannte, die kommen, aber sie lebt in einer Welt ohne Bindung, ohne Liebe, in dem Sinne, wie sich ein Mensch eine Liebesverbindung wünscht, das hat sie nicht. Und wir haben darüber natürlich auch gesprochen, dass es nicht zu erwarten ist, dass sich das ändert. Sie glaubt das jedenfalls nicht und es spricht auch wenig dafür, dass sich in ihrem Leben wieder so etwas wie Liebe ereignet.

Dieser Sterbewunsch, der immer noch besteht, ist für mich ein zu respektierender, weil er plausibel und nachhaltig ist. Er erfüllt alle notwendigen Kriterien der Hilfeleistung für mich. Wobei wir natürlich gerne uns noch unterhalten können über das, was ja sozusagen der Kern der Problematik ist, nämlich Beihilfe zu einem Tötungsakt zu leisten, der allerdings, juristisch gesprochen, allein in ihrer Tatherrschaft liegt.

Wichtiger aber für mich ist die ethische Sicht. Wir reden hier über den Begriff der Tötung, der Beihilfe zu ihr. Und über den Begriff Tötung muss man sprechen. „Tötung“ signalisiert etwas Inhumanes, die Zerstörung einer Persönlichkeit. Das ist es, worum es sozusagen im „Landläufigen“ geht, wenn wir über Tötung sprechen. Ich sage: Das ist ein Begriff, der den Vorgang, um den es sich handelt, zwar „technisch korrekt“ wiedergibt. Aber es geht nicht um die Zerstörung einer Persönlichkeit. Es geht darum, dass ein Mensch den Wunsch hat, sich auszulöschen, weil die Krankheit und ihre Folgen eine Übermacht geworden sind, der auszuweichen oder in eine Form zu bringen, die Existenz wieder lebbar zu machen, nicht mehr möglich ist.

Und in einer solchen Situation folge ich Karl Jaspers, der das sehr schön und viel besser als ich formuliert hat. Er sagt sinngemäß: In auswegloser schwerster Krankheit oder Versehrtheit kann die Selbstauslöschung für einen Menschen die einzig noch verbliebene Möglichkeit darstellen, seine Integrität zu wahren, ein Akt letzter Selbstbehauptung, denn sein Lebensentwurf und Lebenssinn sind unwiderruflich an ein Ende gelangt. In einer solchen Situation Hilfe zu leisten ist für mich niemals unethisch, sondern im Gegenteil: Das ist äußerste empathische Hinwendung des Arztes zu seinem Patienten. Und damit ist sozusagen für mich der Kern dessen, was hier eigentlich vor sich geht, beschrieben.

Das alles setzt aber voraus, dass Arzt und Patient ein, ich möchte sagen, intimes Verhältnis haben. Es muss durch die Begegnung von Arzt und Patient, in dieser alleräußersten Situation, die es überhaupt für einen Menschen gibt, so etwas wie ein tiefes Vertrauen geben, ein letztlich auch über die verbale Mitteilung hinausgehendes, intuitives Verständnis des Arztes für seinen Patienten. Und das ist natürlich etwas, was in Prozessen organisierter und kommerzialisierter Sterbehilfe nicht gegeben ist und deswegen bin ich einer ihrer entschiedenen Gegner. Hier sind Dienstleister am Werk, die das, was ich fordere, nicht erfüllen.

Würden Sie sagen, dass es um so etwas geht, was wir Psychotherapeuten als therapeutische Beziehung bezeichnen?

Ja. Es ist auf jeden Fall eine Beziehung, ob Sie das jetzt eine therapeutische Beziehung nennen oder nicht: Es ist eine Beziehung, die über das, was am Ende dieser Beziehung steht, dass bestimmte Dinge getan werden oder unterlassen werden, hier weit hinausgeht. Es ist für mich letztlich nur gerechtfertigt, wenn ich als Arzt zu der Überzeugung komme, bei Prüfung aller sogenannten Möglichkeiten dessen, was sonst an Wegen da ist, dass mein Handeln als Suizidassistent nicht nur gerechtfertigt, sondern unter Umständen auch geboten ist, weil dieser Weg wirklich der einzig gangbare der Leidensminderung ist.

Und das muss ich mir natürlich auch im wahrsten Wortsinn klarmachen. Ich muss mich von der Authentizität des Sterbewunsches überzeugen. Und ich muss mir klar darüber sein, dass das der unverbrüchliche und nachhaltig und klar geäußerte Wille meiner Patientin oder meines Patienten ist. Aber, was ich nicht darf, ist, diesen Wunsch bewerten, denn das steht mir nicht zu. Ich kann selbstverständlich sagen: Das tue ich nicht, weil ich das mit meinem Wertesystem als Arzt nicht vereinbaren kann, selbstverständlich. Und wenn ich sage: Ich halte den Beschluss des Deutschen Ärztetages in dieser Sache für falsch, dann sage ich natürlich nicht, dass es eine Pflicht des Arztes zur Suizidassistenz gibt. Nein, aber es sollte die Möglichkeit geben.

Jeder Arzt muss die Möglichkeit haben, wie bei vielen anderen Fragestellungen wie der Abtreibung oder der Präimplantationsdiagnostik, die ähnlich zugespitzte Entscheidungen oftmals auslösen oder verlangen, nach seinem individuellen Gewissen zu entscheiden. Jeder Arzt muss die Möglichkeit haben, nach seinem individuellen Gewissen zu entscheiden: für oder ggf. auch gegen das Ansinnen des Patienten Und genau dies hat der Ärztetag im Juni letzten Jahres liquidiert. Dass er die Möglichkeit haben muss, sich gegen das Ansinnen des Patienten zu entscheiden, das ist vollkommen klar, ich glaube, das muss ich nicht extra sagen.

Ihnen ist die Möglichkeit wichtig?

Ja.

Denken Sie, dass Sie sich ohne die Begegnung mit dieser Frau so mit diesem Thema beschäftigt hätten? Ich meine, es gibt Situationen, in denen Patienten einen dazu bringen, sich mit Themen in einer Form zu beschäftigen, wo man vorher nicht dachte, dass das so passieren könnte…

Ich kann das nicht genau sagen. Allerdings ist das für mich ein ganz entscheidendes Erlebnis gewesen, um mich selber zu erforschen. Was denkst du eigentlich selbst? Du musst eindringen in dieses Problem und du musst dich mit all diesen Fragen befassen, und da hat sie natürlich einen entscheidenden Anteil daran.

Da gibt es noch eine weitere Person, einen guten Freund, der jetzt tot ist, ein Philosoph, der ein extrem kluger Mann, ein sehr freier Mensch war, wie man ihn wohl nur selten trifft. Der hat eine andere Entscheidung getroffen, der hat gesagt: Ich bin schwer krank, ich möchte die Kontrolle über mein Sterben nicht aus der Hand geben, ich werde nichts mehr essen und nichts mehr trinken. Wir haben sehr ausgiebig darüber gesprochen. Also ich verkürze das jetzt alles natürlich. Und ich habe das sehr früh akzeptiert, ich habe auch von diesem Mann enorm viel gelernt. Ich habe ihm versprochen, dass ich ihn palliativ begleiten werde, so es denn dazu kommt, dass er in Unruhezustände, Panik oder in eine Situation hineinkommt, die ihn leidend macht. Und so kam es auch. Er litt an einer schweren Lebererkrankung und einem malignen Melanom. Seine Lebenserwartung war aufgrund dessen hochgradig eingegrenzt, aber er hat mir so sehr klar gemacht, dass nun für ihn nichts mehr kommen kann. Er konnte nicht mehr schreiben, er konnte keinen Gedanken mehr fassen, und das war immer für ihn das Wichtigste in seinem Leben gewesen.

Er kommt auch aus einer Familie, in der sehr liberale Grundeinstellungen herrschten, wo es sozusagen natürlich war, zu sagen: Ich möchte mein Leben so beenden, wie ich das möchte, und wo auch der Mut, den das Ja letztlich erfordert, eigentlich dieser ganzen Familie, auch der seiner Frau, innewohnte. Das heißt, es war gar kein Ringen darum, sondern es war geradezu eine Selbstverständlichkeit zu sagen: Mein Leben ist zu Ende und das nehme ich jetzt auch an und ich will nicht leiden, ich will auch, was ja immer auch so ein Argument ist, niemand anderem zur Last fallen, was grundsätzlich ein legitimes Argument ist, obwohl es oftmals nicht akzeptiert wird. Aber auch das war ein Argument. Und dann ist er sehr friedlich gestorben.

Wenn Sie die Diskussionen, mit all dieser kontroversen, teilweise ja auch sehr emotionalen Argumentationsführung aus Ihrer Sicht noch mal zusammenfassen würden, mit der Fragestellung: Soll man das tun oder soll man das nicht tun? Was würden Sie sagen, was wären aus Ihrer Sicht die wichtigsten Aspekte?

Dem Wunsch des Kranken vorurteilslos und wertfrei zu begegnen. Wissen Sie, wir Ärzte kommen aus einer medizinkulturellen Situation, in der der Arztberuf von einem paternalistischen Selbstverständnis geprägt war. Und dieses Selbstverständnis ist seit Langem aus ganz verschiedenen Gründen ins Wanken geraten, seine Aura ist dahin. Gesellschaftliche Emanzipationsbewegungen, die Betonung des Individuums, die Forderung der Politik nach dem mündigen Bürger, der mündige Patient war die logische Folge.

Hinzu kommt die Frage des Umgangs mit dem medizinischen Fortschritt, insbesondere der Möglichkeit der lebensverlängernden Maßnahmen, die ja erst seit den 50er-, 60er-Jahren so richtig brisant geworden ist. Denn vor dieser Zeit, als es noch keine Defibrillatoren, künstliche Ernährung und Beatmung, Herzschrittmacher und anderes gab, gab es natürlich auch die mit diesen Behandlungsmethoden einhergehenden ethischen Probleme überhaupt nicht. Wenn wir die Möglichkeit der Wiederbelebung nicht haben, dann stellt sich auch nicht die Frage, ob eine Wiederbelebung Sinn macht oder nicht.

Ich meine, wir befinden uns als Ärzte sozusagen in einem Umbruchprozess, von diesem paternalistischen Grundselbstverständnis in ein Verhältnis hinein, wo wir nicht, das ist mir ganz wichtig, alleine zum Berater verkommen, der seinen Patienten nur noch die Aufklärungsbögen vorlegt und sagt: Pass mal auf, unterschreibe hier das und das und das und entscheide selbst. Nein, es geht um eine empathische Beratung, d. h. ich muss natürlich, soll natürlich den Patienten entscheiden lassen, aber ich sollte mich als Arzt so verstehen, dass ich sage: Ich möchte alles dafür tun, dass ich meinen Patienten so berate und aufkläre, wie ich das auch für mich selber erwarten würde oder wie ich mit nahen Familienmitgliedern umgehen würde, wenn es um das Tun oder das Unterlassen einer bestimmten Behandlung geht.

Und wenn das konsequent gelebt würde von ärztlicher Seite, dann wäre immer noch genügend Spielraum für Paternalismus, weil die Asymmetrie des Wissens um die Krankheit und ihre Behandlung im Verhältnis von Arzt und Patient bestehen bleibt. Das heißt, wenn der Arzt Freund und Anwalt seines Patienten ist, auf eine gute Weise, ohne den Patienten zu überfahren, sondern ihm seine Autonomie lässt, dann ist das die Aufgabe: den Patienten auf Augenhöhe umfassend beraten. Und ihm dadurch erst selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Handeln ermöglichen. Wenn man auf diesem Fundament steht, dann würde ich sagen, stellt sich letztlich auch die Frage der Suizidassistenz anders. Sie stellt sich sozusagen mehr aus Sicht des Patienten. Denn es geht in der Medizin keineswegs allein um Lebenserhaltung, so hoch auch diese zu bewerten ist; es geht vielmehr um das Patientenwohl. Und das ist es, woran wir uns zu orientieren haben, nichts anderes, absolut nichts anderes. Patientenwohl. Und was ist Patientenwohl? Wer definiert es?

Das kann man sehr paternalistisch beantworten…

Ich sage: Patientenwohl ist primär das, was der Patient unter seinem Wohl versteht. Er letztlich hat die Definitionshoheit und nicht der Arzt. Der Arzt ist als Dialogpartner und Vertrauter gefragt, und das ist das, was ich so wichtig finde, den dialogischen Prozess zwischen Arzt und Patient.

Ist das die Kontroverse? Wer sagt, was sein darf?

Ja. Wenn ein meinungsbildender Arzt aus München, ein Herzchirurg, dazu sagt: „Wenn zu mir jemand mit der Patientenverfügung kommt und sagt, Herr Doktor hier ist die Patientenverfügung, dann sage ich, lassen Sie die in Ihrem Nachtkästchen liegen, sie interessiert mich nicht…“

Das ist Rechtsbruch.

Das ist Rechtsbruch, ja. Aber das ist nicht nur Rechtsbruch, das ist Paternalismus in seiner reinsten und gleichzeitig inakzeptabelsten und verwerflichsten Form.

Hätten Sie den Eindruck, dass die Sichtweise, die Sie vertreten, in der gesellschaftlichen Diskussion ausreichend gehört wird?

Nein, wenn ich mich zunächst auf die Ärzteschaft beschränke, würde ich ganz klar sagen: Nein. Ich habe im SPIEGEL einen Kommentar zu der Ärztetags-Entscheidung vom 1. Juni 2011 verfasst. Ich bin dabei sehr hart mit meinen Kollegen und Kolleginnen ins Gericht gegangen. Ich habe in diesem Zusammenhang auch Prof. Hoppe, den ehemaligen, im letzten Jahr verstorbenen Präsidenten der Bundesärztekammer, zitiert: „Ärztlich assistierter Suizid ist keine ärztliche Aufgabe, aber es sollte möglich sein, wenn der Arzt das mit seinem Gewissen vereinbaren kann“.

Und auf dem Ärztetag ist etwas passiert, was ich als Niederlage der Ärzteschaft ansehe, die sie sich selber beigebracht hat. Sie hat nämlich mit 156 zu 67 Stimmen, bei 8 Enthaltungen, wenn ich die Zahlen recht in Erinnerung habe, beschlossen, den ärztlich assistierten Suizid explizit und ausnahmslos zu verbieten. Dieses Verbot bestand zuvor nicht, vielmehr existierte eine Grauzone im Sinne Prof. Hoppes. Jetzt jedoch ist das individuelle ärztliche Gewissen als letzte und höchste Entscheidungsinstanz liquidiert! Es hat wenige Kollegen gegeben, die mich unterstützt haben. Von denen, die meine Gegner sind, habe ich nichts gehört. Das kränkt mich in gewisser Weise: Es findet eben keine Auseinandersetzung statt. Ich hätte erwartet, dass zumindest ein Moratorium beschlossen wird, weil es Diskussionsbedarf gibt. Denn zwischen 30 % und 40 % der deutschen Ärzteschaft tolerieren zumindest den ärztlich assistierten Suizid.

Ich komme zu dem Urteil: „Ihr Ärzte versagt vor komplexen ethischen Entscheidungen. Ihr seid Eurer ärztlichen Aufgabe nicht wirklich gewachsen.“ Ich glaube, die Ärzteschaft will Ruhe haben. Ich glaube, man will nicht nachdenken oder sagen wir so: Man will das Nachdenken an einer bestimmten Stelle beenden. Und deshalb beschließt man: „Jetzt machen wir den Sack zu und beenden diese Debatte und sagen, der ärztlich assistierte Suizid ist jetzt berufsrechtlich sanktioniert – basta! ist man versucht zu ergänzen.“

Und obwohl ja die Bundesärztekammer gar keine Hoheit in dieser Frage hat, sondern nur eine Musterberufsordnung, d. h. eine Empfehlung erlassen kann, muss man jetzt abwarten, ob und wie die einzelnen Landesärztekammern die Empfehlung umzusetzen. So hat sich z. B. die Bayerische Landesärztekammer und die Landesärztekammer von Westfallen-Lippe schon anders positioniert und die Empfehlung der BÄK nicht übernommen, die Sächsische und die Bremer Landesärztekammer haben sie, soviel ich weiß, bereits übernommen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dies auf einen „Sterbehilfetourismus“ innerhalb Deutschlands hinausläuft. Man wird abwarten müssen, ob der BGH irgendwann entscheidet, ob das ärztliche Berufsrecht etwas untersagen darf, was das Strafrecht im Grundsatz nicht sanktioniert.

Also Sie meinen, wenn ein Kollege die Entscheidung trifft und es den Präzedenzfall gibt?

Ja. In dem Zusammenhang ist natürlich das Urteil bedeutsam, das Frau Professor Rissing-van Saan, die Vorsitzende des zweiten Strafsenates des BGH, im Fall Putz gefällt hat. Der BGH sieht den ärztlich assistierten Suizid und die aktive Sterbehilfe gar nicht im Zusammenhang mit Sterbehilfe. Sterbehilfe gibt es nur da, wo in eine medizinische Behandlung sozusagen eingegriffen wird, sie unterlassen wird oder aber eine begonnene Behandlung beendet wird oder eine mögliche überhaupt nicht erst begonnen wird. So muss es korrekt heißen. Und der ärztlich assistierte Suizid fällt ganz woanders hin, der fällt sozusagen gar nicht unter diesen Kontext der Behandlung oder einer Behandlungsbeendigung, sondern ist sozusagen ein Eingriff von außen in das Leben eines Patienten und da gilt immer noch die Garantenpflicht. Das heißt, der Patient suizidiert sich, der Arzt hat Assistenz geleistet, indem er dem Patienten das Glas hingestellt und die Medikamente verschrieben hat. Und jetzt ist der Arzt im Grunde gehalten oder verpflichtet, wie im Übrigen jeder andere Bürger, der anwesend wäre auch, im Moment der Bewusstlosigkeit einzuschreiten und Maßnahmen zu ergreifen, das Leben aufrechtzuerhalten, weil die Strafgerichtsbarkeit dieses Ereignis als Unglücksfall bewertet, immer noch. Und in einem Unglücksfall muss ich Hilfe leisten.

Dies ist aber bereits von der Staatsanwaltschaft München Anfang des Jahres 2011 infrage gestellt worden. Folgendes hat sich zugetragen: Eine Anfang 70-jährige Kollegin, die die Diagnose eines Frühstadiums einer Demenz bekam, hat sich entschlossen, damit nicht leben zu wollen, und hat mit ihren Kindern besprochen, sich zu suizidieren. Sie hat einen Arzt gefunden, der ihr ein Mittel verschrieben hat. Sie hat ihr Vorhaben im Beisein ihrer Kinder „erfolgreich“ umgesetzt, wobei sie vorher ihre Kinder von der Garantenpflicht schriftlich entbunden hat, d. h. ihnen untersagt hat, Hilfe zu leisten oder zu holen. Genauso ist es passiert, die Kinder haben sich selbst angezeigt, die Staatsanwaltschaft hat sich das Szenario angesehen und hat die Ermittlungen eingestellt.

Das ist eine rechtlich interessante Wendung, was die Garantenstellung des Arztes angeht. Denn der Arzt wird hier nicht mehr als unbedingter Garant der Lebenserhaltung gesehen, sondern der Arzt ist sozusagen Garant dafür, dass der Patientenwille sich realisiert. Das ist das, was sich hier in diesem staatsanwaltlichen Untätigbleiben zeigt. Und das ist eine völlig neue Interpretation und gleichzeitig eine offene Situation, weil die Einstellung einer staatsanwaltlichen Ermittlung nicht gleichzusetzen ist mit einem höchstrichterlichen Urteil.

Würden Sie nach dem Ärztetags-Votum sagen, dass Sie mit dieser Thematik im Moment erst mal abgeschlossen haben?

Keineswegs, im Gegenteil. Ich bin weiterhin und in besonderer Weise engagiert: Ich bin gerade dabei, ein Hospiz zu gründen. Und das tue ich mit meinem ganzen Herzen, und es ist für mich etwas Wunderbares, dass ich die Möglichkeit dazu habe, und in diesem Projekt kommen mein ganzes Vertrauen und meine ganze Wertschätzung in die Palliativmedizin und in die Hospizbewegung zum Tragen und zum Ausdruck. Ich bin jemand, der sagt: Es gibt nirgendwo Königswege, auch in der Lebensendemedizin nicht. Wir haben sicherlich die Pflicht, Menschen maximal und angemessen zu informieren und sie bestmöglich in der kritischsten aller Lebenssituationen zu beraten. Aber für mich schließen sich Palliativmedizin und assistierter Suizid keineswegs wechselseitig aus, vielmehr sind sie formal gesehen – auch wenn der assistierte Suizid, wie dargestellt, nur sehr selten für mich einen Weg darstellt – einander komplementär. Insofern ist mein Hospiz-Projekt für mich kein Widerspruch zu meiner Haltung zum ärztlich assistierten Suizid.

Jetzt ist es ja so, dass um uns Deutsche herum, also in der Schweiz, aber auch in den Niederlanden, die Diskussion etwas anders geführt wird. Haben Sie eine Idee, warum wir Deutschen uns da so schwertun? Sie hatten vorhin von dem Menschen gesprochen, dem Sie eine liberale Familie zugeschrieben haben. Geht es vielleicht um Liberalismus? Geht es um unsere Geschichte?

Ich würde sagen, es geht nicht um Liberalismus. Es geht um ein richtiges Verständnis von Selbstbestimmung. Und weil Sie fragen: Warum tun wir uns so schwer? Ich glaube wir als Deutsche haben hier vielleicht besondere Probleme, die ein gewaltiges Missverständnis beinhalten. Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel erläutern: Wir haben hier vor mehreren Jahren einen Fall an der Charité gehabt. Ein Intensivmediziner, der eine Patientenverfügung nicht beachtet hat, ist verurteilt worden. Was war passiert? Es ging um eine ältere Dame, die eine metastasierende abdominelle Tumorerkrankung hatte. Sie bekam einen Darmverschluss und wurde operiert. Das war korrekt, weil es um eine Entlastungsoperation ging. Nach der Operation wurde die Frau auf der Intensivstation nicht mehr wach. Die Gründe sind unklar geblieben. Sie wird beatmet und nach einer gewissen Zeit erscheint die Nichte, zeigt eine Patientenverfügung vor und belegt mit dieser Patientenverfügung, dass ihre Tante, für diesen Fall, dass sie in einem anhaltenden Koma verbleibt, keine lebenserhaltenden Maßnahmen wünscht. Da sagt der Arzt: „Wir machen doch hier keine Nazimedizin.“

Hieran kann man deutlich sehen, wo das Missverständnis liegt. Die Medizin der Nationalsozialisten war eine programmatische Medizin, die schwache, als „Ballastexistenzen“ geltende Menschen, die den Qualitätsvorstellungen des Regimes nicht entsprachen, brutalst ermordet hat. Kern dieses Vorgehens war: Die Autonomie dieser Menschen wurde außer Kraft gesetzt. Und wenn wir, gerade wir Ärzte, etwas aus dieser Zeit lernen können, dann ist es dies: den Respekt vor der Autonomie unserer Mitmenschen, unseren Patienten. Zugespitzt würde ich daher sagen: Gerade dieser Kollege, der sagte: „Wir machen doch keine Nazimedizin“ war mit seiner Missachtung der Patientenverfügung der Nazimedizin viel näher, als die Nichte, die kam und sagte: Doktor, hier ist die Patientenverfügung, bitte stell die lebenserhaltenden Maßnahmen ein.

Wie ist ansonsten die Reaktion von Lesern ihres Buches?

Nahezu ausschließlich positiv. Man sieht das auch daran, dass ich für das laufende und das kommende Jahr zu zahlreichen Lesungen, Vorträgen und Diskussionen eingeladen bin, die ich gar nicht alle wahrnehmen kann. Das Buch ist jetzt zwei Jahre auf dem Markt und über seine Verbreitung kann ich mich nicht beklagen. Es gibt in der seit Ende letzten Jahres vorliegenden Pantheon-Ausgabe meines Buches jetzt auch ein neues Vorwort, in dem ich die aktuellen Entwicklungen, wie die Kieler Ärztetags-Entscheidung vom Juni 2011 sowie die spektakuläre BGH-Entscheidung im „Fall Putz“ berücksichtige.

Die Ärzteschaft ist meinem Buch gegenüber eher zurückhaltend. Manch einer sagt schon mal: „De Ridder, Sie haben ein gutes Buch geschrieben“, aber auch wenn es inzwischen einige sind, gemessen an der Bedeutung des Themas. sind es verschwindend wenige.

Und die Kollegen geben, wenn überhaupt, unter vorgehaltener Hand, Rückmeldungen?

Es sind überwiegend zustimmende Rückmeldungen. Eine einzige Palliativmedizinerin hat mir ganz zu Anfang, nach Erscheinen des Buches, einen bitterbösen Brief geschrieben. Sie blieb aber bisher die Einzige. Im Gegenteil: Ich habe unendlich viel E-Mails, Leserbriefe und Anrufe bekommen, die alle Zustimmung signalisieren. Dabei ist immer wieder hervorzuheben, dass im Zentrum meines Buches nicht der ärztlich assistierte Suizid steht, sondern der Gedanke: Nicht allein der Patient, auch die Medizin muss loslassen können am Lebensende! Das hat etwas mit Ethik zu tun und von der erfahren Ärzte im Studium wenig, und später sind sie an ethischen Fragen eher desinteressiert.

Dazu habe ich noch eine Geschichte für Sie: Ich bin gut befreundet mit einem amerikanischen Ethiker, Lawrence J. Schneiderman, ein Arzt jüdisch-polnischer Herkunft, der in den Vereinigten Staaten lebt. Der hatte 2002 ein Freisemester und kam nach Berlin. Ich wollte ihn bitten, einen Vortrag zum Thema „futility“ zu halten, also über aussichtslose Medizin, und hatte an die Mitarbeiter zweier Intensivstationen gedacht. Das habe ich mit dem leitenden Arzt besprochen und wollte das vorbereiten und dann sagt der zu mir: „Einen Ethikvortrag? Brauchen wir nicht. Ethik? Das machen wir doch jeden Tag hier.“

Verstehen Sie, so ist das, das war für mich wie ein Schlag in die Magengrube. Oft schon habe ich gesagt, dass viele Kollegen diesen Beruf gar nicht wirklich verstehen. Eigentlich dürften die ihn gar nicht ausüben, weil sie nicht bereit sind, sich mit den maßgeblichen Koordinatensystemen ihres Handelns auseinanderzusetzen.

Ist dies aus Ihrer Sicht Unwille oder ist es auch einfach die Überforderung vor den großen Themen?

Unwille, Überforderung, das lasse ich nicht gelten, das sage ich Ihnen ganz klar. Wer dauerhaft auf diesem Feld überfordert ist, muss sich Hilfe organisieren oder er oder sie hat in ihm nichts zu suchen. Dann muss man sich einer anderen Aufgabe zuwenden. Es geht schließlich um das Leben und das Sterben von Menschen in schwerster oder terminaler Krankheit.

Schauen Sie, in meiner Rettungsstelle habe ich immer Ärzte im Praktikum und junge Mediziner ausgebildet. Wir haben häufig ein Seminar gemacht oder einen Vortrag über etwas, das irgendwie im Zusammenhang mit der Medizin am Lebensende stand. Und dann lasse ich irgendwann den Begriff „Palliativmedizin“ fallen und dann sagt ein angehender Arzt, der kurz vor dem Examen stand, zu mir: „Herr de Ridder, können Sie noch mal gerade sagen, was das ist, „Palliativmedizin“?“ Wissen Sie, das ist doch unerhört! Allein solch eine Nachfrage sagt doch alles über den sogenannten Reformstudiengang. Der Begriff hört sich so großartig an. Sieht man sich genauer an, was wirklich gelehrt und gelernt wird, fängt man an zu weinen. Wir brauchen kein Physikum in der ärztlichen Ausbildung, wir brauchen ein Philosophicum!

Gibt es trotzdem etwas, was Sie Psychotherapeuten mit auf den Weg geben würden?

Schwierige Frage – also doch … Suizidprävention ist ein ganz entscheidendes Feld, ich hab mit so vielen Problemen dieser Art im Krankenhaus zu tun gehabt: 3000 Kriseninterventionen jährlich in meiner Rettungsstelle, in den weitaus meisten spielte suizidales Verhalten eine zentrale Rolle bei durchweg jungen, im weitesten Sinne psychiatrisch kranken Menschen. Kein Zweifel, Suizidprävention und Therapie von Suizidenten ist wichtig und bedeutsam und da würde ich selbstverständlich nie irgendetwas antasten wollen. Aber vielleicht sollten auch Psychotherapeuten darüber nachdenken, dass es Suizidwünsche gibt, die sich nicht dadurch aus der Welt schaffen lassen, dass sie eben pathologisiert werden, die eben nicht Ausdruck einer therapiebedürftigen psychiatrischen Erkrankung sind. Das würde ich mir wünschen und da gibt es exzellente Literatur mittlerweile dazu, nicht nur von dem von mir schon zitierten Philosophen Karl Jaspers, sondern auch von Arthur Koestler, dem jüdischen Intellektuellen André Gorz, der FAZ-Journalistin Joanna Adorján und vielen anderen Autoren. Geschichten über authentische Sterbewünsche aussichtslos Erkrankter, irreversibel Schwerstversehrter und Hochbetagter; aus meiner Sicht eine gute Ergänzung zu dem, was man sonst in der Psychiatrie über Suizid und Suizidprävention erfährt.

Das ist ein gutes Schlusswort. Herzlichen Dank.

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