Z Gastroenterol 2016; 54(11): 1245-1246
DOI: 10.1055/s-0042-119366
Mitteilungen der DGVS
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

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Bertram Wiedenmann
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Publication Date:
10 November 2016 (online)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

wir leben in der neuen Ära der Präzisionsmedizin, die nach Definition des National Research Council der USA eine individuell zugeschnittene Therapie für jeden Patienten erlauben wird.

Unsere Patienten werden zukünftig zunehmend erfolgreicher denn je behandelt werden! Dies ist die allgemein geltende Vision.

Ohne Zweifel werden die – sich rapide weiter entwickelnden – „Omics“-Technologien, gepaart mit der neuen CRISPR / cas Technologie, aber auch z. B. 3D-Drucker, die zukünftig Stents vor Ort in wenigen Minuten – individuell auf den Patienten zugeschnitten – herstellen können, erhebliche Fortschritte für die zukünftige, individualisierte Behandlung unserer Patienten bringen.

Gleiches gilt für Nanosonden, die uns drahtlos über einzelne Organfunktionen Bericht erstatten werden.

Immer mehr Medikamente stehen uns schon jetzt zur Verfügung (in der Onkologie mittlerweile über 80!), die wir mit den bisherigen Prinzipien der Therapieentscheidung, das heißt allein auf der Basis unserer eigenen Erfahrungen und Kenntnisse nicht mehr treffsicher zum Einsatz bringen können.

Auf der anderen Seite beinhaltet der Begriff „Präzisionsmedizin“ jedoch auch ein höheres Maß an Versprechen, als wir bis dato klinisch halten können. Drohnen lassen sich im militärischen Bereich absolut zuverlässig auf ein Ziel richten und dieses dann auch – möglichst ohne Kollateralschäden zu hinterlassen – ausschalten.

In der Tumormedizin sind wir hierzu nur ansatzweise in der Lage.

Bei einzelnen, seltenen Tumorentitäten wie z. B. GIST-Tumoren oder auch Subtypen des KRK stehen uns mit Kenntnis der jeweiligen Mutationen, z. B. c-kit bzw. k-ras, braf oder MSI passende Therapieantworten mit „Magic bullets“ oder Drohnen für medizinische Zwecke zur Verfügung. Diese Möglichkeiten stellen jedoch nur den Anfang vieler kommender Neuentwicklungen dar.

Unabhängig hiervon stehen wir jedoch noch am Anfang mit der Frage, ob wir mit absoluter Zuverlässigkeit zukünftig therapeutische Prädiktoren haben werden, die uns zuverlässig vorhersagen können, ob bei Patienten unter Einsatz prädiktiver Marker z. B. eine neoadjuvante Therapie wegen vorhersehbarer Wirkungslosigkeit entfallen kann.

Gleiches gilt beispielsweise auch bei unseren R0-resezierten Patienten, denen wir zukünftig vorhersagen können, dass sie auch ohne adjuvante Therapie rezidivfrei bleiben werden.

In einer gerade im NEJM veröffentlichten Studie mit über 6000 Patientinnen mit Mammakarzinom zeigt sich, dass man allein mit bisherigen „Omics“-Parametern zwar schon unfangreich auskommt, jedoch weiterhin die klassischen, klinischen Kriterien wie TNM und Hormonrezeptorstatus im klinischen Alltag benutzen muss, da eine hundertprozentige Treffsicherheit analog dem Einsatz von Drohnen bisher nicht gesichert ist.

Ich bin mir jedoch trotzdem sicher, dass wir in Zukunft über zuverlässige, individualisierte Therapien verfügen werden, die gleiche Selbstverständlichkeiten beinhalten werden, wie die MRT-Technologie, die Videoendoskopie und das Internet, die Endokapsel, Bravo-Sonde, alle Technologien, die zu Beginn meiner FA-Ausbildung noch unbekannt waren. Denken Sie nur als Beweis für die rasanten technischen Weiterentwicklungen unserer Zeit, an die für uns heute absolut selbstverständlichen und nicht mehr wegzudenkenden Apps. Diese Technologie gibt erst seit 10 Jahren!

Für die Zukunft bedeutet dies, dass wir über ein enormes Wissen über unsere Patienten, verbunden mit riesigen Datenmengen von jedem einzelnen Patienten verfügen werden und diese individuell in die bestmögliche Therapie überführen müssen. Hierzu werden uns Super Computer, Sonden am und im Patienten, kabellos eine Vielzahl von Signalen (Blutzucker und EKG schon jetzt etabliert) von unseren Patienten liefern, die von uns therapeutisch beantwortet werden müssen. Häufige Erkrankungen werden immer mehr in Subgruppen unterteilt werden. Eine optimale Behandlung unserer Patienten wird nur noch mit einem zunehmenden Maß an Spezialisierung, unterstützt mit der zusätzlichen Nutzung künstlicher Intelligenz möglich sein.

Daraus ergeben sich für unser Fach folgende Veränderungen:

  1. Wir werden zukünftig mehr und mehr Spezialisten für seltene Erkrankungen benötigen und diese auch ausreichend ausbilden müssen

  2. Wir müssen unsere Patienten gemeinsam regelmäßig in interdisziplinären Teamzusammenkünften (virtuell oder persönlich) besprechen und zu einer Therapieentscheidung im interdisziplinären Konsens kommen und schließlich

  3. auf der Basis neuer, fair finanzierter und belastbarer Anreizsysteme die Patientenbetreuung den Kollegen überlassen, die alle Informationen für den Patienten am besten bündeln und in einen belastbaren zuverlässigen Therapiealgorithmus überführen können. Dies setzt auch in Zukunft voraus, dass

  4. Leiter einer medizinischen Einrichtung oder Chefärzte in Zukunft mehr denn je eine moderierende Rolle spielen müssen, anstatt den Anspruch auf alleinige fachliche Kompetenz besitzen müssen

Was bedeutet dies für unser Fach im Einzelnen?

Kurzfristig: Wir werden – neben dem niedergelassenen, gastroenterologischen Schwerpunkt-Internisten, der nicht nur extrabudgetär orientiert endoskopiert – nicht umhinkommen, uns weiter zu spezialisieren und hiermit verbunden eine optimale, interdisziplinäre Zusammenarbeit mit einem kooperationsbereiten Team an den Tag zu legen.

Uns werden mittelfristig nicht-invasive, kostengünstige Screening-Verfahren für z. B. das kolorektale Karzinom (Stuhl-, Plasma- und Bildgebungsdiagnostik) zur Verfügung stehen, die nur noch den interventionell tätigen Endoskopiker im niedergelassenen Bereich notwendig machen werden.

Langfristig müssen wir unser Fach im Rahmen der studentischen Lehre, Schwerpunkt-Facharzt-Aus- und Weiterbildung – den sich rapide verändernden Entwicklungen – immer wieder neu anpassen.

Wir werden das komplette Leistungsspektrum unseres ganzen Faches dem Patienten nur noch dann anbieten können, wenn wir in Zentren unterschiedlichster Provenienz all die Angebote bündeln, die dem niedergelassenen Bereich verloren gehen.

Dies beinhaltet vor allem auch die bis dato wenig lukrativen

  • funktionellen Erkrankungen

  • die zunehmend wichtiger werdende GI Onkologie und

  • das ganze Spektrum der entzündlichen, autoimmunen und infektiösen Erkrankungen

Alle diese Krankheitsbilder müssen von Spezialisten unseres Faches – zukünftig – überzeugend und in der Praxis belastbar – angeboten werden.

Um dieser Entwicklung gerecht zu werden, benötigen wir langfristig neue Versorgungsstrukturen und Versorgungsangebote, die einer optimal vernetzten Zusammenarbeit zwischen spezialisierten Zentren und niedergelassenen Praxen (einschl. Allgemeinärzten) Rechnung tragen.

Fakt ist, dass der Einzelne in diesem zunehmend komplexer werdenden System nur noch eine untergeordnete Rolle spielen wird, während das Team für den Erfolg die gemeinsame Verantwortung tragen wird.

Gleiches gilt für die universitäre, klinische Forschung, wo auch nur noch große Forschungsverbünde ähnlich der forschenden Pharmaindustrie erfolgreich sein werden.

Statt der klassischen, vorklinischen Fächer wie Biochemie, Physiologie und Pharmakologie wird es eine Neuorientierung und Neuausrichtung dieser Fächer in ein übergreifendes, translationsorientiertes interdisziplinäres Forschungsnetzwerk, bestehend aus Systembiologen, Mathematikern, Biophysikern, Bioingenieuren, Molekular- und Tumorbiologen geben.

Hochrangige Veröffentlichungen, wie z. B. in Cell, mit nur 1–2 Koautoren publiziert, waren noch vor 30 Jahren möglich, gehören aber heute der Vergangenheit an.

Vielleicht gehe ich in meiner Analyse zu weit, aber auch aktuell verändert sich schon unsere medizinische Versorgungslandschaft merklich. Junge Ärzte und vor allem auch junge Ärztinnen arbeiten zunehmend in Teilzeit und immer häufiger im Angestelltenverhältnis.

Diese Entwicklung erfordert zunehmend die Schaffung neuer Arbeitszeitmodelle, die mit den Vorstellungen der jungen Kolleginnen und Kollegen vereinbar sein müssen.

Die jungen Kolleginnen und Kollegen sind mehr denn je bereit, den Patienten in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen und haben hierbei auch weniger Berührungsängste, „ihren“ Patienten an den Kollegen abzugeben, der dem Patienten das höchste Maß an Kompetenz anbieten kann.

Der Spezialist wird hierbei eine zunehmende Rolle spielen.

Dies schließt natürlich nicht aus, dass der Allgemeinmediziner die Beschwerden des Patienten primär adäquat einstuft und in Abhängigkeit des Schweregrades an den jeweiligen Spezialisten / Facharzt weiterleitet und dieser wiederum die Einbeziehung des Superspezialisten berücksichtigt. Dass dieser Weg der Überweisungspraxis keine Einbahnstraße sein darf, versteht sich von selbst.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir bewusst, dass mancher von Ihnen meine Ausführungen für utopistisch halten kann, aber eines kann ich Ihnen versichern: Die Zukunft von gestern ist heute Realität und die Schritte in die Zukunft werden – unaufhaltsam – immer schneller.

Ich bin der festen Überzeugung, dass alle Beteiligten unseres Faches diese Entwicklungen nicht nur begleiten, sondern proaktiv mitgestalten werden. Packen wirʼs an!

Ihr