Aktuelle Neurologie 2012; 39(08): 445
DOI: 10.1055/s-0032-1327214
Leserbrief
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Das Arbeitszeitgesetz: Empirie versus Ideologie

T. Etgen
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Publication Date:
24 October 2012 (online)

Aktuelle Neurologie 2012; 39: 273

Im Editorial der Ausgabe der Aktuellen Neurologie 6/2012 hat Prof. Dr. med. Diener das Ergebnis einer amerikanischen Studie referiert, bei der nach Einführung des Arbeitszeitschutzgesetzes die Komplikationsrate bei neurochirurgischen Operationen zunahm [1]. Sein Appell lautet am Ende daher, in Zeiten des Ärztemangels und zahlreicher unbesetzter Stellen das Arbeitszeitgesetz deutlich flexibler auszulegen [2]. Dieser Appell, der eine Erhöhung der ärztlichen Arbeitszeit impliziert, sollte nicht unbeantwortet bleiben, da eine differenziertere Auseinandersetzung über das vermeintliche Dilemma Qualität der Patientenversorgung versus Arbeitsschutz für Ärzte erforderlich ist.

Die zitierte Studie von Dumont et al. zeigt bei näherer Betrachtung einige Probleme: Zwar ergab diese Studie einen signifikanten Anstieg der Gesamtmorbidität nach Einführung der Arbeitszeitobergrenze von 80 h (!) pro Woche, gleichzeitig sank aber – wenngleich nichtsignifikant – die Gesamtmortalität, sodass die kombinierte Gesamtmorbidität und -mortalität ebenfalls nichtsignifikant anstieg. Zahlreiche Störfaktoren wie z. B. Änderungen im neurochirurgischen Krankheitsspektrum, in der Versorgung und in der Datenerfassung während des Studienzeitraums erlauben nur eine eingeschränkte Interpretation der Ergebnisse [1].

Eine zweite amerikanische Studie, die in der gleichen Ausgabe publiziert wurde, deutet interessanterweise auf mögliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Disziplinen hin. Bei einem Vergleich der operativen Fähigkeiten vor und nach Dienst wiesen Neurochirurgen bei Simulationsübungen nur eine marginale Beeinträchtigung auf, während Allgemeinchirurgen nach Dienst einen hochsignifikanten Leistungsverlust aufwiesen [3].

Im Gegensatz zu dieser singulären Studie, die unter den oben beschriebenen methodischen Einschränkungen auf eine Assoziation (aber keine kausale Verknüpfung) zwischen der Einhaltung einer Arbeitszeitobergrenze und einer Zunahme der Gesamtmorbidität in einem neurochirurgischen Patientengut hindeutet, belegen zahlreiche andere Studien erhebliche Probleme durch die hohe Arbeitsbelastung von Ärzten.

Bereits in 2004 konnte in einer prospektiven randomisierten Studie bei Internisten auf einer Intensivstation nachgewiesen werden, dass bei langen Schichtdiensten (24 h oder mehr) deutlich mehr schwerwiegende Fehler auftraten als unter einem reduzierten Dienst [4]. In einer weiteren polysomnografischen Untersuchung der gleichen Studiengruppe zeigten internistische Assistenzärzte im ersten Berufsjahr bei Anwendung eines reduzierten Dienstschemas (< 80 h/Woche) eine bessere Schlafqualität und geringere Aufmerksamkeitsfehler während ihres Dienstes [5]. Diese Ergebnisse wurden in einer landesweiten Befragung von 2737 amerikanischen internistischen Ärzten im ersten Berufsjahr bestätigt, bei der z. B. das Risiko für signifikante medizinische Behandlungsfehler im Zusammenhang mit Müdigkeit durch längere Schichtdiensten um mehr als das Dreifache erhöht war [6].

Letztendlich sollte auch die Gesundheit der Ärzte eine wichtige Rolle spielen. So ist z. B. das Risiko für gefährliche Verkehrsunfälle bei Schichtarbeit mit langer Arbeitszeit um das 4,5-Fache erhöht [7]. In einer großen japanischen Studie bestand bei Ärzten eine Assoziation zwischen Depressionen und einer hohen Arbeitszeitbelastung durch Schichtdienst oder wenig Freizeit [8].

Zusammenfassend belegen die bisherigen Daten, dass bisher keine kausale Verbindung zwischen einer Reduktion ärztlicher Arbeitszeit und Nachteile in der Qualität der Patientenversorgung belegt ist. Vielmehr existieren zahlreiche Hinweise, dass eine stark erhöhte ärztliche Arbeitszeit zu einer Fehlerzunahme bei der Patientenversorgung führt und gleichzeitig die Gesundheit von Ärzten gefährdet. Daher ist die Forderung nach einer flexibleren Auslegung des Arbeitszeitgesetzes nicht zeitgemäß. Ganz im Gegenteil würde eine solche Umsetzung langfristig zu einer Verschärfung des Arztmangels (und Engpässen in der Patientenversorgung) führen, da durch diese Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der Arztberuf bei ohnehin steigender Bedeutung von Familie und Freizeit an weiterer Attraktivität verlieren würde. In den letzten Jahren kam es parallel durch kürzere Verweildauern, höheren Patientenumsatz, steigende Qualitätsanforderungen, umfangreiche Dokumentation, Berücksichtigung wirtschaftlicher Aspekte, etc. zu einer massiven Arbeitsverdichtung und -belastung im ärztlichen Sektor. Daher sollte es unsere dringliche Aufgabe, aber insbesondere auch die der Verbände und ihrer führenden Vertreter sein, andere Lösungen für diese Probleme zu entwickeln. Schließlich werden Piloten oder Lkw-Fahrern auch keine längeren Arbeitszeiten zugestanden, nur damit sie häufiger Gelegenheit haben, kritische Situationen kennenzulernen. Eine gute Ausbildung darf daher nicht von der Gesamtstundenzahl an Arbeit abhängen, sondern sollte durch intelligente Modelle gekennzeichnet sein, wie z. B. deutliche Aufwertung der Ausbildung und Lehre an den Universitätskliniken, finanzielle Berücksichtigung des Lehrcharakters von Weiterbildungsstätten, stärkere Integration von Simulationsmodellen. Nur so lässt sich auch in Zukunft die schwierige Gratwanderung zwischen hoher Qualität und Sicherheit der Patientenversorgung, ärztlicher Ausbildung und ärztlicher Gesundheit bewältigen [9].

 
  • Literatur

  • 1 Dumont TM, Rughani AI, Penar PL et al. Increased rate of complications on a neurological surgery service after implementation of the Accreditation Council for Graduate Medical Education work-hour restriction. J Neurosurg 2012; 116: 483-486
  • 2 Diener HC. Das Arbeitszeitgesetz: Empirie versus Ideologie. Akt Neurol 2012; 39: 273
  • 3 Ganju A, Kahol K, Lee P et al. The effect of call on neurosurgery residents’ skills: implications for policy regarding resident call periods. J Neurosurg 2012; 116: 478-482
  • 4 Landrigan CP, Rothschild JM, Cronin JW et al. Effect of reducing interns' work hours on serious medical errors in intensive care units. N Engl J Med 2004; 351: 1838-1848
  • 5 Lockley SW, Cronin JW, Evans EE et al. Effect of reducing interns' weekly work hours on sleep and attentional failures. N Engl J Med 2004; 351: 1829-1837
  • 6 Barger LK, Ayas NT, Cade BE et al. Impact of extended-duration shifts on medical errors, adverse events, and attentional failures. PLoS Med 2006; 3: e487
  • 7 Ftouni S, Sletten TL, Howard M et al. Objective and subjective measures of sleepiness, and their associations with on-road driving events in shift workers. J Sleep Res 2012; DOI: DOI: 10.1111/j.1365-2869.2012.01038.x.
  • 8 Wada K, Yoshikawa T, Goto T et al. National survey of the association of depressive symptoms with the number of off duty and on-call, and sleep hours among physicians working in Japanese hospitals: a cross sectional study. BMC Public Health 2010; 10: 127
  • 9 Wagner MJ, Wolf S, Promes S et al. Duty hours in emergency medicine: balancing patient safety, resident wellness, and the resident training experience: a consensus response to the 2008 Institute of Medicine resident duty hours recommendations. J Emerg Med 2010; 39: 348-355