Hebamme 2015; 28(03): 152
DOI: 10.1055/s-0035-1558499
Editorial
Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Was leitet unser Handeln maßgeblich?

Ahrendt Cordula
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Publication Date:
05 October 2015 (online)

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Sind es die Bedürfnisse und Rechte von Mutter und Kind? Ist es der Zeitdruck oder die Angst, für Schäden an Mutter und Kind haften zu müssen? Oder ist es von jedem ein bisschen?

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

jede Hebamme und jeder Geburtshelfer arbeitet nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne der Gesundheit für Mutter und Kind. Dennoch stellt sich die Frage, welche Faktoren Einfluss auf unsere geburtshilflichen Entscheidungen haben.

Ich erlebe, wie Hebammenschülerinnen nach dem Externat bei Beleg- und Geburtshaushebammen begeistert von den Möglichkeiten zur Förderung physiologischer Geburtsprozesse erzählen. Sie befürchten, dass einige Frauen unter gängigen Kreißsaalbedingungen wegen protrahierter Eröffnungs- oder Austreibungsphase vermutlich eine sekundäre Sectio erhalten hätten.

Dies macht mich sehr nachdenklich und zeigt die vielschichtige Problematik der aktuellen Geburtshilfe in Deutschland. Klinische Hebammen können selten eine Eins-zu-eins-Betreuung realisieren, die jedoch – das zeigen Erfahrung und Forschung – zu weniger Komplikationen bei Mutter und Kind und zu einer höheren Zufriedenheit der Frauen führen. Freiberufliche Hebammen laufen Gefahr, aufgrund ökonomischer Zwänge und eines Mangels an Kolleginnen so viele Betreuungsaufträge anzunehmen und nicht ausreichend Zeit für eine umfassende individuelle Betreuung zu haben. Es zeichnet sich eine Unterversorgung der Frauen und ein Hebammenmangel, auch in den Kreißsälen, ab. Zusätzlich wird es aufgrund der steigenden Versicherungsprämien immer schwieriger, Geburtshilfe anzubieten.

Welche Rolle spielt diese personell und ökonomisch angespannt Situation bei geburtshilflichen Entscheidungen? Ist es überhaupt möglich in der täglichen (hektischen) Routine zu reflektieren, ob die Kreißsaalstandards und die aktuellen Leitlinien eine optimale Entscheidungshilfe in der individuellen Situation sind? Wie stark beeinflusst die Angst vor Haftpflichtverfahren das Tun von Hebammen und Ärzten?

Schaut man in andere Länder, kommt man ins Staunen: Mit der US-amerikanischen Leitlinie will man u. a. mit bahnbrechend veränderten Definitionen der Geburtsphasen und der normalen Geburtsdauer der steigenden Sectiorate entgegen wirken. Die britische Leitlinie des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) empfiehlt Frauen mit einer unkomplizierten Schwangerschaft eine Hausgeburt oder die Geburt in einer hebammengeleiteten Einrichtung, da sie dort weniger Interventionen erfahren, ohne dass sich die Komplikationsrate erhöht.

In Deutschland stellt aktuell der GKV-Spitzenverband die gesetzlich gesicherte freie Wahl des Geburtsortes in Frage, indem er Ausschlusskriterien für die Hausgeburtshilfe fordert, die nicht evidenzbasiert sind.

Die Beiträge zu unserem Schwerpunktthema „Schadenfälle in der Geburtshilfe“ sind spannend und aus verschiedenen Blickwinkeln verfasst. Frau Hochreiter erinnert uns daran, dass der Großteil der geburtshilflichen Interventionen nicht wissenschaftlich begründet ist und welche Folgen die gerichtlichen Rechtsprechungen der letzten Jahre auf die Entwicklungen in der Geburtshilfe haben. Eine positive Fehlerkultur und Hebammenkreißsäle könnten gute gangbare Wege sein.

Das Thema Coolout von Karin Kersting ergänzt unser Schwerpunktthema. Lassen Sie sich anregen und diskutieren Sie die Frage, ob die ökonomischen Zwänge im Gesundheitswesen auch im Hebammenberuf notwendigerweise zu Coolout-Strategien führen.

Ich wünsche Ihnen viel Spannung beim Lesen aller Beiträge.

Ihre

Cordula Ahrendt