Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2012; 47(11/12): 665-666
DOI: 10.1055/s-0032-1331361
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Perioperative Mortalität in Europa: Die Intensivmedizin rettet Leben!

Hugo Van Aken
,
Gerhard Brodner
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Publication Date:
12 December 2012 (online)

Jeder Patient, der sich einer Operation mit Anästhesie unterziehen muss, setzt sich einer Lebensgefahr aus. Es ist unsere Aufgabe, Patienten sicher und effektiv durch diese gefährliche Situation zu führen. Anästhesisten sollten die Risiken kennen, um diese Aufgabe wirkungsvoll erfüllen zu können.

Bisher ist die Literatur zu diesem Thema komplex und uneinheitlich. Die Statistiken entstammen sehr unterschiedlichen Datenquellen: Teils werden retrospektive, teils prospektive Studien durchgeführt oder es werden Sekundäranalysen von Datenbanken vorgenommen, die ursprünglich für ganz andere Zwecke konzipiert wurden (Versicherungsstatistiken oder Statistiken, die der wirtschaftlichen Bewertung dienen).

Einer Schätzung des weltweiten Operationsaufkommens zufolge wurden im Jahr 2004 insgesamt 2342 Millionen Operationen vorgenommen; die weltweite perioperative Mortalität wurde auf 1 Millionen Patienten geschätzt [1].

  • Auf der Basis dieser Untersuchung wurde für Europa eine jährliche Mortalität von 200 000 Patienten errechnet [2].

Auch wenn die Datenlage verbessert werden muss, so sind Informationen dieser Art natürlich ein wichtiger Anlass, weiter Anstrengungen zur Verbesserung der Patientensicherheit vorzunehmen.

Eine wichtige Anregung war die Einführung der chirurgischen Sicherheitscheckliste der Weltgesundheitsbehörde (WHO), anhand derer Komplikationen und Mortalität nach nicht herzchirurgischen Operationen signifikant verringert werden konnten [3] [4]. Diese Checkliste soll primär die Sicherheit im Operationssaal verbessern. Sie wird in der „Deklaration von Helsinki“ der European Society of Anesthesiology (ESA) unter den Sicherheitsmaßnahmen aufgeführt, die jede Europäische Klinik für Anästhesiologie ergreifen sollte [2].

Eine wichtige Verbesserung der Datenlage zur postoperativen Mortalität liefert eine aktuelle Studie von Pearse et al. [5], die diesen September im Lancet publiziert wurde. Sie verweist auf die Relevanz eines ganzheitlichen perioperativen Versorgungskonzepts. Die Aufmerksamkeit der Anästhesie muss über die Sicherheit im Operationssaal hinaus die gesamte perioperative Betreuung einschließen. Eine geplante postoperative Aufnahme auf eine Intensivstation könnte die Sicherheit chirurgischer Patienten verbessern.

Die Autoren der Studie betonen die Relevanz internationaler Vergleichsstudien zur Evaluation der Sicherheit chirurgischer Patienten. Sie untersuchten in einer prospektiven Kohortenstudie die postoperative Mortalität nach chirurgischen Eingriffen in Europa. Ausgeschlossen waren Patienten unter 16 Jahren sowie Patienten, die nach speziellen „Pathways“ versorgt werden mussten, z. B. in der Herz- und Neurochirurgie, der Geburtshilfe, der ambulanten Chirurgie und bei radiologischen Interventionen. Es handelt sich hierbei um die erste große, prospektive, internationale Querschnittserhebung von Outcome-Daten chirurgischer Patienten.

Insgesamt wurden 46 539 Patienten in 498 Krankenhäusern in 28 europäischen Ländern untersucht. Die Krankenhausmortalität wurde über insgesamt 60 Tage nachverfolgt. Zusätzlich wurden

  • die Aufenthaltsdauer im Krankenhaus,

  • die Anzahl der Überweisungen auf eine Intensivstation,

  • Art, Schweregrad und Dringlichkeit der Operationen und

  • die Komorbidität über einen Zeitraum von 7 Tagen beobachtet.

Die postoperative Mortalität war unerwartet hoch: Sie betrug 4 %. Als Konsequenz ihres Interesses an internationalen Vergleichsdaten berichten die Autoren auch über die postoperative Krankenhausmortalität in den einzelnen Ländern, die an der Studie beteiligt waren. Die Mortalitätsrate schwankte erheblich zwischen 1,2 % in Island und 21,5 % in Lettland. Für Deutschland wurde ein Wert von 2,5 % berichtet (Großbritannien: 3,6 %, Frankreich: 3,2 %, Niederlande: 2,0 %).

Zur weiteren Bewertung der Mortalität wurden konfundierende Einflussgrößen ermittelt. Unabhängige Einflussgrößen waren:

  • das Land, in dem die Operation durchgeführt wurde,

  • die Dringlichkeit, der Schweregrad und die Art der Operation,

  • das Alter der Patienten,

  • die ASA-Klasse (ASA = American Society of Anaesthesiologists) und

  • die Komorbidität (metastasierender Tumor und Zirrhose).

Nach Justierung anhand dieser Faktoren wurde die Odds Ratio der Länder im Vergleich zu Großbritannien als Referenzpopulation angegeben. Sie schwankt zwischen 0,44 für Finnland (p = 0,06) und 6,92 für Polen (p = 0,0004); Deutschland: 0,85 (nicht signifikant, ns), Frankreich: 1,36 (ns), Niederlande: 0,63 (ns).

Natürlich ist bei der Bewertung dieses internationalen Vergleichs zu berücksichtigen, dass Daten, die erheblich von der Referenzpopulation abweichen, nur begrenzt repräsentativ für ein Land sein dürften. Vor allem wenn nur wenige Krankenhäuser eines Landes betrachtet werden konnten, kann die Mortalität während des zufälligen Beobachtungsfensters von 7 Tagen erheblich von der Gesamtmortalität abweichen. In Polen waren nur 397 Patienten in 6 Krankenhäusern (davon eine Universitätsklinik) an der Studie beteiligt, in Großbritannien hingegen 10 630 Patienten in 103 Krankenhäusern (davon 52 Universitätskliniken und Akademische Lehrkrankenhäuser). Schließlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass jeder 5. oder 6. Patient stirbt, wie es für Lettland oder Polen beschrieben wird.

Trotz dieser Problematik liefert die vorliegende Studie wichtige Hinweise zur perioperativen Versorgung und Sicherheit. Die Autoren schätzen, dass die teilnehmenden Zentren ca. 2,3 Millionen Operationen pro Jahr durchführen. Auch wenn Ländervergleiche vorsichtig zu bewerten sind, so liefert die Studie angesichts der immensen Zahl von mehr als 40 000 Patienten, die prospektiv untersucht wurden, eine wertvolle Übersicht über die Gesundheitsversorgung in Europa. Vor allem die Analysen der geplanten und ungeplanten Aufnahmen auf die Intensivstationen liefern einen wichtigen Hinweis zur Risikoreduktion chirurgischer Patienten.

Bei elektiven, dringlichen und Notfalloperationen war die Mortalität jeweils deutlich geringer, wenn Patienten postoperativ geplant auf eine Intensivstation aufgenommen wurden. Die Mortalität dieser Patienten, die planmäßig nach elektiven chirurgischen Eingriffen auf die Intensivstation verlegt wurden, lag europaweit bei 1,7 %, in der Gruppe der nicht intensivmedizinisch versorgten Patienten jedoch bei 3,0 %.

Die Studie legt den Schluss nahe, dass eine strukturierte, postoperative intensivmedizinische Zuweisung die Überlebensrate verbessern könnte – so wie dies mit Mortalitätsraten unter 2 % bei Hochrisiko-Patientenkollektiven erreicht wird, die routinemäßig nach ihrer Operation intensivmedizinisch versorgt werden (z. B. herzchirurgische Patienten). Die Autoren postulieren, dass intensivmedizinische Maßnahmen auch das Outcome anderer chirurgischer Hochrisikopatienten verbessern könnten. Da nur 5,5 % der untersuchten Patienten postoperativ geplant auf eine Intensivstation aufgenommen wurden, dahingegen jedoch 73 % der Verstorbenen überhaupt nicht intensivmedizinisch versorgt worden waren, schließen sie auf ein systematisches Versagen der Allokation intensivmedizinischer Ressourcen.

Als Konsequenz solcher Informationen stellt sich anschließend für die Fachgesellschaften die Aufgabe, den Bedarf an elektiver postoperativer Intensivbehandlung zu ermitteln und die Effizienz einer geplanten intensivmedizinischen Versorgung zu evaluieren.

Herzliche Grüße

Univ.-Prof. Dr. med. Dr. h. c. Hugo Van Aken

Prof. Dr. med. Dr. phil. Gerhard Brodner

Herausgeber

T. Hachenberg, Magdeburg

W. Koppert, Hannover

C. Krier, Stuttgart

G. Marx, Aachen

N. Roewer, Würzburg

J. Scholz, Kiel

C. Spies, Berlin

H. Van Aken, Münster

H. Wulf, Marburg

K. Zacharowski, Frankfurt/Main

Experten-Panel

B. Bein, Kiel

E. Biermann, Nürnberg

J. Biscoping, Karlsruhe

B. Böttiger, Köln

H. Bürkle, Freiburg

B. Dirks, Ulm

V. von Dossow, München

L. Eberhart, Marburg

U. Ebmeyer, Magdeburg

M. Fischer, Göppingen

G. Geldner, Ludwigsburg

W. Gogarten, München

J. Graf, Frankfurt/Main

S. Grond, Detmold

U. Kaisers, Leipzig

C. Kill, Marburg

U. Klein, Nordhausen

S. Kozek-Langenecker, Wien

P. Kranke, Würzburg

L. Lampl, Ulm

J. Martin, Göppingen

A. Meißner, Soest

J. Pfeff erkorn, Stuttgart

M. Schäfer, Berlin

T. Schnider, St. Gallen

T. Schürholz, Aachen

U. Schwemmer, Neumarkt

T. Standl, Solingen

F. Stüber, Bern

R. Sümpelmann, Hannover

M. Tramèr, Genf

K. Ulsenheimer, München

T. Volk, Homburg/Saar

A. Walther, Stuttgart

F. Wappler, Köln

E. Weis, Nürnberg

Organschaften

Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensiv medizin Österreichische Gesellschaft für Anaesthesiologie, Reanimation und

Intensivmedizin

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Ergänzendes Material

 
  • Literaturverzeichnis

  • 1 Weiser TG, Regenbogen SE, Thompson KD et al. An estimation of the global volume of surgery: a modelling strategy based on available data. Lancet 2008; 372: 139-144
  • 2 Mellin-Olsen J, Staender S, Whitaker DK, Smith AF. The Helsinki Declaration on Patient Safety in Anaesthesiology. Eur J Anaesthesiol 2010; 27: 592-597
  • 3 Haynes AB, Weiser TG, Berry WR et al. A surgical safety checklist to reduce morbidity and mortality in a global population. N Engl J Med 2009; 360: 491-499
  • 4 De Vries EN, Prins HA, Crolla RM et al. SURPASS Collaborative Group. Effect of comprehensive surgical safety system on patient outcomes. N Engl J Med 2010; 363: 1928-1937
  • 5 Pearse RM, Moreno RP, Bauer P et al. Mortality after surgery in Europe: a 7 day cohort study. Lancet 2012; 380: 1059-1065