PPH 2013; 19(05): 278-279
DOI: 10.1055/s-0033-1356780
Quintessenz
Für Sie gelesen: Aktuelle Studien
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Service user’ experiences of residential alternatives to standard acute wards: qualitative study of similarities and differences

Rezensent(en):
André Nienaber
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
24. September 2013 (online)

Die Erfahrungen der Klienten einbeziehen

Zoom Image
(Foto: BJP)

Fragestellung: Die Fragestellung der Untersuchung lautet: Welche subjektiven Erfahrungen berichten Klienten über ihre Versorgung im Rahmen von alternativen stationären psychiatrischen Behandlungsangeboten und was ist das Besondere an diesen Versorgungsangeboten im Vergleich zur herkömmlichen stationären psychiatrischen Krankenhausbehandlung?

Hintergrund: Die Frage, wie eine gute und patientenzentrierte psychiatrische Versorgung gestaltet sein muss, beschäftigt die Fachwelt auch in Deutschland. Im Rahmen der Bewertung unterschiedlicher Versorgungsmodelle wird den persönlichen Erfahrungen der Klienten mit ihrer Behandlung eine zunehmend wichtige Rolle zugeschrieben [1].

Die Untersuchung hat sich zum Ziel gesetzt, die Erfahrungen der Klienten zu erfassen.

Nicht zuletzt haben kritische Erfahrungen mit der herkömmlichen stationären Krankenhausbehandlung zu einem Ruf nach alternativen Behandlungsmöglichkeiten und zur Entwicklung von gemeindenahen Versorgungsangeboten geführt. In den USA und Großbritannien weisen diese gemeindenahen Versorgungsangebote bereits eine lange Tradition auf. Allerdings gibt es bisher wenig Erkenntnisse darüber, welche persönlichen Erfahrungen Klienten mit diesen alternativen Angeboten gemacht haben und ob sie aus ihrer Sicht eine wirksame Alternative zur traditionellen Krankenhausbehandlung darstellen.

Methode: In sechs Angeboten einer stationären psychiatrischen Versorgung als Alternative zur stationären Krankenhausbehandlung wurden 40 Teilnehmende interviewt. Die Angebote bestehen aus Krisenzentren der ehrenamtlichen, der gesetzlichen und der klinischen Versorgung. Die Mitarbeitenden verfügen über unterschiedliche Kompetenzen beziehungsweise haben keine klinische Erfahrung. Hinzu kommen eine Kurzzeit-Aufnahme-Station und ein Krankenhaus. In dem Krankenhaus arbeiten die Mitarbeitenden nach dem Gezeiten-Modell [2].

Die Teilnehmenden sind zwischen 18 und 65 Jahre alt und verfügen über Erfahrungen mit klinischer Behandlung. Voraussetzung für die Teilnahme war eine informierte Zustimmung (→ [Glossar]). Es wurden Interviews von bis zu zwei Stunden Dauer durchgeführt.

Die Interviews wurden anhand einer thematischen Analyse ausgewertet; zunächst vier Interviews unabhängig voneinander. Die erhaltenen Kategorien (→ [Glossar]) dienten als Grundlage für die Kategorienbildung der übrigen Interviews. Neue Kategorien wurden ergänzt. Die Bewertung der Validität der Kategorien erfolgte in einem Diskussionsprozess.

Ergebnisse: Insgesamt konnten aus den Interviews zehn Kategorien herausgearbeitet werden. Es lassen sich Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen der herkömmlichen Behandlung im Krankenhaus und der alternativen Behandlung finden. Die Kategorien sind: Einstellungen zu Dienstleistern, Beziehungen, Patienten, Zwang, Freiheit, Paternalismus, Sicherheit, Aktivitäten, Behandlung, Umgebung/Umfeld und Ergebnisse für Angehörige einer ethnischen Minderheit. Aus Platzgründen werden vier der identifizierten Hauptthemen beispielhaft kurz vorgestellt (Übersetzung durch den Autor):

  • Beziehungen: Das Thema Beziehungen wurde am häufigsten von den Teilnehmenden genannt und findet sich in allen Interviewtranskriptionen wieder. Eine effektive Kommunikation zwischen Behandlungsteam und Klienten wird als Schlüsselelement beschrieben. Auch Eigenschaften der Mitarbeitenden, wie zum Beispiel nett, fürsorglich, höflich und authentisch, werden als wichtig beschrieben.

  • „Ich vertraue den Mitarbeitenden zu 100 Prozent, weil ich seit den letzten 3,5 Jahren hierherkomme.“ (Alternatives Behandlungsangebot)

  • Zwang: Zwang wurde öfter im Zusammenhang mit dem Behandlungsangebot im Krankenhaus berichtet. Zwangsmaßnahmen, Kontrolle, Fixierung oder Zwangsmedikation waren beschränkt auf die Krankenhausbehandlung. Weniger starker Zwang, zum Beispiel Androhungen oder das Ausüben von Druck, wurden in beiden Versorgungssettings erfahren, allerdings überwiegend im Krankenhaus.

  • „Ja, Zwang, die Medikamente. Sie sagten, wenn ich sie nicht einnehme, bekomme ich eine Spritze.“ (Stationäres Behandlungsangebot im Krankenhaus)

  • Freiheit: Klienten der alternativen Angebote berichteten über eine stärkere Erfahrung von Freiheit. Untergebrachte und freiwillig behandelte Patienten berichteten über weniger Freiheiten in der krankenhäuslichen Behandlung. Freiheit beinhaltet dabei die Möglichkeit, zu kommen und zu gehen oder auch rauszugehen, um eine Zigarette zu rauchen.

  • „Hier hast Du mehr Freiheit, Du kannst kommen und gehen wann Du willst, weißt Du, was ich meine, es ist nicht wie im Krankenhaus […] ich bin nicht gerne im Krankenhaus, ich bin lieber hier, es gefällt mir besser, weil ich hier mehr Freiheit habe.“ (Alternatives Behandlungsangebot)

  • Paternalismus: Paternalismus wurde von der Hälfte der Klienten berichtet, sowohl von denen in der stationären als auch in der alternativen Behandlung. Als ungünstig erlebter Paternalismus wurde am häufigsten von den Klienten in der stationären Krankenhausversorgung berichtet. Geschildert wurden unter anderem, dass Klienten wie Kinder behandelt wurden, dass ihnen ihr Telefon abgenommen wurde oder dass ihnen gesagt worden ist, wann sie zu Bett zu gehen haben.

Diskussion: Gilburt et al. beschreiben die Entwicklung von alternativen Behandlungsmöglichkeiten zur herkömmlichen Krankenhausbehandlung als wichtigen Ansatz für die Weiterentwicklung psychiatrischer Versorgung, sowohl in den USA als auch in Europa. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Entwicklung von gemeindenahen Versorgungsangeboten. Die Entwicklung alternativer stationärer Behandlungsangebote hat in den letzten Jahren eher eine geringe Rolle gespielt. Im Mittelpunkt der qualitativen Untersuchung stehen daher die persönlichen Erfahrungen der Teilnehmenden.

Die Studie von Gilburt et al. ist die erste dieser Art, die die Erfahrungen mit alternativen Behandlungsangeboten bei den Klienten erfasst. Der Unterschied liegt den Ergebnissen zufolge nicht allein darin, was getan wird und wo, sondern vor allem darin, wie etwas getan wird. Diese Aussage hat Auswirkungen sowohl für alternative Versorgungsangebote als auch vor allem für das Angebot der herkömmlichen stationären Krankenhausbehandlung. Das Umfeld im Krankenhaus kann ein Gefühl der Unsicherheit bei den Patienten verstärken und durch Einschränkungen der persönlichen Freiheit ungünstige Bedingungen mit Angst und Aggression schaffen. Als Schlüsselmechanismen führen die Autoren das routinemäßige Verschließen der Stationstür, fehlenden Platz (z. B. einen Garten) und die Anwendung von Zwangsmaßnahmen an.

Schlussfolgerung: Es handelt sich um eine qualitative Studie. Die Übertragbarkeit und Generalisierbarkeit der gewonnenen Ergebnisse sind eingeschränkt. Die methodischen Grenzen der Untersuchung werden durch die Autoren beschrieben. Zitate aus den Interviews führen sie als Belege der Kategorien an und ermöglichen dem Leser einen Einblick in die Analyse. Detaillierte Angaben zur Auswertung der Interviews fehlen. Die Ergebnisse aus den Interviews sind nicht repräsentativ. Patienten anderer alternativer Versorgungsmodelle können unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben. Darüber hinaus sind die Sichtweisen von Patienten mit schlechten Erfahrungen, die eine Behandlung durch die beschriebenen Programme nicht fortgesetzt haben, nicht in die Untersuchung eingeflossen.

Zusammenfassend halten die Autoren fest, dass es ebenso wichtig ist, wie eine Behandlung durchgeführt wird und nicht nur, was gemacht wird. Alternative Versorgungsangebote können ihnen zufolge eine empfehlenswerte Form der Behandlung für Klienten mit einem geringen Risiko der Selbst- oder Fremdgefährdung darstellen. Bieten sie doch ein größeres Maß an persönlichen Freiheit, Sicherheit, Kontaktmöglichkeiten zu anderen Personen und scheinbar weniger paternalistische Strukturen im Vergleich zur stationären Krankenhausbehandlung.

Dabei unterscheiden die Teilnehmenden in ihren Äußerungen sehr wohl zwischen einem aus ihrer Sicht unterstützenden Paternalismus, mit dem Ziel der Förderung und einem eher negativ empfundenen Paternalismus, der ausschließlich die Bewahrung althergebrachter Regeln zum Ziel hat.

Die stationäre Krankenhausversorgung ist nach wie vor unverzichtbar für die Behandlung von Menschen in akuten Erkrankungsphasen und stellt demzufolge einen wesentlichen Bestandteil einer effektiven psychiatrischen Gesundheitsversorgung von „einer kleinen Gruppe von Patienten mit akuten psychischen Krisen“ dar, so Gilburt et al. Allerdings stellt sich die Frage, wie es gelingt, eine Umgebung zu gestalten, die die von den Teilnehmenden geäußerten Probleme einer stationären Krankenhausversorgung, zum Beispiel im Hinblick auf erlebte Sicherheit oder ein therapeutisches Arbeitsbündnis, in den Blick nimmt. Als Implikation für die Praxis benennen die Autoren, dass die Antworten hierauf vor allem in den zwischenmenschlichen Fähigkeiten und der persönlichen Qualifikation des Personals liegen, also daran, wie etwas getan wird. Als Schlüsselfragen und Herausforderungen zukünftiger Forschungsarbeiten identifizieren sie das Zustandekommen therapeutischer Beziehungen, das Verständnis von effektiver Kommunikation und die Unterstützung der Mitarbeitenden in der Gestaltung eines sicheren und therapeutischen Umfelds. Aus ihrer Sicht bieten sich für die Beantwortung der aufgezeigten Fragestellungen „mixed-method“-Studien (→ [Glossar]) an, mit dem Ziel, effektive, angemessene und vor allem patientenzentrierte Behandlungssettings der psychiatrischen Versorgung zu etablieren.

André Nienaber

Glossar

I nformierte Zustimmung: „Entscheidung eines Patienten, an der Studie teilzunehmen, nachdem er über eventuelle Vor- und Nachteile aufgeklärt wurde.” [3]

K ategorien: „Merkmale des Textes, die der Forscher durch Lektüre der Interviewprotokolle ermittelt hat, um den Text zu beschreiben.” [4]

M ixed-method-Studien: (auch Triangulation) Betrachtung eines Forschungsgegenstandes von mehreren Seiten, Daten aus verschiedenen Quellen, Methodenmix aus qualitativen und quantitativen Verfahren [3].

 
  • Literatur

  • 1 Priebe S, Gruyters T, Heinze M et al. Subjektive Evaluationskriterien in der psychiatrischen Versorgung – Erhebungsmethoden für Forschung und Praxis. Psychiatrische Praxis 1995; 22: 140-144
  • 2 Barker P, Buchanan-Barker P. The Tidal Model – A Guide for Metal Health Practice. East Sussex: Brunner-Routledge; 2005
  • 3 Behrens J, Langer G. Evidence-based Nursing and Caring. 3., überarbeitete und ergänzte Aufl. Bern: Verlag Hans Huber; 2010
  • 4 Lamnek S. Qualitative Sozialforschung – Lehrbuch. 4., vollständig überarbeitete Aufl. Weinheim, Basel: Beltz Verlag; 2005