Z Sex Forsch 2013; 26(2): 188-198
DOI: 10.1055/s-0033-1335616
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Die latente Struktur sexueller Präferenzstörungen am Beispiel des Sadismus und der Pädophilie[1]

Andreas Mokros
a   Klinik für Forensische Psychiatrie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
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Publication Date:
24 June 2013 (online)

Der Begriff der sexuellen Präferenzstörung bezeichnet das Auftreten von dranghaften sexuellen Fantasien, Bedürfnissen oder Verhaltensweisen, die sich unter anderem auf Gegenstände oder Körperteile, aber auch auf nicht einwilligende oder nicht einwilligungsfähige Personen (Kinder) beziehen können. Daraus ergibt sich ihre forensisch-psychiatrische Relevanz. Im Hinblick auf die Neuformulierung der psychiatrischen Diagnosekataloge, aber auch vor dem Hintergrund der Interessen von Betroffenen erscheint unklar, ob (und ab wann) sexuelle Präferenzen überhaupt als Störungen klassifiziert werden können. Der vorliegende Beitrag erläutert neue Auswertungsmethoden zur Bestimmung der zugrundeliegenden Struktur entsprechender Symptomkomplexe am Beispiel zweier forensisch relevanter Bereiche (Sadismus und Pädophilie). Abschließend werden die Implikationen für die forensische Diagnostik diskutiert.

Eine der maßgeblichen Neuerungen für die fünfte Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung wird die Unterscheidung zwischen Paraphilien einerseits und paraphilen Störungen andererseits sein (American Psychiatric Association 2012). Im Hinblick auf die Pädophilie ist beispielsweise von Green (2002) in pointierter Weise die Frage aufgeworfen worden, ob Pädophilie überhaupt eine psychische Störung sei, insbesondere wenn der Betroffene a) seine sexuelle Neigung nicht in die Tat umsetze und b) nicht unter seiner Veranlagung leide. O’Donohue et al. (2000) wiesen bereits auf folgendes Paradoxon hin: Gemäß dem B-Kriterium im DSM-IV, wonach die Fantasien, dranghaften Bedürfnisse oder Verhaltensweisen auf Seiten des Betroffenen Leiden oder Einschränkungen in sozialen, beruflichen oder anderweitigen Lebensbereichen verursachen müssten, würde derjenige, der seine Veranlagung ich-synton erlebt (und daher keinen Leidensdruck empfindet), keine entsprechende Diagnose erhalten, obwohl er aufgrund der Ich-Syntonie klinisch auffälliger wirke.

Nach den aktuellen Vorschlägen für das DSM-5 würde ein Patient nur dann mit einer Störung der Sexualpräferenz (paraphilic disorder) diagnostiziert, wenn er sowohl die einschlägigen Fantasien, Bedürfnisse oder Verhaltensweisen aufweisen (A-Kriterium) als auch darunter leiden würde oder infolgedessen Beeinträchtigungen hinnehmen müsse oder deswegen andere schädige (B-Kriterium). Derjenige hingegen, der nur die entsprechenden Fantasien, Bedürfnisse oder Verhaltensweisen aufweisen würde (also nur das A-Kriterium erfüllt), würde zwar als paraphil beschrieben, aber nicht mehr als psychisch gestört diagnostiziert (Blanchard 2010).

Vermutlich ist der Bereich der Personen, für welche die Zumessung einer paraphilen Störung angemessen wäre, kleiner als die Gruppe jener, die ausschließlich paraphil sind, ohne psychisch gestört zu sein. Für den Bereich des Sadismus zeigt beispielsweise eine populationsbasierte Umfrage, dass Menschen, die angaben, im vorangegangenen Jahr sadomasochistischen Aktivitäten nachgegangen zu sein, keineswegs klinisch auffälliger wirkten als andere Befragte (Richters et al. 2008; vgl. auch Krueger 2010). In Analogie zu den Bestrebungen, die Beschreibung von Persönlichkeitsstörungen sowohl im DSM-5 als auch in der ICD-11 stärker an dimensionalen als an kategorialen Gesichtspunkten auszurichten (Tyrer et al. 2011), haben Marshall und Kennedy (2003) beispielsweise auch für den Bereich des Sadismus vorgeschlagen, eine dimensionale Betrachtung anzustellen. Demnach würde das Ausmaß der Gewalt oder Erniedrigung im Handeln entsprechend motivierter Personen graduelle Abstufungen der zugrunde liegenden Paraphilie widerspiegeln, nicht qualitative Unterschiede.

Dabei ist die Frage, ob Störungen der Sexualpräferenz phänomenologisch eigenständige Kategorien oder lediglich willkürlich abgegrenzte Extreme auf einem Präferenzkontinuum darstellen, keineswegs eine akademische Spielerei, sondern von hoher Relevanz. Dieser Umstand zeigt sich beispielsweise auch in der Fragestellung, ob die so genannte „paraphilic coercive disorder“ (PCD) ein eigenständiges Konstrukt darstellt, das möglicherweise Eingang finden wird in den Anhang des DSM-5, oder ob PCD nichts anderes ist als eine weniger extreme Ausprägung des Sadismus (Knight 2010). Der Einschluss der PCD birgt jedenfalls langfristig die Gefahr, Vergewaltiger zu „psychiatrisieren“ oder auf dieser Grundlage dauerhafte Verwahrungen zu rechtfertigen (Balon 2012; Fedoroff 2011).

1 Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck eines Kapitels aus dem EFPPP-Jahrbuch 2013 (Empirische Forschung in der Forensischen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. Berlin: Medizinisch-Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, herausgegeben von Peer Briken, Michael Rösler und Jürgen L. Müller) und basiert auf einem Vortrag, der am 25.10.2012 anlässlich der EFPPP-Jahrestagung in Hamburg gehalten und mit dem Eberhard-Schorsch-Preis der DGfS für sexualforensische NachwuchsforscherInnen prämiert wurde.